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2. Kausalpfad ‚dichte’ Sozialisation

4.4 Interviews als Datenquelle

. Eine Durchführung an Interviews mit Beteiligten aus möglichst unterschiedlichen Institutionen der Europäischen Union ist notwendig, um die Wahrnehmungen und Ein-schätzungen von möglichst vielen an dem Politikformulierungsprozess Beteiligten ana-lysieren zu können. In der hier durchgeführten Studie sind Interviews insbesondere für die Rekonstruktion des möglichen Präferenzwandelprozesses notwendig, die ohne so-genanntes ‚Insider’-Wissen kaum möglich wird (vgl. Bogner/Menz: 2002: 1). So kann die politische Alltagspraxis oft nur über Interviews mit den entsprechenden Akteuren im Detail rekonstruiert werden, weshalb Experteninterviews insbesondere in der qualitati-ven Analyse von Netzwerken weit verbreitet sind (Voelkow: 1995: 55, zit. nach A-bels/Behrens: 2002: 187). Da für die empirische Analyse insbesondere die Rekonstruk-tion eines möglichen Präferenzwandelprozesses von Bedeutung ist, werden qualitative Interviews anhand entsprechender Leitfäden durchgeführt. Der Fokus auf eine Detail-analyse von Interviews erlaubt zudem eine eher geringe Anzahl von zehn bis zwanzig Interviews, da in dieser Arbeit nicht die quantitative Bestätigung bestimmter Fakten sondern die Durchführung eines Theorietests im Vordergrund steht (siehe auch Kruse:

2007). Es handelt sich demnach um ein qualitatives Sample mit einer kleinen Stichpro-be und einer Stichpro-bewussten Auswahl von Interviewpartnern, die auf einer theoretische Stichpro- be-gründeten Vorabfestigung des Samples beruht (Kruse: 2007: 50f).

Die Interviewpartner wurden zunächst aufgrund ihrer aktiven Beteiligung am Ausges-taltungsprozess der Emissionshandelrichtlinie ausgewählt. Darüber hinaus spielt für die

│99 Auswahl der Interviewpartner ihre Einordnung hinsichtlich von Verantwortung und Entscheidungsmacht innerhalb der Europäischen Kommission eine Rolle. So wurde auch auf eine gute Mischung von Interviewpartnern auf unterschiedlichen „Hiera-chiestufen“ in der Europäischen Kommission geachtet. Erstens wurden die Interview-partner in der Europäischen Kommission aus unterschiedlichen Generaldirektionen ausgewählt und zweitens alle an dem Entscheidungsprozess beteiligten Hierarchiestufen in der Europäischen Kommission befragt. Dies trägt insbesondere dem Umstand Rech-nung, dass die Europäische Kommission in dieser Arbeit als Verwaltung definiert wird und sowohl „Generalisten“ (meist obere Hierarchiestufen) als auch „Spezialisten“

(meist untere Hierarchiestufen) in die Analyse einbezogen werden sollen. Um der Prob-lematik gerecht zu werden, dass Interviews vor allem eine komplexe soziale Interaktion zwischen dem Interviewtem und dem Interviewer darstellen, ist die hier vorgeschlagene Mischung verschiedener Datenquellen, sowie Interviews mit ExpertInnen unterschiedli-cher organisationeller und institutioneller Zugehörigkeiten, entscheidend (vgl. A-bels/Behrens: 2002: 187).

4.4.1 Experteninterviews

In der qualitativen Interviewforschung existiert eine Vielzahl von Interviewformen, die unterschiedliche Methoden zur Interviewführung (Offenheit vs. Strukturierung), sowie unterschiedliche Zielsetzungen verfolgen (u.a. Kruse: 2007). In dieser Studie sind die Interviews als Expertengespräche angelegt und dienen dazu, unzugängliches Detailwis-sen zu erfragen, unbekannte Sachverhalte zu erhellen und subjektive Wahrnehmungen der Akteure herauszuarbeiten. Experten gelten als Repräsentanten für die Handlungs- und Sichtweisen einer bestimmten ‚Experten’-Gruppe, weshalb die Interviewleitfäden faktenorientiert angelegt sind (vgl. Bogner/Menz: 2002a: 10ff). Wer als Experte gilt, richtet sich laut Bogner und Menz in der Forschungspraxis nach dem spezifischen For-schungsinteresse und der sozialen Repräsentativität des Experten (Bogner/Menz: 2002b:

41; auch Meuser/Nagel: 2002). Trotz der Faktenorientiertheit von Experteninterviews sind die Argumentationsmuster, Werthaltungen und Motive der Interviewpartner ent-scheidend für die Auswertung der Interviews (vgl. Bogner/Menz: 2002a: 15). Das Ex-perteninterview gilt gemeinhin nicht als eigenständige Interviewmethode, da das Spezi-fische an Experteninterviews die Zielgruppe ist (ebd.: 2002b: 34f). Auch

Experteninter-│100 views können sich je nach Festlegung des Schwerpunkts unterscheiden (Bogner/Menz:

2002b: 34). Bogner und Menz differenzieren zwischen drei verschiedenen Typen des Experteninterviews: das explorative Experteninterview, das systematisierende Experten-interview und das theoriegenerierende ExpertenExperten-interview (vgl. Bogner/Menz: 2002b:

37f).84

4.4.2 Interviewdurchführung

In dieser Studie wird eine Mischung des systematisierenden und des theoriegenerieren-den Experteninterviews verwendet, da für die Analyse eines möglichen Präferenzwan-dels sowohl Detailwissen über die Vorgänge innerhalb der Organisation als auch die Verwendung von Weltbildern oder sogenannten ‚Rahmen’ (Frames) notwendig sind, um neue Politikansätze entsprechend mit Weltbildern und neuem Wissen zu verknüp-fen. Dafür wurden strukturierte, aber dennoch offene Leitfäden erarbeitet (siehe An-hang).85 Die Fragen wurden strukturiert, sollten aber möglichst viel Freiraum für Ant-worten lassen. Eine offene Interviewführung anhand offener Fragen ist eine wichtige Voraussetzung für eine anschließende qualitative Interviewanalyse. Laut Kruse sind nur so die Rekonstruktion von subjektiven Deutungsmustern und das Verständnis komple-xer sozialer Sachverhalte möglich (Kruse: 2007: 10f). Zwar dienen die Interviews in dieser Studie neben anderen Datenquellen als Material für einen Theorietest an einem empirischen Fall dennoch ist es für die Durchführung dieses Vorhabens von Bedeutung, möglichst offene Fragen zu stellen. Die Antwort auf solche Fragen sind zumeist Texte, die Spielraum für eine ausreichende qualitative Inhaltsanalyse lassen (vgl. auch Kruse:

2007: 11). Eine solche Vorgehensweise setzt demnach eine flexible Interviewführung voraus, wobei auch spontan auf sich aus dem Interview heraus entstehende Situationen reagiert werden kann (vgl. Kruse: 2007: 144ff, auch Meuser/Nagel: 2002: 78).

84 Als exploratives Experteninterview gelten laut Bogner und Menz (2002: 37f) Interviews, die einer ersten Orientierung in einem thematisch neuen oder unübersichtlichen Feld dienen und das Problembe-wusstsein des Forschers schärfen sollen. Systematisierende Experteninterviews dagegen dienen der „sys-tematischen und lückenlosen Informationsgewinnung“, während theoriegenerierende Experteninterviews u.a. der Konzeptualisierung von (impliziten) Wissensbeständen, Weltbildern und Routinen dienen (für eine detaillierte Beschreibung siehe Bogner/Menz: 2002: 37f).

85 Aus Datenschutzgründen werden die Interviews in dieser Untersuchung nur in Auszügen zitiert. Zur Vereinfachung für den Leser werden die Interviewzitate in vereinfachter Transkription dargestellt. Lange Pausen, sowie Rezeptionssignale (hm, äh) und parasprachliche Handlungen (Husten, Lachen) werden nicht abgebildet.

│101 Die Interviewleitfäden wurden so konzipiert, dass sie zunächst mit einer sogenannten Eisbrecherfrage beginnen, um eine möglichst einfache Gesprächseröffnung zu ermögli-chen. Im Interviewverlauf selbst wurden direkte (z.B. „Was ist Ihre Meinung dazu?“

und indirekte Fragen (z.B. „Was denken Sie, wie man das einschätzen könnte?“ ver-wendet. Je nach Verlauf des Interviews sind auch provokative Fragen (sogenannte Sti-muli) verwendet worden. Die Gespräche endeten immer mit einer offenen Ausstiegsfra-ge („Fällt Ihnen dazu noch etwas ein, was wichtig sein könnte?“). In einem Interview-workshop im Sommer 2006 wurden für die Autorin die Grundlagen für die Erarbeitung von Interviewleitfäden gelegt (Kruse: 2006).86 Zudem wurden die Interviewleitfäden nach dem Workshop mit Mitgliedern der Arbeitsgruppe diskutiert und zum Teil revi-diert. Folgendes Beispiel zeigt anhand einer Frage, wie der Interviewleitfaden für Kommissionsmitarbeiter angelegt war87.

Abb. 13: Auszug aus dem Interviewleitfaden 88

Block 1 : Leitfragen/Stimuli/Erzählaufforderung Wie sind Sie zu dieser Position/ Stelle in der Kommission gekommen?

Inhaltliche Aspekte Aufrechterhaltungsfragen konkrete (Nach-) Fragen Eisbrecherfrage:

Arbeitshintergrund, persönlicher Hin-tergrund

Wie lange beschäftigen Sie sich insgesamt schon mit dem

Wie sah Ihre tägliche Arbeit im Zusammenhang mit dem Emissionshandelssystem der EU aus?

Inhaltliche Aspekte Aufrechterhaltungsfragen konkrete (Nach-) Fragen process of collecting

information

Haben Sie persönlich im Laufe der Zeit Ihre Einstellung zum Emissionshandel geändert?

(eigene Darstellung)

86 Dieser Workshop fand vom 22. bis 24. Juni 2006 an der Eberhard-Karls-Universität Tübingen im Rahmen des Graduiertenkollegs „Globale Herausforderungen – transnationale und transkulturelle Lö-sungswege“ statt.

87 Für jede Gruppe von Interviewpartnern (Europäische Kommission, NRO, MdEP) wurden eigene Inter-viewleitfäden entwickelt, mit individuellen Fragen entwickelt.

88 Der ausführliche Fragebogen für Kommissionsmitarbeiter und Kommissionsmitarbeiterinnen ist stell-vertretend für alle entwickelten Interviewleitfäden im Anhang abgebildet.

│102 Im Februar und März 2007 fanden die Interviews in Bonn, Berlin und Brüssel statt.

Nach der ersten Interviewrunde in Brüssel wurden die Interviewleitfäden durch einige Fragen ergänzt, die sich im Laufe der ersten Interviews ergeben hatten. Für jedes Inter-view wurde anschließend ein Postscript erstellt, in dem interaktionelle Phänomene und bestimmte Gesprächsdynamiken festgehalten wurden, die nicht aus dem Transkript ersichtlich wurden, jedoch für die Analyse der Interviews eine wichtige Datengrundlage bilden (vgl. Kruse: 2007: 71). Alle Interviews werden mit schriftlicher Erlaubnis der Interviewpartner anonymisiert verwendet und in kleinen Ausschnitten zitiert. Die Transkription der Interviews basiert auf dem gesprächsanalytischen Transkriptions-system (GAT) nach Selting et al. (1998), wobei die Experteninterviews in einer verein-fachten Version vollständig transkribiert werden (vgl. Kruse: 2006). Hierbei werden insbesondere Pausen, Betonungen und parasprachliche Äußerungen wie ‚ähm’, ‚hm’, Lachen, Husten usw. berücksichtigt.