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Die Brückenannahmen der Reproduktionsthese: Alimentierung und Ascription statt Austausch und Achievement

Zwei Paradigmen in der Ungleichheitsforschung: Industrialisierungs- versus Reproduktionsthese

2.5 Die Brückenannahmen der Reproduktionsthese: Alimentierung und Ascription statt Austausch und Achievement

Nach den Vorstellungen der Reproduktionsthese läßt sich die Verteilung von Belohnungen keineswegs als "Austausch" begreifen. Die Tatsache, daß Bildung in modernen Gesellschaften neben ökonomischem Kapital das bedeutendste Ungleichheitskriterium darstellt, ist durchaus mit der Geltung des Alimentierungsprinzips verträglich. Ebensowenig wird nach der Reproduktions-these die Allokation von Individuen auf soziale Positionen nach dem Achievement-Prinzip geregelt.

"Schließung" beinhaltet ja gerade die Suspendierung des Achievement-Prinzips: Individuen werden aufgrund irgendeines Kriteriums daran gehindert, eine bestimmte Position zu besetzen, auch wenn sie die für die Ausführung der zu dieser Positionen nötigen Qualifikationen besitzen. Der Zugang wird ihnen aufgrund ihrer Geschlechts- oder Rassenzugehörigkeit verwehrt, weil sie nicht aus der richtigen Herkunftsklasse stammen, oder weil sie nicht die adäquaten Credentials besitzen. Talent, Qualifikation und Anstrengungen nützen nichts, wenn die passenden Zugangsmerkmale fehlen.

Status kann unter diesen Bedingungen nicht aus eigener Kraft erreicht werden, er wird vielmehr diesen Merkmalen zugeschrieben: Die Ausschließungsmerkmale und nicht persönliche

Eigenschaften oder Leistungen sind für die Besetzung von Positionen ausschlaggebend. In geschlossenen Gesellschaften regiert das Ascription-Prinzip die Allokation von Personen auf Positionen. Etliche, vor allem von Goldthorpe durchgeführte Studien, liefern ein Bild der sozialen Mobilität, das den Erwartungen entspricht, die auf der Annahme eines Ascription-Prinzips beruhen:

Soziale Mobilität ist nicht uneingeschränkt möglich. Bildungserwerb und Zugangschancen zu erwünschten sozialen Positionen sind von der Herkunft abhängig.

Auch hier wird versucht, die Geltung dieser Verteilungs- und Allokationsprinzipien anhand bestimmter Charakteristika von Gesellschaften auf der Makroebene zu demonstrieren:

(i) Das System der sozialen Ungleichheit läßt sich in Regionen gleichartiger Positionen zerlegen, die durch nur schwer zu überwindende Barrieren abgegrenzt sind. Je nachdem, welche Aus-schließungskriterien als wichtig erachtet werden, werden sehr unterschiedliche privilegierte oder benachteiligte soziale Gruppen benannt: Geschlecht, ethnische Gruppierungen oder Alters-kohorten können Merkmale sein, die die ungleichheitsrelevanten Gruppengrenzen ziehen. Die meisten Ungleichheitstheorien, die den Schließungsbegriff explizit oder implizit verwenden, beschreiben Gesellschaften als Klassengesellschaften48.

(ii) Das Niveau sozialer Mobilität ist niedrig, Industriegesellschaften sind insbesondere durch ein geringes Maß an Austauschmobilität gekennzeichnet. Privilegierte Klassen haben die besseren Chancen, ihrem Nachwuchs ebenfalls günstige Positionen zu sichern. Die ungleiche Verteilung relativer Chancen läßt das Ausmaß an sozialer Mobilität geringer werden, als es unter

Achievement-Bedingungen möglich wäre.

(iii) Die Richtung der Mobilität wird im Wesentlichen durch die Schließungsmodi festgelegt.

Individuelle Merkmale determinieren soziale Mobilität, insoweit sie als Ausschließungskriterien fungieren.

48 Bei mehrstufigen Klassenschemata stehen dabei in der Regel zwar einige, aber nicht alle Klassen in einem hierarchischen Verhältnis zueinander. In Goldthorpes Schema zum Beispiel ist die Dienstklasse zwar besser gestellt als etwa die unqualifizierten Arbeiter, aber zwischen den

"routine non-manuals" und den "supervisors" ist eine hierarchische Beziehung nicht unbedingt gegeben.

2.5.1 Ungleichheit und soziales Handeln

Welche Auswirkungen hat nach der Reproduktionsthese die Verortung der Individuen in das System der Ungleichheit auf deren Denken und Handeln?

Zur Beantwortung dieser Frage muß man sich zunächst vergegenwärtigen, daß individuelle

Merkmale nicht wie aus der Perspektive der Industrialisierungsthese als Indikatoren für persönliche Eigenschaften und Qualifikationen, sondern vielmehr als äußerliche, objektive Merkmale, aufgefaßt werden, die Gruppenzugehörigkeiten indizieren. Diese Gruppen kämpfen um Vorteile auf dem Markt und versuchen Monopole dadurch zu erreichen, daß sie Angehörige anderer Gruppen von der Konkurrenz um Ressourcen ausschließen.

Das hat aber weitreichende Konsequenzen für die Konzeption des Mikro-Makro-Links unter den Annahmen der Reproduktionsthese. Denn die drei wesentlichen Elemente dieses Links stellen sich aufgrund der Objektivität der Zuweisungsmerkmale ganz anders dar als unter den Annahmen der Industrialisierungsthese.

(1) Wenn die Zuweisung von Personen auf Positionen nach äußeren, objektiven Merkmalen vorgenommen wird, dann lassen sich prima facie kollektive soziale Lagen identifizieren. Persön-liche, individuelle Unterschiede zwischen Personen sind für deren Erfolg oder Mißerfolg im System der Ungleichheit völlig ohne Belang; es ist das sichtbare, äußere, objektive

Ausschlie-ßungskriterium, das ihre Situation definiert. Und jedes Individuum mit dem gleichen Merkmal - alle Männer, Frauen, Schwarze, Weiße, Klassenangehörige - befinden sich in der gleichen Situation.

Mit anderen Worten: Ausschließungsmerkmale definieren "leere Stellen" im Sinne Sørensens (1991:6), die Bevor- und Benachteiligungen unabhängig von den persönlichen Eigenschaften derer, die diese Stellen besetzen, mit sich bringen. Unter diesen Bedingungen ist es aber wahr-scheinlich, daß mit der Besetzung bestimmter Positionen auch klar definierte Interessen hinsicht-lich der Verbesserung - oder der Beibehaltung - der sozialen Lage verbunden sind. Die Besetzer der günstigen Positionen werden versuchen, die geltenden Schließungsregeln und Verteilungs-ordnungen beizubehalten, während die ausgeschlossenen daran interessiert sein dürften, diese zu ändern. Insofern solche Interessen mit der Besetzung von Positionen in der Struktur der Un-gleichheit einhergehen und unabhängig von individuellen Eigenschaften sind, handelt es sich um strukturelle Interessen.

(2) Individuelle Anstrengungen und Leistungen bieten keine guten Chancen, die eigene soziale Lage zu verändern. Wenn die soziale Situation vor allem und zuerst der Rassenzugehörigkeit zu verdanken ist, dann kann sie durch individuelle Anstrengungen nicht verbessert werden: Die Hautfarbe läßt sich nicht ändern. Das gleiche gilt für andere Ausschließungsmerkmale. Soziale Klassen werden ungleichheitsrelevant, insoweit Klassengrenzen nicht durch eigene Anstrengungen überschritten werden können.

Die Verbesserung der eigenen sozialen Position ist dann nur auf zwei Wegen denkbar. Zum einen versucht man die Belohnung, die eine Gruppe mit einem bestimmten Schließungsmerkmal erhält, zu erhöhen, und damit das Ausmaß der Privilegierung zu steigern beziehungsweise die Benach-teiligung zu vermindern. Das ist aber nicht für einzelne Individuen möglich - entweder gelingt allen oder keinem. Nur kollektives Handeln kann an der Änderung der Alimentierung von sozialen Gruppen etwas ändern. Ein Beispiel hierfür sind Streik oder Aussperrung (kollektives bargaining).

Zum andern kann man versuchen, die Ursache der Bevor oder Benachteiligung abzuschaffen -oder aber die Grundlage für neue Privilegierungen zu schaffen. Dies ist aber nur durch die Änderung der Schließungsmodi selbst möglich: sei es durch reformerische Einführung oder Abschaffung von Privilegierungen (zum Beispiel Professionalisierung) oder durch revolutionäre Umgestaltung der Verteilungsordnung. Beides sind notwendigerweise kollektive

Hand-lungsstrategien.

(3) Die Einordnung von Personen in das System der Ungleichheit wie die Zuordnung von Belohnungen gerät leicht in Legitimationsschwierigkeiten. Die Allokation von Personen auf Positionen aufgrund ihres Geschlechts, ihrer ethnischen Zugehörigkeit oder ihrer Herkunft ist gerade dann, wenn das Achievement-Prinzip, wie die Industrialisierungsthese annimmt, akzeptiert wird, nur schwer als gerechtfertigt zu begründen. Auch die Alimentierung einiger Gruppen durch andere dürfte kaum auf allgemeine Gegenliebe stoßen. Weder das Equityprinzip, noch das Bedarfsprinzip, und schon gar nicht das Gleichheitsprinzip können einen solchen Verteilungs-mechanismus stützen.49

Strukturelle, in kollektiven Lagen gründende ökonomische Interessen, mangelnde Erfolgsaus-sichten individualistischer Handlungsstrategien und Legitimationsprobleme von Ascription- und Alimentierungsprinzipien machen kollektive Handlungsstrategien zur Verbesserung sozialer Lagen wahrscheinlich. So ist es nicht verwunderlich, daß im Rahmen der Reproduktionsthese die

Erklärung kollektiven Handelns eine wichtige Rolle spielt. So befaßt sich Parkin mit Fragen der Vergemeinschaftung aufgrund der durch Ausschließungsmechanismen definierten Klassen (Parkin 1979:68-69), mit der Prägung politischen Handelns der durch den Besitz von ökonomischen Kapitals beziehungsweise von Credentials definierten Fraktionen der "dominanten Klasse" (Parkin 1979:58). Bourdieu (1988) untersucht ausführlich mit der Frage, wie Geschmack und damit Lebensstile durch die Klassenlage geformt werden. Wright, Howe und Cho (1989) befassen sich gezielt mit der Ausbildung des Klassenbewußtseins.50

Goldthorpe ist gerade an den Folgen der sozialen Mobilität beziehungsweise Immobilität für kollektives Handeln und Klassenbildung interessiert51. Intergenerationale Stabilität - so die

Leitthese - ist für die Ausbildung einer Klassenidentität eine wesentliche Voraussetzung. Allerdings nimmt die direkte Untersuchung von subjektiven Folgen der Mobilität nur einen vergleichsweise kleinen Raum in seinen Untersuchungen ein (zum Beispiel Goldthorpe 1987: 175-150). Doch zentral für seine Studien ist die Annahme, daß erst ein längerer Verbleib in derselben Klasse die

49 Nach der Schließungstheorie ist für die Frage der Legitimierung von Verteilungs- und Allokationsprinzipien die Unterscheidung zwischen individualistischen und kollektivistischen Ausschließungspraktiken relevant. Vor allem kollektivistische Ausschließungskriterien sind problematisch, individualistische werden weitgehend als legitim akzeptiert: "Individualist criteria of exclusion, such as credentials, experience, property laws governing capitalist market competition, and rules governing advancement in bureaucratic hierachies, including that of Communist party, came to be accepted as more legitimate than collectivist exclusionary criteria with the development of formal rationalization, because the former are believed to be based on individual

accomplishment and to be the means of attaining material goals" (Murphy 1988: 220).

Allerdings beruht die Legitimierung individualistischer Ausschließungspraktiken letztlich auf einer falschen Wahrnehmung der Mechanismen sozialer Ungleichheit. Denn die Legitimität dieser Kriterien gründet in der Annahme, daß Ungleichheit auf persönlichen Kriterien wie Anstrengung beruhe und daß solche Mechanismen der Ungleichheit dem Wohle aller zuträglich seien. "Im Zentrum der liberalen Haltung steht die Überzeugung, daß Ausschließungsregeln nur dann gerecht sind, wenn es mit ihrer Hilfe wirklich gelingt, Individuen nach Leistungen und Fähigkeiten zu bewerten, die nicht bloßes Resultat ihrer sozialen Herkunft sind" (Parkin 1983: 128). Dies übersieht aber den Aspekt der Macht, der sich hinter der Etablierung solcher Kriterien als Instanzen für allokative Zuweisungen verbirgt. "The acceptance of all types of exclusion [kollektivistische wie individualistische] from positions, rewards, resources, and opportunities is inherently problematic because exclusion involves domination". Legitimierung von Ausschließung führt geradezu zur Verkennung der der Schließung unterliegenden Machtbeziehungen "It is especially at times when an exclusionary code is viewed as legitimate and necessary that its nature as a means of

domination is most easily misperceived" (Murphy 1988:48). Es ist das Verdienst der

Schließungstheorie, diese Machtaspekte aufzudecken, das heißt Ausschließung als solche erst sichtbar zu machen und die Legitimität aller Schließungen in Frage zu stellen.

50 Für einen Vergleich des Wrightschen Klassenmodells mit anderen Klassenmodellen hinsichtlich der Prognosefähigkeit für die Ausbildung eines Klassenbewußtseins siehe Erbslöh, Hagelstange, Holtmann, Singlemann und Strasser (1990).

51 Hier bekennt sich Goldthorpe sogar zu einer "marxisant" Perspektive (Goldthorpe 1987:28).

Ausbildung einer "demographischen Identität"52 ermöglicht. Die zeitliche Permanenz der Klassenlage ist notwendige Voraussetzung der Klassenbildung und des kollektiven Handelns.

Goldthorpe hat verschiedentlich darauf hingewiesen, daß die Arbeiterklasse in der späten

Industrialisierungsphase allen Verbürgerlichungsargumenten zum Trotz sich durch eine distinktive demographische Identität auszeichnet. Ihr Lebensstil ist einheitlich, und wenn nicht von den intermediären Klassen, so doch von der Dienstklasse deutlich getrennt (Goldthorpe 1987:344).

Auch die "dealignment"- These hinsichtlich des Wahlverhaltens wies er zurück: Der Mißerfolg der Labour-Partei in Großbritannien sei keineswegs auf eine Lockerung der Bindung der Arbeiter an diese Partei, sondern lediglich durch das Schrumpfen der Arbeiterklasse zu erklären (Goldthorpe 1987:346ff; 1990:425-430). Die Dienstklasse, noch sehr heterogen, aber mit einer steigenden Selbstrekrutierungsrate, ist eine Klasse "in statu nascendi" (Goldthorpe 1987:341), die sich hin zu einer konservativen Kraft entwickelt, die den Staus quo halten will.53

In der Auseinandersetzung mit Vertretern der Industrialisierungsthese weist Goldthorpe auch immer darauf hin, daß diese in hohen Mobilitätsraten und der Offenheit von Gesellschaften ein stabilisierendes, legitimierendes Moment sehen (vgl. Goldthorpe 1987: Kapitel 1). Dieser These stimmt Goldthorpe wohl auch zu.54 Andererseits besteht seine ganze Arbeit gerade darin zu zeigen, daß diese Offenheit eben nicht gegeben ist und weist auf diese Weise auf vorhandene Legitimitätsdefizite hin. In diesem Zusammenhang sind natürlich die relativen Mobilitätsraten ausschlaggebend, die die unveränderte Geschlossenheit von Gesellschaften demonstrieren.

2.5.2 Bildungstitel als Auschließungskriterien

Die Industrialisierungsthese versteht Bildung als Mittel der Qualifizierung für berufliche Tätigkeiten.

Sie bildet die Fähigkeit der Individuen aus, funktional wichtige Aufgaben zu erfüllen. "Fähigkeiten"

und "Qualifikation" sind aber sehr subjektive, persönliche Eigenschaften, die von Mensch zu Mensch höchst unterschiedlich ausgeprägt sein können und in der Regel auch sind. Daher ist es nicht verwunderlich, daß im Rahmen der Industrialisierungsthese im Zusammenhang mit Bildung kollektive soziale Lagen und kollektives Handeln nicht diskutiert werden.

Diese Fragestellung kommt dann ins Spiel, wenn Statuszuweisungen aufgrund von objektiven, äußeren Ausschließungskriterien vorgenommen werden, die durch individuelles Handeln nicht beeinflußbar sind. Im Rahmen der Schließungstheorie werden Bildungstitel als solche Merkmale interpretiert.

Bourdieu bringt dies deutlich auf den Punkt. Es ist die "Objektivierung von inkorporiertem Kulturkapital in Form von Titeln" (Bourdieu 1983:189, Hervorhebung M.G.), die das inkorporierte Kulturkapital zu "institutionalisiertem Kulturkapital" werden läßt, wodurch sich Bildung quasi von ihrem Träger löst. Titel sind "...schulisch sanktioniert und rechtlich garantiert", sie gelten

"unabhängig von der Person ihres Trägers". "Der schulische Titel ist ein Zeugnis für kulturelle Kompetenz, das seinem Inhaber einen dauerhaften und rechtlich garantierten konventionellen Wert überträgt"(Bourdieu 1983:190).

52 Darunter versteht er "the degree to which they have formed as collectivities of individuals and families, identifiable through the continuity of their association with particular sets of class positions over time" (Erikson und Goldthorpe 1992a:226).

53 Für eine Übersicht über die Haltekraft und den Heterogenitätsgrad der Klassen in verschiedenen Ländern vgl. Erikson und Goldthorpe (1992a:225).

54 Die Erreichung einer offenen Gesellschaft, in der Klassen als handelnde Kollektive verschwinden würden, ist für Goldthorpe ein durchaus wünschenswertes Ziel (Goldthorpe 1987:28).

Bildung wird also nicht mehr mit Qualifikation gleichgesetzt, einer "inneren", persönlichen Qualität.

Das Augenmerk der Reproduktionsthese richtet sich vielmehr auf den Bildungstitel, das verbriefte Zertifikat, das nicht als "inneres", subjektives Merkmal zu verstehen ist, sondern eine von

Individuen völlig unabhängige Realität innehat und insofern als äußeres, objektives Merkmal zu verstehen ist. Diese Zertifikate verbürgen ein Anrecht auf eine spezifische soziale Position, das in institutionalisierten Zuweisungsverfahren verankert ist. Der Anrechtscharakter von Bildungstiteln schwingt auch, wie wir sahen, in dem Parkinschen Begriff des "Credential" mit.

Durch die Vorstellung von Credentials als qualifikationsunabhängige Anrechte auf Besetzung von Positionen werden Bildungsabschlüsse als Askriptionsmerkmale interpretiert. Bildungsabschlüsse können nur dann als Achievementkriterien fungieren, wenn sie unmittelbar Qualifikationen

indizieren. Nur dann ist sichergestellt, daß mit der Vergabe von Positionen an Individuen mit adäquaten Bildungstiteln auch gewährleistet ist, daß die "richtigen" Personen die "richtige" Stelle gefunden haben. Wenn Bildungsabschlüsse als qualifikationsunabhängige Anrechte zu sehen sind, ist es durchaus möglich, daß befähigte Personen keine adäquate Stelle erhalten, weil ihnen der Titel fehlt, oder umgekehrt, daß unqualifizierte Personen eine Stelle erhalten, nur weil sie einen entsprechenden Titel haben. Die funktionalistische Unterstellung leistungsgerechter Allokation trifft dann nicht zu.

Bildungstitel können auch nur bedingt durch individuelle Anstrengungen verändert werden.

"Qualifikation" ist ein inhärent kontinuierliches Konstrukt; Qualifikationen sind graduell veränderbar - zum Beispiel durch stetig zunehmende Berufserfahrung. Titel hingegen hat man oder hat man nicht. Sie werden im Schulsystem erworben. Der Erwerb zusätzlicher Titel außerhalb des Bildungssystems, nach Eintritt ins Erwerbsleben - etwa durch Abendschulen - ist möglich, spielt aber in der Regel nur eine untergeordnete Rolle.

Titel bezeichnen schließlich Gruppenzugehörigkeiten: Die Zugehörigkeit zu einer Gruppe privilegierter Titelträger und nicht individuelle, subjektive Qualifikation definieren die Lebens-chancen eines Individuums.55

Natürlich sind Bildungstitel auch unter den Annahmen der Reproduktionsthese nicht vollkommen von beruflichen Fertigkeiten unabhängig. Der Begriff "Credential" beinhaltet ja gerade, daß man darauf vertraut, daß der Credential-Besitzer über die von ihm erwarteten Fertigkeiten verfügt. Die Behauptung, daß es einen Konnex gibt zwischen Titel und beruflicher Kompetenz, ist eine immer wieder vorgebrachte Begründung zur Institutionalisierung von Bildungstiteln als

Zugangs-voraussetzungen zu bestimmten Berufen. Würde sich wiederholt erweisen, daß die Titelbesitzer über keinerlei relevante Qualifikationen verfügen, könnte diese Institutionalisierung nicht aufrecht erhalten werden.

Realiter läßt sich damit die Gegenüberstellung von "Titel als Qualifikationsbeweis" einerseits und

"Titel als Schließungsmerkmal" andererseits nicht halten. "Credentials" haben immer auch etwas

55 Daß Bildungstitel nicht unbedingt als frei zugängliche, Achievement-garantierende

Qualifikationsindikatoren aufzufassen sind, machen auch die genannten Mobilitätsstudien deutlich.

Denn erstens sind Bildungstitel nicht nach Belieben zu erreichen. Alle Ansätze der

Reproduktionstheorie betonen, daß die Chancengleichheit des Bildungserwerbs keineswegs gewährleistet ist. Der Erwerb von Bildungstiteln ist auch in modernen Industriegesellschaften statusabhängig. Zweitens schränken Bildungstitel als Credentials soziale Mobilität eher ein als daß sie sie fördern. Die Notwendigkeit des Besitzes von Credentials zur Ausübung bestimmter

beruflichen Tätigkeiten verwehrt allen Nichtbesitzern dieser Credentials den Zugang zu diesen Berufspositionen und damit den Statuswechsel durch Karrieremobilität. In der Summe führt die enge Korrelation zwischen Herkunft und Bildungserwerb einerseits, zwischen Bildungstitel und Berufsstatus andererseits zu einer Reproduktion des sozialen Status in der Generationenfolge:

Status wird zugeschrieben und ist nicht aus eigener Kraft beliebig erreichbar.

mit Qualifikationen zu tun56. Die Rede von Bildungstiteln als Credentials betont zwar den qualifikationsunabhängigen Anrechtscharakter von Bildungstiteln, muß aber deren Qualifika-tionsfunktion immer mit berücksichtigen. Empirisch kann der Zusammenhang zwischen Bil-dungstitel und Qualifikation je nach gegebenen Bedingungen variieren und ist von Fall zu Fall zu bestimmen. Der Aufbau des Bildungssystems einerseits und die Performanz der Individuen im Bildungssystem andererseits prägen diesen Zusammenhang entscheidend.57 Vor allem aber bieten Credentials eine Kopplung zwischen Bildung und Beschäftigungssystem, die über die rein auf Qualifikation beruhende hinausgeht. Institutionalisierte Allokationsregeln, die sich nur auf das Vorhandensein von Titeln beziehen, schaffen stabile Korrespondenzen zwischen Bildungs- und Beschäftigungssystem, die nicht mehr nur durch hinsichtlich der erforderlichen Qualifikationen adäquate Stellungsbesetzungsvorgänge erklärt werden können.58

Konzeptionell aber ist die Unterscheidung der beiden Aspekte von Bildungsabschlüssen von enormer Bedeutung innerhalb der Brückenthesen. Insoweit Bildung Qualifikationsindikatoren sind, sind sie Austauschmittel auf dem Markt und fungieren als Achievementkriterien. In dem Maße, in dem sie nur relevante Qualifikationen verbürgen, können sie keine Privilegien im Sinne der Alimentierung begründen - und damit auch nicht als Erklärungsfaktor kollektiven Handelns dienen.

Nur insoweit Bildungstitel als Credentials dienlich sind, bilden sie Allokationshemmnisse, begründen Vorteile und können Ausgangspunkt für kollektives Handeln sein.59

Die Berücksichtigung von Bildung im Rahmen der Reproduktionsthese hat somit immer sowohl einen qualifikatorischen als auch einen "Rechts-" Aspekt, einen individualistischen wie struk-turalistischen. Der Begriff "Credential" vereint beide Aspekte. Bildungstitel sind aber als Element der Klassenbildung und der Erklärung des kollektiven Handelns nur insoweit von Interesse, als der strukturalistische Aspekt der Allokation von Individuen auf Positionen anhand von Bildungstiteln zur Geltung kommt. Parkins Bezeichnung der Ausschließung anhand von Bildungstiteln als

"individualistische" Schließung wird meines Erachtens dem Bezug der strukturalistischen

Komponente der Bildungstitel zu kollektivem Handeln nicht gerecht. Er berücksichtigt damit zwar den individualistischen Aspekt der Bildung, aber wenn die Ausschließung via Bildungstitel eine reine individualistische Angelegenheit ist, ist nicht zu sehen, wie und warum der Besitz von Bildungstiteln Klassenhandeln begründet.

Anders als Parkin möchte ich es daher vermeiden, die Spannung zwischen individualistischer und strukturalistischer Funktion von Bildungstiteln allzu schnell zu einem Pol hin aufzulösen. Die These, die im Folgenden entwickelt wird, zielt vielmehr darauf ab, daß Bildungstitel nach ihrer

Allokationsfunktion auf einem Kontinuum zwischen diesen beiden Polen einzuordnen ist, und daß diese Einordnung von den Bildungssystemen abhängt, die diese Titel produzieren, und damit zwischen Gesellschaften variiert. Wenn von "Credentials" die Rede ist, beinhaltet dies zwar durchaus, daß Bildungstitel Qualifikationsindikatoren darstellen, gemeint ist aber in erster Linie ihr

56 Umgekehrt ist es schon eher möglich, daß Bildungstitel nur Qualifikation indizieren, ohne irgendeinen Anrechtscharakter zu haben.

57 Vgl. Kapitel 4.

58 Hierzu mehr in Kapitel 3. Deutlich wird die Variabilität des Zusammenhangs zwischen

Bildungstitel und beruflicher Qualifikation, wenn es zum Beispiel Berufsverbänden gelingt, die Zahl

Bildungstitel und beruflicher Qualifikation, wenn es zum Beispiel Berufsverbänden gelingt, die Zahl