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Hypothesen: Der Einfluß von Bildungssystemen auf intragenerationale Mobilität und die Strukturierung von Einstellungen

Im Dokument Bildungssysteme und soziale Ungleichheit (Seite 187-193)

Bildungssysteme, intragenerationale Mobilität und Strukturierung sozialen Handelns in sechs Ländern: Hypothesen

5.3 Hypothesen: Der Einfluß von Bildungssystemen auf intragenerationale Mobilität und die Strukturierung von Einstellungen

Im Folgenden werden die am Ende des vierten Kapitel aufgestellten allgemeinen Hypothesen hinsichtlich des Einflusses von Bildungssystemen auf die Muster intragenerationaler Mobilität und die Strukturierung sozialen Handelns näher spezifiziert und möglichst konkrete Prognosen für die einzelnen Länder getroffen.

5.3.1 Die Prognoseziele: Das Niveau des Credentialismus und Klassenbarrieren

Sowohl hinsichtlich der Muster intragenerationaler Mobilität als auch hinsichtlich der Strukturierung von Einstellungen lassen sich zwei Arten von Prognosen treffen: Zum einen ist das Niveau des Credentialismus in den verschiedenen Ländern von Interesse, zum anderen spezifische,

besonders wichtige Barrieren zwischen den Klassen, die durch charakteristische "Ties" zwischen Bildungs- und Beschäftigungssystem konstituiert werden.

Hinsichtlich der intragenerationalen Mobilität drückt sich das Niveau des Credentialismus in zweierlei Weise aus. Das Niveau des Credentialismus ist hoch, wenn einerseits das Ausmaß der intragenerationalen Mobilität gering ist und andererseits Bildung sich als wichtige Determinante des Mobilitätsprozesses erweist. Vor allem sollte Bildung wichtiger sein als andere Merkmale des Befragten, die durch die Kovariaten erfaßt werden.

Hinsichtlich der Wahrnehmung und der Beurteilung sozialer Ungleichheit interessiert, welchen Einfluß Klassenlage einerseits, Bildung andererseits auf die Einstellungsvariablen haben. In credentialistischen Ländern ist zu erwarten, daß Bildung und Klassenlage individuelle Einstel-lungen stark beeinflussen, insbesondere wiederum stärker als die Kovariaten.

Die Untersuchung der Mobilitätsmuster hat im Rahmen der hier vorgestellten Hypothesen eine doppelte Funktion: Zum einen ist intragenerationale Mobilität als Explanandum zu betrachten, da

222 Für eine ähnliche Operationalisierung des Etatismus vgl. Liebig und Wegener (1995), Wegener und Liebig (1995a).

wir einen unmittelbaren Einfluß der Bildungssysteme auf Mobilitätsmuster erwarten. Zum anderen aber sind die Mobilitätsmuster auch Indikatoren sozialer Schließung und in Folge dessen in gewisser Weise Explanans für die Einstellungsvariablen: Je mehr Individuen in (geschlossenen) Positionen verharren, desto deutlicher sollte ihre Wahrnehmung und Beurteilung sozialer Un-gleichheit durch ihre Stellung im Stratifikationssystem beeinflußt werden. Auf jeden Fall laufen die Hypothesen für beide Bereiche parallel: Je höher das Niveau des Credentialismus ist, desto stärker sollte der Klassen- beziehungsweise Bildungseinfluß auch auf die Einstellungsvariablen sein.

Daher werden Hypothesen für die beiden Bereiche nicht separat aufgestellt; hohes Niveau des Credentialismus meint sowohl niedrige, durch Bildung strukturierte intragenerationale Mobilität als auch hohe Bedeutung der sozialen Lage für die Einstellungsvariablen. Es bleibt natürlich offen, ob diese Parallelität empirisch nachgewiesen werden kann.

Ebenso wie für die Beurteilung der Bildungssysteme hinsichtlich ihrer Ausprägungen auf den Dimensionen gibt es für die Beurteilung eines "Credentialismus"-Niveaus keine allgemeinen Standards, wir können nur Mutmaßungen darüber äußern, daß das Niveau des Credentialismus in einigen Länder höher ist als in anderen. Wie erwähnt werden dabei die ehemals sozialistischen Länder und die kapitalistischen Länder zunächst als zwei separate Gruppen behandelt.

In manchen Fällen läßt die Struktur der Bildungssysteme Vermutungen über spezifische Ties zwischen Bildungs- und Beschäftigungssystem zu, die wiederum zur Abschottung bestimmter beruflicher Gruppen führen können. Wenn etwa sehr spezifische Bildungstitel angeboten werden, wie etwa der "Gesellenbrief", dann ist anzunehmen, daß diese Bildungstitel besonders eng mit bestimmten beruflichen Gruppen verbunden sind. Ohne diese Titel ist wiederum keine intragene-rationale Mobilität in eine solche Gruppe möglich: Sie ist scharf von anderen beruflichen Positionen abgegrenzt. Auf dem hier notwendigen hohen Aggregationsniveau - nur vier Klassen beruflicher Positionen werden unterschieden - sind solche Prognosen allerdings nur sehr eingeschränkt möglich.

5.3.2 Das Niveau des Credentialismus in den einzelnen Ländern

Das Credentialismusniveau läßt sich relativ leicht vorhersagen, wenn die Ausprägungen der Bildungssysteme auf den Dimensionen konsistent sind. Das ist für die Bundesrepublik, die DDR, die USA und Polen der Fall.

In Polen, der Bundesrepublik und der DDR sind die Bildungssysteme konsistent in hohem Maße nicht nur standardisiert und stratifiziert, sondern auch horizontal und vertikal differenziert. Auf jeweils einer Dimension finden wir nur ein mittleres Niveau. Unterschiede in dieser Weise lassen zwar unterschiede in den wichtigen Klassenbarrieren erwarten (siehe unten), aber hinsichtlich des Niveaus des Credentialismus sollten die "Defizite" einer Dimension durch die hohen Ausprägungen auf den anderen Dimensionen substituiert werden, so daß wir in diesen drei Ländern ein

außerordentlich hohes Maß des Credentialismus finden sollten.

H1: In Polen, der DDR und der BRD ist ein hohes Maß des Credentialismus zu erwarten. Das bedeutet im einzelnen

• eine enge Kopplung zwischen Bildungs- und Beschäftigungssystem

ein niedriges Ausmaß an intragenerationaler Mobilität

eine starke Strukturierung des Mobilitätsprozesses durch Bildungszertifikate

eine starke Strukturierung von Einstellungen durch Bildung und Klassenlage.

Die USA verfügt über ein konsistent niedrig standardisiertes, stratifiziertes und differenziertes Bildungssystem. Daher ist hier das niedrigste Niveau des Credentialismus zu erwarten.

H2: In den USA ist das Niveau des Credentialismus niedrig. Das bedeutet

• eine lockere Kopplung zwischen Bildungs- und Beschäftigungssystem

• ein hohes Ausmaß an intragenerationaler Mobilität

• eine geringe Strukturierung des intragenerationalen Mobilitätsprozesses durch Bildungs-zertifikate; daß heißt

* der Mobilitätsprozeß ist grundsätzlich wenig strukturiert und kann nicht durch Merkmale der Arbeitsmarktsstruktur oder durch individuelle Merkmale erklärt werden oder

* der Mobilitätsprozeß ist strukturiert, aber Merkmale der Arbeitsmarktstruktur oder individuelle Charakteristiken sind wichtiger als Bildungstitel

eine geringe Strukturierung von Einstellungen durch Bildung und Klassenlage; das heißt:

* Einstellungen sind in den USA eher als individualistisch aufzufassen und können weder durch Bildung, Klassenlage oder andere strukturelle wie individuelle Merkmale erklärt werden ("individualisierte Gesellschaft") oder

* Einstellungen werden mehr durch individuelle Merkmale oder Merkmale der Arbeits-marktsstruktur beeinflußt als durch Bildungstitel oder Klassenpositionen.

Rußland einerseits, Großbritannien andererseits nehmen gewissermaßen Mittelpositionen ein. Das Bildungssystem Großbritanniens hat auf allen Dimensionen ein mittleres Niveau, in Rußland gehen ein hohes Maß an Standardisierung Hand in Hand mit einem geringem Maß an Stratifizierung und vertikaler Differenzierung und mit einem allenfalls mittleren Niveau der horizontalen

Differenzierung. Allerdings ist zu beachten, daß Rußland innerhalb der ehemals sozialistischen Länder das insgesamt am geringsten strukturierte Bildungssystem aufweist, so daß sich trotz ähnlicher Mittelage der Bildungssysteme zwei unterschiedliche Hypothesen ergeben:

H3A: In Großbritannien ist das Niveau des Credentialismus innerhalb der kapitalistischen Länder auf einer mittleren Ebene. Sowohl hinsichtlich der Kopplung zwischen Bildungs- und

Beschäftigungssystem, des Ausmaßes und der Strukturierung intragenerationaler Mobilität wie auch hinsichtlich der Strukturierung von Einstellungen durch Bildung und Klassenlage ist ein mittleres Niveau zwischen der USA einerseits und der BRD andererseits zu erwarten.

H3B: Rußland weist innerhalb der ehemals sozialistischen Länder das geringste Niveau des Credentialismus auf. das Niveau der intragenerationalen Mobilität ist höher als in Polen und der DDR, Bildung ist weniger wichtig für den Mobilitätsprozeß, und Bildung und Klassenlage strukturieren Einstellungen weniger als in diesen beiden Ländern.

Die Ausprägungen der Bildungssysteme der Länder und die vermuteten Auswirkungen auf das Niveau des Credentialismus sind in Tabelle 5.15 zusammengestellt.

Table 5.15: Einstufung der Bildungssysteme und Hypothesen

Land Standar di-sierung

Stratifizi erung

vertikale Differen zierung.

Horizont ale Differen zierung

Niveau des Credenti alismus

Besondere Barrieren

Polen o obere Angestellte - untere

Angestellte

untere Angestellte - qualifizierte Arbeiter

DDR o obere Angestellte - untere

Angestellte

qualifizierte Arbeiter - unqualifizierte Arbeiter

BRD o unqualifizierte Arbeiter - qualifizierte

Arbeiter

Rußland -- -- --/o B/o

--

Groß-britannien o o o o o

--USA -- -- -- -- --

---- geringes Niveau o mittleres Niveau + hohes Niveau

5.3.3 Klassenbarrieren

Aus der Struktur der Bildungssysteme lassen sich Hypothesen darüber ableiten, welche Bildungs-titel besonders wichtig sind für den Zugang zu bestimmten beruflichen Gruppen, die dann

vergleichsweise stark gegen andere Gruppen abgeschottet werden. Diese Abschottung sollte einerseits in Mobilitätsbarrieren deutlich werden, andererseits aber auch in der Strukturierung von Einstellungen. Diesbezügliche Hypothesen können vor allem für die credentialistischen Länder getroffen werden; in den nichtcredentialistischen sollten sich klare Klassenbarrieren ja gerade nicht zeigen.

Im Rahmen des hier betrachteten vierstufigen Klassenmodells sind vor allem drei Barrieren interessant: Die zwischen oberen und unteren Angestellten, zwischen unteren Angestellten und qualifizierten Arbeitern und zwischen qualifizierten Arbeitern und unqualifizierten Arbeitern.

Qualifizierte Arbeiter und untere Angestellte befinden sich auf einem ähnlichen Statuslevel. Der Unterschied zwischen den beiden Gruppen ist vor allem ein qualitativer, der durch unterschiedliche sozialrechtliche Stellung (dies vor allem in den deutschen Staaten) und die Art der Tätigkeiten (manuell vs. nichtmanuell) gekennzeichnet ist.

Obere Angestellte und untere Angestellte unterscheiden sich hingegen eher quantitativ: von Arbeitsmarktsituation und Art der Tätigkeit ähnlich, differieren die beiden Gruppen vor allem im Anforderungsprofil - und in den Entlohnungen. Ähnliches gilt für die Unterscheidung zwischen qualifizierten und unqualifizierten Arbeitern.

Die verschiedenen Dimensionen der Bildungssysteme sollten in unterschiedlicher Weise auf diese Barrieren auswirken. Ein hoher Stratifizierungsgrad sollte sich vor allem in einer scharfen

Abgrenzung der oberen Angestellten von den unteren niederschlagen. Eine starke vertikale Differenzierung verstärkt die Barriere zwischen (qualifizierten) Arbeitern und (unteren) Angestellten und eine starke horizontale Differenzierung die Barriere innerhalb der Arbeitergruppe, da bei ausdifferenzierter Berufsbildung die unqualifizierten Arbeiter von qualifizierten Stellen

ausgeschlossen werden. Gleichzeitig allerdings könnte die horizontale Differenzierung die Barriere zwischen Arbeitern und Angestellten verwischen, da mittlere Berufsbildung sowohl zu qualifizierten Arbeiterpositionen wie auch zu unteren Angestelltenpositionen führen kann.

Daraus ergibt sich, daß in Polen eine ausgeprägte Barriere zwischen Arbeitern und Angestellten zu erwarten ist, da das Bildungssystem hier stark vertikal, aber wenig horizontal differenziert ist. Der hohe Grad der Stratifizierung sollte sich auch in einer "Elitenbildung" im Sinne einer starken Barriere zwischen oberen und unteren Angestellten auswirken. Da in Ländern mit stratifizierten Bildungssystemen eher gute Chancen für gering Qualifizierte zu erwarten sind (die wenigen Träger höherer Zertifikate können nicht alle qualifizierten Positionen besetzen) und eine differenzierte Berufsbildung fehlt, ist eher keine deutliche Trennung zwischen qualifizierten Arbeitern und unqualifizierten Angestellten zu vermuten.

H4: In Polen dominieren die Barrieren zwischen

oberen Angestellten und unteren Angestellten und

• unteren Angestellten und qualifizierten Arbeitern.

Die Barriere zwischen unqualifizierten und qualifizierten Arbeitern sollte besonders in der BRD mit ihrem horizontal hoch differenzierten, aber weniger als in Polen stratifizierten Bildungssystem hervortreten. Elitenbildung ist eben wegen der geringeren Stratifizierung in der BRD vermutlich weniger ausgeprägt als in Polen (wenn auch gerade im Vergleich zu den weniger credentiali-stischen Ländern deutlich bemerkbar). Über die Arbeiter-Angestellten Barriere lassen sich keine klaren Hypothesen aufstellen, da wegen der horizontalen Differenzierung eine eindeutige Zu-ordnung von Credentials zu den beiden "mittleren" Arbeitnehmergruppen nicht getroffen werden kann. Andererseits führt gerade die horizontale Differenzierung zu einer hohen intragenerationalen Stabilität und die Barriere zwischen Arbeitern und Angestellten wird durch die hohe vertikale Differenzierung gestärkt; es bleibt abzuwarten, wie die beiden gegenläufigen Effekte sich auswirken.

H5: In der BRD dominiert die Barriere zwischen qualifizierten und unqualifizierten Arbeitern.

Die Form des Credentialismus der DDR dürfte der der BRD sehr ähnlich sein. Auch hier ist die Barriere zwischen qualifizierten Arbeitern und unqualifizierten Arbeitern äußerst wichtig. Die Arbeiter-Angestellten-Trennung sollte noch weniger als in der BRD hervortreten, da das Bil-dungssystem der DDR weniger vertikal differenziert ist, andererseits aber könnte aufgrund der stärkeren Stratifizierung im oberen Bereich des Bildungssystems die Elitenbildung eher stärker ausgebildet sein: Die Barriere zwischen oberen und unteren Angestellten sollte eher deutlicher ausgeprägt sein als in der BRD.

H6: In der DDR dominieren die Barrieren zwischen

• oberen Angestellten und unteren Angestellten und

• qualifizierten und unqualifizierten Arbeitern.

In den weniger credentialistischen Länder sind gerade keine klare Klassenbarrieren zu erwarten, insofern lassen sich hier über die Form der Strukturierung keine nähere Hypothese treffen.

Allenfalls in Rußland ließe sich die in Abschnitt (4.2.4.1) dargelegte Tendenz zur "Schließung nach unten" in Ländern mit standardisierten, aber unstratifizierten Bildungssystemen vermuten. Die erwarteten besonders wichtigen Barrieren sind ebenfalls in Tabelle 5.15 aufgeführt.

Kapitel 6:

Offene Arbeitsmärkte oder Systeme geschlossener Positionen? Ausmaß und

Im Dokument Bildungssysteme und soziale Ungleichheit (Seite 187-193)