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Industrialisierunghsthese oder Reproduktionsthese? Universalistische Geltungsansprüche versus empirische Geltung

Zwei Paradigmen in der Ungleichheitsforschung: Industrialisierungs- versus Reproduktionsthese

2.6 Industrialisierunghsthese oder Reproduktionsthese? Universalistische Geltungsansprüche versus empirische Geltung

Wenn das im letzten Kapitel erläuterte Colemansche Schema der Erklärung sozialen Handelns auf die Theorien der sozialen Ungleichheit anwenden wird, dann erhalten die einzelne Stufen dieses Modells folgende Interpretation:

• Als Explanans der Makroebene fungieren die angenommenen Allokations- und Verteilungsprinzipien, die in der Verteilungsordnung, vor allem aber auch in den

Mobilitätsraten und -mustern sichtbar werden. Die Industrialisierungsthese geht von der Geltung des Achievement- und des Austauschprinzips aus, was sich in einer

kontinuierlichen Schichtungshierarchie und hohen Mobilitätsraten äußert. Beobachtete Mobilitätsströme werden im Wesentlichen auf individuelle Qualitäten wie Qualifikation, Motivation und Leistung zurückgeführt. Die Reproduktionstheorien hingegen unterstellen die Geltung von Alimentierungs- und Ascription-Prinzipien, was sich in relativ niedrigem Umfang der (Austausch-) Mobilität äußert, die im Wesentlichen durch

Ausschließungsprozesse beeinflußt werden.

• Diese Charakteristiken der Makroebene wirken sich auf die Handlungssituation der Individuen auf der Mikroebene aus: Je nach angenommener Kombination von Allokations- und Verteilungsprinzipien entstehen spezifische Interessen und

Handlungsalternativen hinsichtlich der Beibehaltung beziehungsweise Verbesserung der sozialen Position. Unter Austausch- und Achievementbedingungen sind

Handlungsinteressen idiosynkratrisch; die Ausgangssituationen sind zu unterschiedlich, um a priori durch Positionen bedingte gemeinsame Interessen zu postulieren.

Individualistische Handlungsstrategien wie Ausbildungsinvestitionen und Karrie-rebemühungen erscheinen zur Verbesserung der eigenen Position recht

vielversprechend. Unter Ascription- und Alimentierungsbedingungen hingegen lassen sich sehr wohl kollektive Lagen, die mit strukturellen Interessen verbunden sind,

identifizieren. Nur kollektive Handlungsstrategien ermöglichen eine Verbesserung der je eigenen Situation.

• Aus dieser Konstellation lassen sich spezifische Handlungen der Individuen zur Verbesserung ihrer sozialen Position vorhersagen. Unter Achievement- und Austauschbedingungen wird individuelles, unter Ascription- und

Alimentierungsbedingungen kollektives soziales Handeln wahrscheinlich.

• Die Aggregation der Einzelhandlungen hat wiederum Konsequenzen für die Makroebene, die in dieser Studie jedoch nicht weiter beachtet werden. Theorien der

Industrialisierungsthese implizieren eher Stabilität, gerade unter dem Eindruck legitimer Allokations- und Verteilungsprinzipien, während Reproduktionstheorien eher sozialen Wandeln vorhersagen würden - wenn und insoweit die aggregierten kollektiven Handlungen die Verteilungs- und Allokationsregeln verändern können.

An diesen beiden Grundtypen der Erklärung sozialen Handelns erscheint vor allem eines bemer-kenswert: Sie sind in ihrer Aussage vollkommen gegensätzlich, obwohl sie sich auf den gleichen Sachverhalt beziehen. Noch viel erstaunlicher ist die Tatsache, daß Theorien mit solch gegensätz-lichen Grundannahmen so lange nebeneinander existieren können, ohne daß für die eine oder die andere Theorierichtung eine bessere Bestätigung durch empirische Phänomene eindeutig fest-zustellen wäre.

Dafür mag es viele Gründe geben. Sozialwissenschaftliche Theorien sind in der Regel empirisch unterdeterminiert: Viele Sachverhalte können durch unterschiedliche Theorien gleich gut erklärt werden. Industrialisierungsthese und Reproduktionsthese stellen Vertreter zweier konkurrierender

"Paradigmen" (Kuhn 1976) dar, die sich gleichzeitig behaupten können, da der Kern der

Paradigmen durch hinreichende Modifikation von Zusatzannahmen gegen Falsifikationen in Schutz genommen werden kann.60

Vor allem aber sind die beiden Theoriefamilien in ihrer konkreten Anwendung auf empirische Sachverhalte so gegensätzlich nicht: Auch der überzeugteste Vertreter des Statusattainment-Ansatzes oder der funktionalistischen Schichtungstheorie wird nicht leugnen, daß auch in modernen Gesellschaften Schließungsprozesse zu finden sind, und die Schließungstheoretiker können schlecht die Existenz von Austauschprozessen abstreiten..61

Allerdings macht genau diese einseitige Betonung dieser unterschiedlichen Aspekte den Charakter der Theoriefamilien aus. Entweder Markt oder Schließung werden als wesentliche Elemente moderner Gesellschaften, als das für sie typische, charakteristische Strukturelement hervor-gehoben. Darüber hinaus erheben beide Theoriefamilien universalistische Geltungsansprüche: Da sie das wesentliche Strukturprinzip der modernen Industriegesellschaft erkannt zu haben glauben, funktionieren alle Industriegesellschaften als "Achievement" Gesellschaften, beziehungsweise alle Industriegesellschaften sind durch ungebrochene Reproduktionsbemühungen der privilegierten sozialen Gruppen gekennzeichnet. Zwar wird zugestanden, daß auch die anderen Funktions-prinzipien zum tragen kommen, doch sind diesbezügliche Erscheinungen eher als transiente Störungen des "wahren" Prinzips zu deuten: Schließungsprozesse können zwar punktuell auftreten, doch auf Dauer werden sich die Kräfte des freien Marktes durchsetzen; zwar hat die Bildungsreform Partizipationschancen generell erhöht, doch werden die privilegierten Gruppen auch im prinzipiell offenen Bildungssystem ihre Vorteile umsetzen.

So findet sich die paradox anmutende Situation, daß das Untersuchungsfeld der sozialen Un-gleichheit von zwei in wichtigen Annahmen und Schlußfolgerungen gegensätzlichen Auffassungen geprägt wird, für die sich jeweils empirische Belege finden lassen - weil die Realität selbst durch gegensätzliche Strukturprinzipien geprägt ist. Wenn aber beide Strukturprinzipien das soziale Leben prägen, müßte dies in der Ungleichheitstheorie berücksichtigt werden, etwa dadurch, daß beide Strukturcharakteristiken systematisch aufeinander bezogen werden. Dies geschieht aber in den Ungleichheitstheorien nicht.62

60 Siehe auch Lakatos (1982) und die Diskussion des "non-statement views" von Theorien in Stegmüller (1985).

61 Die Tatsache, das Austausch und Ausschließung, Achievement und Ascription empirisch gleichzeitig auftreten können, muß klar von einer konzeptionell begründeten Kombination von Austausch- und Achievement einerseits, von Ascription und Alimentierung andererseits

unterschieden werden. Diese spezifische Kombination der Verteilungs- und Allokationsprinzipien ist keineswegs zufällig. Alimentierung ist unter Achievement-Bedingungen nicht möglich. Wenn einerseits bestimmte soziale Positionen Privilegien im Sinne von Alimentierung mit sich führen, andererseits der Zugang zu diesen Positionen prinzipiell offen ist, dann würden alle Personen in weniger vorteilhaften Positionen in die privilegierten hineinströmen. Unter diesen Bedingungen ist die Aufrechterhaltung des Privilegs kaum vorstellbar. Alimentierung bedarf der Ausschließung. Nur durch Einschränkung des Marktes in Form von Monopolisierung von Zugangschancen zu

Ressourcen ist es möglich, Einkommen, die oberhalb der Markteinkommen liegen, zu erzielen.

Ebensowenig ist das Austauschprinzip unter Askriptionsbedingungen zu verwirklichen. Wenn Positionen und die mit ihnen verbundenen Belohnungen aufgrund von Merkmalen wie Hautfarbe oder Geschlecht vergeben werden, ist der Austauschgedanke schon prima facie verletzt: Die Person erhält Belohnungen ohne eine Gegenleistung zu erbringen, nur aufgrund des Besitzes des

"richtigen" Merkmals beziehungsweise aufgrund der "richtigen" Gruppenzugehörigkeit.

Austausch kann also nur insoweit stattfinden, als auch das Achievementprinzip verwirklicht ist, und vice versa. Alimentierung findet in dem Maße statt, wie Ascription die Allokation regiert.

62 Eine Ausnahme bildet Wegener (1988), der beide Aspekte explizit berücksichtigt. Allerdings befaßt sich Wegener hauptsächlich mit der adäquaten Abbildung sozialer Ungleichheit in einer gegebenen Gesellschaft mittels des Prestiges, während in der vorliegenden Arbeit systematische

Der unbekümmerte Universalismus-Anspruch gängiger Ungleichheitstheorien kann unter anderem auch deshalb aufrecht erhalten werden, weil sich die Ungleichheitsforschung vor allem auf

Charakteristiken des Angebots der Arbeitskraft konzentriert: Merkmale der Arbeitnehmer wie Bildung, Beruf, Geschlecht oder Rassenzugehörigkeiten werden bei der Untersuchung von Allokations- und Verteilungsprozessen berücksichtigt. Doch die Nachfrageseite bleibt weitgehend unbeachtet. Allokation und Verteilung spielen sich aber auf dem Arbeitsmarkt ab. Hier werden Leistungen gegen Belohnungen getauscht, Personen auf Positionen allokiert.

Schlie-ßungsmerkmale wie Bildung, Geschlecht oder Rassenzugehörigkeit können nur auf dem Arbeits-markt zu Privilegien oder Benachteiligungen führen.

Die Frage, wie Bildungstitel als Alimentierungsmittel eingesetzt werden können, ist mit dem Verweis auf "institutionalisierte Ausschließungsregeln" noch keineswegs hinreichend geklärt.

Allokationsentscheidungen werden von Arbeitgebern getroffen, und es ist zunächst nicht zu sehen, warum diese auf Credentials oder andere, von Arbeitnehmern zum Schutz ihrer Renditen

gewünschten, Schließungskriterien Rücksicht nehmen sollten. Am ehesten ist dies noch für Ärzte, Rechtsanwälte und andere Professionals nachzuvollziehen, für die in der Tat nicht zu umgehende gesetzlich fixierte Zulassungsvorschriften existieren, die die Allokationsentscheidung der

Arbeitgeber klar strukturieren. Parkin und Collins verweisen als ausgewiesene Schließungs-theoretiker immer auf diese Gruppen, wenn von Credentials die Rede ist. Aber Credentials können auch für andere Arbeitnehmergruppen wirksam sein. Die Institutionalisierung der

Allokationsmechanismen für Credentials (resp. Andere Schließungsmerkmale wie Geschlecht oder Rassenzugehörigkeit, die nicht gesetzlich fixiert werden können) unterhalb der Ebene der

Professionals lassen sich aber nur unter Rückgriff auf Arbeitsmarktstrukturen zeigen.

Aber selbst dann ist die Frage der Alimentierung noch nicht abschließend diskutiert. Credentials oder andere Schließungsmerkmale haben keinen direkten Einfluß auf die Belohnungen, die eine Person erhält; diese sind vielmehr an Positionen, mithin an Arbeitsstellen geknüpft. Schließungs-merkmale generieren Renditen nur insoweit, als sie Zugang zu privilegierten Arbeitsstellen eröffnen. Das Einkommen ist damit auch von den Eigenschaften der Arbeitsstellen abhängig.

Diese haben einen eigenständigen Einfluß darauf, ob Austauschprozesse tatsächlich nach den Marktgesetzen verlaufen oder ob Schließungsmerkmale gewinnbringend eingesetzt werden können, und wie hoch die zu erwartenden "Schließungsgewinne" ausfallen. Der Einfluß des Arbeitsmarktes auf Allokations- und Verteilungsprozesse wird in den gängigen Ungleichheits-ansätzen aber nicht berücksichtigt. Die wichtigsten Ergebnisse der Arbeitsmarktforschung, die sich mit diesem Einfluß beschäftigt, werden im nächsten Kapitel dargestellt.

Unterschiede zwischen Gesellschaften hinsichtlich ihrer Lokalisierung auf dem "Kontinuum von Öffnung und Schließung" (Wegener 1988:135) im Vordergrund steht.

Kapitel 3:

Systeme offener und geschlossener Positionen: Allokations- und