• Keine Ergebnisse gefunden

Isokinetische Messung und elektrische Aktivität

4 Diskussion

4.7 Muskelkraft und elektrische Aktivität

4.7.2 Isokinetische Messung und elektrische Aktivität

In der isokinetischen Drehmomentmessung (60°/ s) wurden persistierende Defizite für die Knieextensoren nachgewiesen. Das Gruppenmittel des prozentualen Seit-zu-Seit-Verhältnisses betrug 89,4 % zu Ungunsten der operierten Seite. Mehr als die Hälfte der Kreuzbandpatienten wiesen dabei Defizite von über 10 % auf. In der klinischen Praxis geht man davon aus, dass erst Defizite über der 10 % - Grenze funktionell bedeutsam sind [132, 168].

Die eigenen Ergebnisse stimmen mit denen zahlreicher anderer Studien überein.

Insgesamt wird dabei eine Abhängigkeit vom Nachuntersuchungsintervall deutlich. So fanden beispielsweise Witvruow et al. [204] in einer 1-Jahres-Nachuntersuchung ein prozentuales Seit-zu-Seit-Verhältnis der Extensoren zwischen 76,8 und 83,5 %. In einer Längsschnittuntersuchung von Feller et al. [59] konnte in der PSP-Gruppe eine Verbesserung des prozentualen Seit-zu-Seit-Verhältnisses der Knieextensoren von 63,7 % (4 Monate p.o.) auf 77,3 % (1 Jahr p.o.) beobachtet werden. In der STP-Gruppe änderten sich die Werte von 72,8 % auf 88,9 %. Rosenberg et al. [161] wiesen bei ihren PSP-Patienten 1 - 2 Jahre postoperativ noch ein auffälliges Kraftdefizit von 18 % (2 % - 37 %) für die Extensoren nach. Die Hamstrings waren mit 10 % weniger betroffen. Andere Studien, wie die von Bush-Joseph et al. [34] und Pokar et al. [155], fanden in Zeiträumen von 2 bzw. 5 Jahren postoperativ seitengleiche Kraftverhältnisse für die Kniestrecker. Von Järvelä et al. [104] liegen aus einer 7-Jahres-Nachuntersuchung Ergebnisse vor, die der hier vorliegenden Studie vergleichbar sind (Tab. 78).

Tab. 78: Ausgewählte Ergebnisse anderer Studien zur isokinetischen Drehmomentmessung (Seit-zu-Seit-Verhältnis in % der gesunden Gegenseite) nach VKB-Plastik

60°/ s 180°/s MVC oder andere Vergleichsstudien PSP vs. STP

28 PSP 63,7 90,3

In der isokinetischen Messung mit höherer Bewegungsgeschwindigkeit (180°/ s) wurden in der eigenen Untersuchung ebenfalls Defizite in den Drehmomenten und Arbeitswerten für die Extensoren der operierten Seite nachgewiesen. Die Absolutdaten deuteten aber darauf hin, dass die Seitenunterschiede weniger auffällig sind. In der Literatur bestätigt sich, dass bei höheren Bewegungsgeschwindigkeiten die muskulären Defizite in geringerem Maße nachweisbar sind [4, 104, 161]. Der Ermüdungsindex zeigte hingegen keine signifikanten Unterschiede zwischen operierter und gesunder Seite, d.h. der ermüdungsbedingte Drehmomentabfall ist auf beiden Seiten - allerdings auf einem unterschiedlichem Niveau der absoluten Drehmomente - gleichartig. Vergleichswerte zum ermüdungsbedingten Kraftabfall wurden in der Literatur allerdings nicht gefunden. In den meisten Studien werden zwar isokinetische Messungen mit unterschiedlichen Bewegungsgeschwindigkeiten durchgeführt. Bei der Auswertung werden aber zumeist nur die absoluten Drehmomente bewertet. Die Drehmomente allein erlauben jedoch keine ausreichende Beurteilung der Kraftausdauerfähigkeit einer Muskelgruppe. Hierzu eignen sich nur die Arbeitswerte

oder, wie in der hier vorliegenden Studie, die Berechnung des Drehmomentabfalls zwischen Beginn und Ende des Tests.

Bemerkenswerterweise zeigten sich hinsichtlich der elektrischen Aktivität (mittlere Amplitude, iEMG) der abgeleiteten Muskelanteile des M. quadriceps femoris bei isokinetischer Messung mit 60°/ s keine Auffälligkeiten im Seitenvergleich sowie im Vergleich zum Referenzwert.

Der Kraftverlust (reduzierte Drehmomente) der operierten Seite lässt sich demnach nicht aus Einschränkungen in der nervalen Ansteuerung erklären, da die Feuerungsmuster offenbar wiederhergestellt sind. Daraus lässt sich ableiten, dass anscheinend die häufig beschriebenen reflektorischen Hemmmechanismen der Quadricepsmuskulatur [20, 127] nicht längerfristig postoperativ fortbestehen. Dass die Ursache einer reduzierten Muskelkraft nicht zwingend in einer verminderten Aktivierung der Muskulatur zu suchen ist, darauf verwiesen auch Fink und Mitarbeiter [64]. Sie untersuchten 35 Patienten mit PSP-Plastik und 25 VKB-insuffiziente Patienten in einem posttraumatischen bzw. postoperativen Zeitraum von 71 - 84 Monaten. In ihrer Studie fanden sie heraus, dass die elektrische Aktivität der einzelnen Muskelanteile einer Muskelgruppe sehr unterschiedlich ist. Sie wiesen eine niedrigere Aktivität des M. vastus medialis nach, währenddessen für die anderen Anteile keine Seitenunterschiede bestanden. Unter Berücksichtigung des iEMG/ Arbeits-Quotienten ergaben sich auffällig erhöhte Werte für den M. vastus lateralis. Fink et al.

schlussfolgerten daraus, dass in einigen Muskelanteilen durch eine stärkere Faserrekrutierung versucht wird, die verminderte Leistung der einzelnen Muskelfaser zu kompensieren. „Dieser Hypothese folgend, wäre die Ursache also nicht primär im Bereich des Nervensystems, sondern in den Muskelfasern lokalisiert“ (Fink et al. [64], S. 29). Andere Faktoren, wie zentralnervale Einschränkungen oder Änderungen zentraler Bewegungsprogramme, worauf bereits in der Diskussion der isometrischen Daten hingewiesen wurde, müssen zusätzlich als Erklärungsansatz in Betracht gezogen werden [38, 52]. Dazu zählen möglicherweise auch Veränderungen in der intermuskulären Koordination. So finden sich anhand von EMG-Messungen während isokinetischer Belastungen in anderen Studien Hinweise auf Kokontraktionen der antagonistischen Muskeln, die jeweils vor der Bewegungsumkehr auftraten. Dies wurde insbesondere für die Knieextension mit Kokontraktion der Hamstrings beobachtet. Es ist zu vermuten, dass damit vordere tibiale Scherkräfte reduziert

werden und die Gelenkstiffness zum Schutz des Transplantates bzw. sekundärer Kniegelenksstrukturen erhöht wird54 [1, 84].

Bezüglich der elektrischen Aktivität (mittlere Amplitude, iEMG) des M. quadriceps femoris konnten bei isokinetischer Messung mit 180°/ s über 20 Wiederholungen, also einer submaximalen kraftausdauerorientierten Beanspruchung, ebenfalls keine Auffälligkeiten nachgewiesen werden. Vergleichbare Ergebnisse liegen von Elmqvist et al. [50] vor, die allerdings ein Testschema mit 100 Wiederholungen bei 90°/ s nutzten.

Über die 4 Messzeitpunkte innerhalb des ersten postoperativen Jahres nach VKB-Plastik zeigte sich eine stabile elektrische Effizienz (Quotient aus Arbeit/ iEMG).

Für die EMG-Werte der Messung bei 180°/ s in der eigenen Untersuchung galt weiterhin, dass mit zunehmender Kontraktionsdauer sich die elektrische Aktivität für die 3 abgeleiteten Muskeln erhöhte, um gleiche Drehmomente zu erzeugen bzw. diese zu halten [53]. Die größten Zunahmen waren für den M. rectus femoris zu verzeichnen (mehr als 25 %). Die Veränderungen für den M. vastus medialis waren mit mehr als 15 % und für den M. vastus lateralis mit ca. 8 % deutlich geringer. Der zweigelenkige M. rectus femoris scheint gegenüber den Vasti das höhere Potenzial zu besitzen, unter submaximalen Kontraktionsbedingungen eine EMG-Zunahme (Amplitudenwerte) durch Neurekrutierung noch nicht aktiver motorischer Einheiten zu erzielen und somit die Hauptfunktion bei submaximalen Beanspruchungen zu übernehmen. Dieses Ergebnis steht in gewissem Widerspruch zu den Untersuchungen von Elmqvist et al. [51], die bei isokinetischen Messungen mit verschiedenen Bewegungsgeschwindigkeiten (30, 90, 180°/ s) ein reduziertes iEMG für den M. rectus femoris, nicht aber für die Vasti, erfassten. Die Untersuchungsgruppe setzte sich allerdings aus Patienten mit chronischer VKB-Insuffizienz (konservativ behandelt) zusammen. Die Autoren schlussfolgerten, dass eine veränderte Muskelfaserzusammensetzung der Muskelanteile die Ursache für dieses Ergebnis sein könnte. Sie gehen davon aus, dass bei chronischen Verläufen eine selektive Typ II-Faser-Hypotrophie vorliegt, wobei der M. rectus femoris mit seiner Typ II-Dominanz offenbar stärker beeinträchtigt ist, was durch die selektive Reduzierung des iEMG angezeigt wird. Diese Interpretation zu Grunde gelegt, könnte für die eigenen Untersuchungen, die hinsichtlich der elektrischen Aktivität ein gegenteiliges Ergebnis erbrachten, angenommen werden, dass offenbar in einem mittelfristigen Zeitraum nach VKB-Plastik eine Readaptation der Muskelfaserstruktur stattfinden kann. Das wäre aber weiter zu untersuchen.

54 Diese Annahme kann durch die eigenen Untersuchungen nicht unmittelbar unterstützt werden, da keine EMG-Ableitungen von den Hamstrings vorgenommen wurden.

Drehmomente der Knieflexoren

In vorliegender Studie ergaben sich für die Knieflexoren der operierten Seite keine signifikanten Defizite hinsichtlich der Drehmomente bei isokinetischer Messung mit 60 und 180°/ s sowie für den Ermüdungsindex bei submaximaler Beanspruchung (180°/ s). Im Vergleich zum Referenzwert zeigten sich ebenso keine Auffälligkeiten, lediglich der Ermüdungsindex bei Kraftausdauerbelastung war auf der operierten Seite gegenüber dem Referenzwert signifikant erhöht, was einem geringerem ermüdungsbedingten Kraftabfall entspricht. Es ist zu vermuten, dass dies aber nicht gleichbedeutend mit einer besseren Kraftausdauer der Flexoren der betroffenen Seite ist, sondern eher als paradoxe Ermüdungsresistenz zu interpretieren ist, was man wiefolgt erklären könnte: Man muss beachten, dass die Drehmomente zu Beginn des Testes niedriger als der Referenzwert waren, auch wenn dies nur in der deskriptiven Statistik deutlich wurde. Dies deutet darauf hin, dass die Patienten zu Beginn des Testes offenbar nicht die maximal mögliche Kraft entwickelt haben, was möglicherweise mit einer Rekrutierungsinsuffizienz im Zusammenhang steht. Es kann angenommen werden, dass bei submaximalen Krafteinsätzen zunächst vorrangig die ermüdungsresistenteren Typ-I-Fasern aktiviert werden, während die Ansteuerung der höherschwelligen motorischen Einheiten mit geringerer Ermüdungsresistenz (Typ-II) verhindert wird. Dass derartige Mechanismen bestehen können, darauf deuteten u.a.

die Untersuchungen von Ludwig [127] hin, der bei einem isokinetischen Mehrsatztraining - allerdings für die Quadricepsmuskulatur - eine steigende Aktivierung (Rekrutierung/ Frequenzierung) mit zunehmenden Drehmoment- und Arbeitswerten von Satz zu Satz beobachtete. Auf der nicht betroffenen Seite zeigte sich erwartungsgemäß ein ermüdungsabhängiger Abfall der Drehmomente. Diese Studie mit 13 VKB-Patienten (PSP) wurde allerdings in einem sehr frühen postoperativen Zeitraum (14 Wo. p.o.) durchgeführt. Eine ähnliche Untersuchung mit identischen Ergebnissen in einem postoperativen Zeitraum zwischen 7. und 12. Woche liegt von Baumeister und Weiß [20] vor. Trotzdem könnte man vermuten, dass eine derartige paradoxe Ermüdungsresistenz, wenn auch nicht so ausgeprägt, längerfristig weiter besteht, wie in der hier vorliegenden Untersuchung beobachtet.

Insgesamt scheinen die Kraftfähigkeiten der Flexoren, gemessen an den Drehmomenten, nach VKB-Plastik nur wenig beeinträchtigt, was weitgehend in Konsens mit zuvor zitierten und in Tabelle 78 aufgeführten Studien steht. Selbst wenn die Transplantatentnahme in der ischiocruralen Muskelgruppe erfolgt, scheint ein gutes Regenerationspotenzial zu bestehen und zumindest langfristig kein klinisch relevantes Defizit zu verbleiben.

4.7.3 Zusammenfassende Diskussion zur Messung der Drehmomente und