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4.2 Pathophysiologie

4.2.1 Ischämie/Reperfusionsschaden

Um die Pathophysiologie des ischämischen Schlaganfalls in Gänze zu verstehen, ist es not-wendig, die nur wenige Minuten nach Eintritt der Ischämie einsetzenden Schäden von Ge-hirnzellen und die Schädigungen, welche erst nach mehreren Stunden bis Tagen eintreten, streng voneinander abzugrenzen. Die Zellen, welche im Bereich der maximalen Ischämie liegen und welche vollkommen (ohne vaskuläre Kollateralen) von der Blutversorgung ab-geschnitten sind, bilden den sogenannten Kern des fokalen Infarkts (Woodruff et al., 2011).

Dieser Bereich geht durch Nekrose zugrunde und ist unwiderruflich abgestorben. Der nek-rotische Kern des Infarkts ist jedoch umgeben von Gewebe, welches zwar dysfunktional, jedoch noch metabolisch aktiv ist (Broughton et al., 2009). Dieser Bereich, Penumbra (lat.:

Halbschatten) genannt, nimmt ca. die Hälfte des Gesamtvolumens eines durch ischämischen Insult verursachten Infarktgebietes ein und ist im Gegensatz zum Kerninfarkt potentiell funktionell wiederherstellbar (Ginsberg, 1997). Die Penumbra bildet sich langsamer aus als der Kern eines fokalen Infarkts und ist abhängig von der Aktivierung bestimmter Gene, wel-che u.a. die Apoptose triggern (Dirnagl et al., 1999; Lipton, 1999; Zheng & Yenari, 2004).

Morphologisch muten die Vorgänge der Nekrose chaotisch an, da auch die unmittelbare Umgebung der nekrotischen Zellen durch die Freisetzung von Zellinhalt in Mitleidenschaft gezogen wird. Der pathologische Prozess der Nekrose ist initial geprägt von Organellen- und Zellschwellung, welche in der Folge zu einer Zerstörung der Membranen in und an der Zelle führen. Darauf folgen der Zerfall nukleärer Strukturen und zytoplasmatischer Organellen, sowie eine Freisetzung des Zellinhalts in den Extrazellulärraum (Majno & Joris, 1995;

Broughton et al., 2009). Die aufgehobenen Zellgrenzen führen zu einer Kolliquation, einer Aufweichung (lat.: colliquescere – flüssig werden) des Gewebes. Der Ablauf der Apoptose mutet im Vergleich dazu geradezu geregelt an: Er ist energieabhängig und der apoptotische

Zelltod vollzieht sich abgekapselt in der jeweiligen Zelle, ohne Einbezug der Zellumgebung (Broughton et al., 2009).

Um die durch die Ischämie hervorgerufenen Schädigungen zu unterbrechen, ist therapeu-tisch so früh wie möglich eine Wiederherstellung des Blutflusses anzustreben. Mittel der Wahl für die Lysetherapie einer thrombembolischen Komplikation ist dabei rtPA (recombi-nant tissue Plasminogen Activator) (Leitlinien der DGN, Stand 2012). Jedoch bringt die Re-perfusion nicht nur die Aufhebung der Ischämie mit sich, was therapeutisch per se positiv ist, sondern hat darüber hinaus nachweislich schädlichen Einfluss auf die Zellen des ZNS (Molina & Saver, 2005; Bai & Lyden, 2015). Noch immer sind die komplexen und teilweise parallel verlaufenden Prozesse von I/R nicht abschließend geklärt, doch hat sich durch in-tensive Forschung der letzten Jahre ein immer deutlicheres Bild von in Wechselbeziehung zueinanderstehenden und aufeinander abgestimmten Prozessen ergeben, welche letzten En-des zum Zelltod nach I/R, etwa als Folge eines ischämischen Schlaganfalls, führen (Bai &

Lyden, 2015; Woodruff et al., ,2011; Pandya et al., 2011). Auch ist nicht klar voneinander abzugrenzen, welche Schäden durch Ischämie und welche durch Reperfusion entstehen, wo-bei angenommen werden darf, dass sich einige Effekte synergistisch zueinander verhalten oder Folge voneinander sind (Bai & Lyden, 2015).

Die zeitlich zuerst einsetzende Ischämie ist in erster Linie gekennzeichnet durch einen rapi-den Verlust an Energie in Form von Arapi-denosintriphosphat (ATP). Dieser kommt zustande, da der durch die Ischämie bedingte Verlust an Sauerstoff (O2) den Elektronentransport über die Atmungskette in den Mitochondrien blockiert. Da somit keine suffiziente oxidative Phosphorylierung mehr gewährleistet ist, wird die Produktion von ATP gehemmt. Dies er-fordert einen Wechsel vom aeroben zum anaeroben Stoffwechsel, doch ist auch die Glyko-lyse durch den Stopp der Substratzufuhr abgeschwächt. Die erniedrigte intrazelluläre ATP-Konzentration verursacht eine Dysfunktion der Na+/K+-ATPase, was in der Folge zu einem Influx von Na+ und Ca2+ über spannungsabhängige Kanäle führt, woraufhin die Zelle depo-larisiert (Chavez et al., 2009, Woodruff et al., 2011). Das intrazellulär erhöhte Kalzium sorgt für eine Aktivierung von zu Zellabbau führenden Proteasen, Kinasen, Lipasen und Endo-nukleasen, welche nun den intrinsischen Weg der Apoptose triggern und somit letztendlich zum Zelltod führen können (Lipton, 1999; Mattson et al., 2000).

Die Akkumulation von Ca2+ fördert die Freisetzung des exzitatorisch wirksamen Neuro-transmitters Glutamat (Siesjö, 1992). Gleichzeitig ist die ATP-abhängige Wiederaufnahme von Glutamat gehemmt (Chan et al., 1983), worauf es zu einer extrazellulären Akkumulation

des Glutamats kommt. Die Aktivierung von Glutamatrezeptoren fördert die Kalziumauf-nahme der Zelle weiter, was paradox klingt, wenn man bedenkt, dass sich die Zelle auf diese Weise selbst verletzt (sog. Glutamat-Exzitotoxizität) (Won et al., 2002; Martin & Wang, 2010).

Auch kommt es während der Ischämie zu Gewebeschäden, welche sich durch morphologi-sche Änderungen an Neuronen, wie etwa der Bildung von Mikrovakuolen im Zytosol, zei-gen. Kommt es zu einer Reperfusion, bilden sich diese in empfindlichen Neuronen schon nach kürzester Zeit aus (Sato et al., 1990).

Ein weiterer Schädigungsmechanismus von I/R ist die während dieser Prozesse massiv an-steigende Bildung von reaktiven Sauerstoffspezies (ROS, reactive oxygen species) (Bai &

Lyden, 2015; Woodruff et al., 2011). Während der Ischämie bleiben viele Abbauprodukte, der durch diese hervorgerufenen Lipolyse, im gebundenen Zustand. Kommt es jedoch zur Reperfusion, werden diese schlagartig vermehrt freigesetzt: Es bilden sich ROS (Krause et al., 1988). Im gesunden Neuron fallen ROS wie Hyperoxidanionenradikale (O2-) oder Hyd-rogenperoxid (H2O2) ganz natürlich bei der Bereitstellung von Energie in den Mitochondrien an. Sie werden im gesunden Organismus darauf von antioxidativen Molekülen aufgefangen (Boveris & Chance, 1973). Dies ist von großer Wichtigkeit, da oxidativer Stress sonst zel-luläre Schäden und Dysfunktionen auslösen kann (Choi et al., 2009). Die während der Re-perfusion jedoch massiv anfallenden ROS übersteigen die Kapazität der Antioxidantien (Saito et al., 2005; Li et al., 2012), sodass es in der Folge zu oxidativen Schäden an zellulären Makromolekülen (Proteinen, Nukleinsäuren, Lipiden) kommt. Die Folgen sind mitochond-riale Schwellung, Zellverletzungen und Zelltod (Chan, 2001; Bai & Lyden, 2015).

Weitere pathologische Veränderungen können nach I/R an Zellen beobachtet werden, wie etwa eine Unterdrückung der Proteinbiosynthese (Kleihues & Hossmann, 1971) oder die Aktivierung und Biosynthese von Komplement (Arumugam et al., 2009). Auch kommt es während der Ischämiephase zur Verletzung des Gefässendothels mit Freilegung der sub-endothelialen Extrazellulärmatrix. Beim Wiedereinsetzen der Perfusion kommt es, den Ge-setzen der Gerinnungskaskade folgend, zur Adhäsion von Blutplättchen, was eine weitere Plättchenadhäsion in der Mikrozirkulation auslösen und somit zu weiterer Thrombosierung führen kann (Choudhri et al., 1998; del Zoppo, 1998). Begünstigt wird diese durch bei der Reperfusion angespülte aktivierte Leukozyten, welche für eine zusätzliche Akkumulation

von Leukozyten, Erythrozyten und Plättchen im Mikrogefäßsystem sorgen. Folgen sind mik-rovaskuläre Obstruktion, erneut herabgesetzte Perfusion und somit eine sekundäre zerebrale Ischämie (del Zoppo et al., 1991; Hallenbeck et al., 1986).

Der Antwort des Immunsystems auf einen ischämischen Schlaganfall wurde in der For-schung der letzten Jahre immer mehr Aufmerksamkeit zuteil. So konnte in Tiermodellen nachgewiesen werden, dass eine Suppression des Immunsystems (und somit eine abge-schwächte Immunantwort) mit kleineren Infarktarealen korreliert (Hurn et al., 2007). Vor allem der neuroinflammatorischen T-Zellantwort (weniger der B-Zellantwort) wird in die-sem Zusammenhang die Verantwortung für größere Infarktareale zugesprochen (Yilmaz et al., 2006).

Ein weiterer Verletzungsmechanismus ist die Schädigung der Blut-Hirn-Schranke (BHS), welche während der Ischämie geschädigt werden und danach eine erhöhte Permeabilität auf-weisen kann (Gu et al., 2011). Yang & Betz konnten in ihrer Studie sogar nachauf-weisen, dass die BHS umso stärker geschädigt wird, je größer das reperfundierte Volumen ist (Yang &

Betz, 1994). Gründe für eine Verletzung der BHS können Schädigungen an allen Anteilen der neurovaskulären Einheit (Endothelzellen, Perizyten, glatte Muskulatur der Gefäße, Ast-rozyten, Mikroglia und Neurone), sowie perivaskuläre Ödeme sein (Bai & Lyden, 2015;

Chen et al., 2009).