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Gründe für den gesellschaftlichen Relevanzverlust der CDU/CSU und SPD CDU/CSU und SPD

4 Mitgliederparteien in der Nachwuchskrise

4.2 Gründe für den gesellschaftlichen Relevanzverlust der CDU/CSU und SPD CDU/CSU und SPD

Im Folgenden soll zwischen allgemeinen und spezifischen Gründen für den Mitgliederschwund sowie die volatilen Eintrittszahlen unterschieden werden.

Allgemeine Gründe umfassen den gesellschaftlichen Wandel, der nicht nur Parteien, sondern auch andere Großorganisationen mit langfristig angelegten Mitgliedschaften betrifft. Spezifische Gründe sind solche, die für die jeweili-ge zu betrachtende Partei jeweili-gelten können. So ist zu konstatieren – wie an den oben genannten Zahlen deutlich erkennbar –, dass die deutschen Parteien in unterschiedlichem Maße unter dem Mitgliederverlust leiden. Parteien wie die

Grünen oder die AfD verzeichnen einen Mitgliedergewinn, womit verallge-meinerbare Gründe zum Mitgliederschwund aller im Parteiensystem auf parlamentarisch-gouvernementaler Ebene agierenden Parteien nicht auszu-machen sind69. Werden die Grünen sowie die AfD aus der Betrachtung als

‚Mitgliedergewinner‘ ausgeklammert, bleibt immer noch die Problematik, dass es sich teilweise um Groß-, teilweise um Kleinparteien handelt, die zudem unterschiedliche Entstehungsgeschichten aufweisen. All dies er-schwert den Vergleich und lässt eine allgemeingültige Makro-Erklärung sowohl für den Mitgliederschwund als auch für die Volatilität in den Eintrit-ten, die für nahezu alle Parteien gelten kann, nicht zu.

Für die Großparteien SPD und CDU im Speziellen, die gleichermaßen dem Mitgliederschwund ausgesetzt sind, existieren jedoch tragfähige Erklä-rungen zum Mitgliederschwund, die sich aus dem gesellschaftlichen Wandel des 20. Jahrhunderts ergeben. Diesen zu beleuchten bedeutet, die Makro-Faktoren zum Parteibeitritt bzw. Nicht-Beitritt zu integrieren, die in Model-len wie dem CVM häufig zu kurz kommen70. Die Erosion der sozialmorali-schen Milieus sowie das Aufbrechen gesellschaftlicher Konfliktstrukturen sind hierbei als wesentliche Entwicklungen zu nennen. Mit den Erkenntnis-sen von Lipset und Rokkan (1967) können vier Konfliktlinien benannt wer-den, die die wesentlichen gesellschaftlichen ‚Gräben‘ in Westeuropa be-stimmten. Mit den hauptsächlichen Konfliktlinien Arbeit versus Kapital, Staat versus Kirche, Zentrum versus Peripherie und primärer versus sekundä-rer Sektor (bzw. Agrar- versus Industrieinteressen) ließ sich die Ausformung und das ‚Einfrieren‘ (von den 1920ern bis in die 1960er Jahre) der westeuro-päischen Parteiensysteme erklären.

Für Deutschland waren besonders der Sozialismus und der politische Ka-tholizismus als Ideologien bzw. Geisteshaltungen entlang der genannten Konfliktlinien relevant. Das katholische Milieu stand im mittleren und späten 19. Jahrhundert im Kampf gegen das bürgerlich-protestantische Preußen und seine „Hegemonialkultur“ (Wiesendahl 2011a: 163), was die Bildung der Zentrumspartei als politisches Sprachrohr zur Folge hatte. Auf der anderen Seite prägte der Klassenkonflikt die Ausbildung eines Arbeitermilieus, dem zumeist städtische Industriearbeiter und Handwerker angehörten, die durch die aufkommenden sozialdemokratischen Bewegungen und Parteien einge-fasst wurden (vgl. Wiesendahl 2011a: 163). „Neuestens wird diskutiert, ob der Gegensatz Ökonomie versus Ökologie ein zusätzliches fünftes cleavage darstellt“ (Holtmann 2012: 41), an der sich ein umweltbewusstes Milieu

69 Wie an späterer Stelle in diesem Abschnitt gezeigt werden soll, kann dazu auch nicht die sogenannte Parteienverdrossenheit bemüht werden.

70 So bietet die Arbeit von Morales (2009) mit dem bereits erläuterten Konzept der POS eine sinnvolle Erweiterung zum CVM an, mit der gesellschaftlich-institutioneller Wandel zu ei-nem bestimmten Beobachtungszeitpunkt eingefasst und mit anderen Zeitpunkten verglichen werden kann.

ausbilden konnte, das auf parlamentarisch-gouvernementaler Ebene durch die Grünen repräsentiert wird71.

Dem Aufbruch dieser Milieus ging zuerst ihre Wiederherstellung nach dem Zweiten Weltkrieg voran. In seinen Studien zu den sozial-moralischen Milieus in der BRD zeigt Karl-Heinz Naßmacher (bspw. 1989) auf, dass diese nach dem Zusammenbruch des Dritten Reichs weitgehend wiederher-gestellt wurden und gegen Ende der 1960er Jahre bzw. zum Anfang der 1970er Jahre einem Wandlungsprozess unterworfen waren. Da seine Unter-suchungen sich nur auf die Region um Oldenburg beziehen, können jedoch keine repräsentativen Schlüsse daraus gezogen werden (vgl. von Oertzen 2014: 57).

Hilfreich sind daher die Untersuchungen der allgemeinen Bevölkerungs-struktur, um ein repräsentatives Bild zu zeichnen. Während sich der Anteil der Arbeiter an der deutschen Erwerbsgesellschaft von 57,2 Prozent im Jahr 1882 auf 27 Prozent im Jahr 2009 verringerte, hat sich in dieser Zeit der Angestelltenanteil verzehnfacht (vgl. Holtmannn 2012: 39; Wiesendahl 2011a: 164). Doch auch andere sozialstrukturelle Variablen haben sich ge-wandelt, begonnen mit einer höheren Lebenserwartung über steigende Ein-kommen bis hin zur „Erhöhung der formalen Bildungsabschlüsse“ (Bonß 1999: 217). Da die Parteien ihre Mitglieder zumeist aus den ihnen zugeordne-ten Milieus rekrutierzugeordne-ten (vgl. Jun 2009b: 237), – die SPD vor allem aus dem Arbeitermilieu, die CDU aus dem christlich-konservativen bzw. aus dem katholischen Milieu – bietet das Aufbrechen der sozial-moralischen Milieus für die ehemaligen Massenparteien vor allem ein strukturelles Rekrutierungs-problem.

Der Zerfall der sozial-moralischen Milieus beeinträchtigte maßgeblich die Übersetzung zwischen Sozialstruktur und Parteien, vor allem weil die Kon-fliktlinien zwischen Arbeit und Kapital sowie zwischen (katholischer) Kirche und Staat „für das deutsche Parteiensystem richtungsbestimmend“ (Wie-sendahl 2011a: 163) waren. Mithilfe der sozial-moralischen Milieus konnten sich Parteien „den Zugang zu der Milieuwählerschaft erschließen“ (Wie-sendahl 2011a: 163). Die kollektiven Identitäten, die in den Milieus entstan-71 Dennoch sind die genannten Clevages – vor allem Arbeit vs. Kapital und Kirche vs. Staat – heute noch in abgewandelter Form für die Forschung nutzbar. So werden Parteien auch ge-genwärtig noch auf einer Achse zwischen den Polen des sozialstaatlichen Interventionismus und der freien Marktwirtschaft auf der einen Seite (als Fortsetzung der Konfliktlinie Arbeit vs. Kapital) und einem libertären versus einem autoritären Pol auf der anderen Seite (als Fortsetzung der Konfliktlinie Kirche vs. Staat) verortet. Diese Konfliktlinien spiegeln damit die ‚klassischen‘ Konflikte Deutschlands seit dem Kaiserreich wider und dienen immer noch einer schlüssigen sowie anschaulichen Verortung der deutschen Parteien im politi-schen Konfliktraum. Es muss jedoch angefügt werden, dass die sozio-kulturelle Konflikt-dimension einen Begriffswandel erfährt. So bezeichnet Niedermayer (2003: 268) die beiden Pole noch als autoritär versus libertär, wohingegen die Autoren des Duisburger Wahl-Index die Pole mit ‚Traditionalisierung‘ und ‚Modernisierung‘ beschriften (vgl. Bianchi et al.

2013: 6).

den, brachten Parteiloyalitäten hervor, die in Parteiidentifikationen mündete und somit gewisse Stammwählerreservoirs konstituierten (vgl. Wiesendahl 2011a: 163). Zugleich konnten die Parteien leichter Mitglieder rekrutieren, was durch den Wegfall dieser traditionellen Milieus deutlich schwieriger wird (vgl. Vetter und Remer-Bollow 2017: 146). „Strukturkrisen und Ratio-nalisierungssprünge“ (Wiesendahl 2011a: 164) führten auf der einen Seite dazu, dass Blue-Collar-Arbeitsplätze verschwanden und das Arbeitermilieu ausdünnte, auf der anderen Seite stiegen der allgemeine Wohlstand sowie die Konsumkraft der Arbeiterschicht, was wiederum die einstige, auf Not und Ausbeutung zurückzuführende Milieuverhaftung im proletarischen Sinne auflöste (vgl. Wiesendahl 2011a: 165). Dazu stellt Kölln (2014: 75) fest:

„Social democratic parties, for instance, should be more strongly exposed to member-ship decline. Research into social democratic values and their respective rise and fall suggests that economic changes, particularly in the labour market, have lessened the social democratic parties’ appeal to the electorate”.

Das kirchliche Milieu war von diesen wirtschaftlichen Entwicklungen deut-lich weniger betroffen, litt aber unter einem in der Nachkriegszeit in Deutsch-land einsetzendem Säkularisierungsprozess. Die Zahl der Kirchgänger schrumpfte erheblich (von 60 Prozent 1953 auf 26 Prozent 1990), der Zu-sammenhalt innerhalb des Milieus schwand und nicht zuletzt konnten religiö-se Bindungen ab den 1970er Jahren „nicht mehr uneingeschränkt an die Kin-der weitergegeben werden“ (Wiesendahl 2011a: 167). Insgesamt spricht die Forschung daher von einer „Atomisierung von Soziallagen“ (Klein 2014:

569). Im Zuge der genannten Erosionsprozesse wurden Interessen, Wertori-entierungen und Lebensumstände deutlich ausdifferenzierter und heterogener, als dies noch vor einigen Jahrzehnten der Fall war. Das daraus resultierende Schwinden organisationaler Linkages impliziert zudem, dass die Macht von Parteien „immer weniger auf stabilen gesellschaftlichen Koalitionen beruht“

(Poguntke 2000: 269), was insbesondere dann ein Problem darstellt, wenn es um den Gewinn neuer Mitglieder geht. Um es mit den Worten von Lösche abzuschließen: „Es sei wiederholt: Erst mit dem Ende der Volksparteien wird klar, wie wichtig die sozialmoralischen Milieus für sie gewesen sind“ (Lö-sche 2009: 18).

Bedingt ist dieser Milieuaufbruch auch durch den Wertewandel sowie den Postmaterialismus. Beide Begriffe weisen hinsichtlich des Relevanzverlustes von CDU und SPD wechselseitige Effekte mit der Erosion der sozial-moralischen Milieus auf. Neue Werteprioritäten wie „Freiheit, Selbstverwirk-lichung, Frieden und Geschlechtergleichheit“ (Wiesendahl 2011a: 190) lie-ßen sich ab den 1970er Jahren erkennen und bestimmten fortan die politi-schen Diskussionen vor allem der jüngeren Bürger mit. Der steigende Wohl-stand in Deutschland, insbesondere nach der raschen Überwindung der Wirt-schaftskrise 1966/1967, führte zu einem ökonomischen Optimismus in der Bevölkerung (vgl. Weber 2006: 109). Diese ökonomische Sicherheit kann,

den Annahmen von Maslow (1954) und Inglehart (1977) folgend, zu einem

„promotion focus [Hervorhebung i.O.]“ (Welzel 2009: 119) führen, in dem Menschen stärker einer Entfaltungsorientierung zuneigen, da sie ihre materi-elle Situation als gesichert ansehen.

Der ökonomische „Fahrstuhl-Effekt“ (Beck 1986: 122) bei gleichzeitig spürbarer Verkürzung der Gesamtarbeitszeit verhalf insbesondere den Ar-beitnehmern, sich in ihrer Freizeit stärker (unter anderem) politischem Enga-gement widmen zu können. Die in dieser Untersuchung genannten Neuen Sozialen Bewegungen waren mitunter Ergebnis dieses „gesellschaftlichen Individualisierungsschubs“ (Schimank 2012: 31). Lebensqualität verdrängte den Begriff der Lebensstandards und der Individualisierungsschub, vor allem derjenige der jungen Menschen, fand durch die Gründung der Grünen 1980 seinen „parlamentarischen Ausdruck“ (Schimank 2012: 31). Die Parteien SPD und CDU konnten nur bedingt darauf antworten. Wiesendahl (2011a:

191) erkennt zwar, dass gerade die Brandt-SPD in der Lage war, sich neuen Wählerschichten zu öffnen, der Wechsel zu Helmut Schmidt ließ die auf-kommende Euphorie jedoch abebben (vgl. Wiesendahl 2011a: 191). Die CDU antwortete auf die anfängliche Öffnung der SPD mit einer reaktionären Strategie, die forciertes Wachstum und die Bewahrung der „hergebrachten bürgerlichen Anpassungs- und Unterordnungskultur“ (Wiesendahl 2011a:

191) beinhaltete. Diese Kultur stand im Konflikt zu einer durch die Bildungs-expansion gestärkten kritischeren und reflektierteren Haltung der Bürger gegenüber den Parteien. Mit höherem Wissen über die Politik wurden politi-sche Programme zunehmend kritisch hinterfragt (vgl. Geißler 2014: 343);

damit stieg zugleich die Anspruchshaltung.

Zu diesen Befunden treten weitere gesellschaftlich-strukturelle Verände-rungsprozesse wie die „Pluralisierung von Lebensformen, aber auch ökono-mische Veränderungen oder politische Wechsel etwa von traditionellen zu demokratischen Herrschaftsweisen“ (Steuerwald 2016: 324) hinzu. Dies bedingt nicht zuletzt die schon festgestellte Verlagerung der Partizipations-vorlieben und -wünsche bei den Bürgern. Scarrow spricht dabei von einem supply-side shift, dem sie jedoch keine verallgemeinerbaren Gründe zuordnet.

Für Deutschland sind das Aufbrechen der sozial-moralischen Milieus, der Wandel der cleavages sowie der Wertewandel tragfähige Erklärungen auf der Makro-Ebene, die diesen angebotsseitigen shift erhellen können. Aber:

“Whatever the underlying reasons for this supply-side shift, the supposed results are that today’s citizens are less inclined to make long-term organizational commitments to political parties. Supply-side explanations for membership decline thus portray par-ty organizational changes as the result of social and political changes to which parties could attempt to respond. However, trying to recruit and retain party members in this new environment means swimming upstream in cultures that are now less attuned to partisan identities” (Scarrow 2015: 19).

Die angebotsseitige Erklärung zum Mitgliederrückgang würde, basierend auf der Logik Scarrows (2015), letztlich implizieren, dass die Parteien die oben genannten gesellschaftlichen Wandlungsprozesse innerorganisatorisch nicht abbilden können bzw. sich nicht an diese angepasst haben. Als Erklärungs-faktor auf der Nachfrageseite kann wiederum auf das den Parteien vonseiten der Bürger entgegengebrachte rückläufige Vertrauen (vgl. Baus 2009: 11;

Dettling 2012: 10), ja gar zunehmendes Misstrauen genannt werden (vgl.

Biehl 2013: 68). Schon Kaase (1989: 64) konstatiert: „Political parties are increasingly under pressure and may have to give away some of their original ground to other intermediary organizations, including those in the social movements industry”. Alemann (2010: 232ff.) kommt in diesem Zuge zu einem ganzen Ursachenbündel, das die Probleme der politische Parteien bestimme. Er unterscheidet zwischen dem Wertewandel, dem Medienwandel und dem Politikwandel als Ausgangspunkte für die Probleme der Parteien.

Der Medienwandel, mit dem sich diese Untersuchung nur am Rande beschäf-tigen möchte, zeichne sich vor allem durch die fehlende Bereitschaft von Journalisten aus, „eine längerfristige politische Linie zu entwickeln und durchzuhalten“ (Alemann 2010: 232); zudem nennt Alemann die Orientie-rung am Nachrichtenwert ‚Skandal‘ als Faktor, der die Wählerschaft ermüden lasse und zugleich für Rekrutierungsprobleme sorge, da dadurch weiteres Misstrauen erzeugt werde.

Die ‚Dauerkritik‘, der sich Parteien ausgesetzt sehen (vgl. Gabriel 2005:

509), der Konkurrenzdruck, dem sie ausgeliefert sind (vgl. Gabriel und Nie-dermayer 2001: 280) sowie die ihnen zugeschriebene Unfähigkeit, politische Probleme lösen zu können (vgl. Gruber 2012: 32), führen dazu, dass sie es künftig bei der Erhöhung ihres gesellschaftlichen Rückhaltes schwer haben werden. Biehl konstatiert (2013: 86), dass die Abkopplung der Parteien von der Gesellschaft und besonders von den ressourcenschwachen Bürgern „nicht als Modernisierungssymptom, sondern als Ausdruck einer gestörten Bezie-hung zwischen Bürgern und Parteien gelten“ kann. Dass Parteien Konkurrenz durch neue Partizipationsmöglichkeiten mit Beteiligungsinstrumenten erfah-ren, über die sie selbst nicht verfügen (vgl. Klein 2003: 96), erschwert es, diese gestörte Beziehung zu reparieren.

Trotz dieser Faktoren kann keine generelle ‚Verdrossenheit‘ der Bürger gegenüber den Parteien festgestellt werden (vgl. Niedermayer 2013b: 61);

diese läge nur dann vor, wenn alle im Bundestag vertretenen Parteien negativ beurteilt würden (vgl. Niedermayer 2013b: 51), was lediglich bei einem Bruchteil der von Niedermayer (2013b) untersuchten Bürger der Fall ist.

Wenngleich der Begriff der ‚Politikverdrossenheit‘, der die ‚Parteienverdros-senheit‘ inkludiert (vgl. Massing 2011: 131), in diesem Zusammenhang häu-fig genannt wird, um eine vermeintlich einfache Antwort auf einen komple-xen Sachverhalt zu geben, kann er kaum dabei behilflich sein, die Mitglie-derentwicklung der Parteien im Allgemeinen zu erklären. Der rasante

Auf-stieg der ‚Alternative für Deutschland‘, die 2013 beinahe den Einzug in den Bundestag, 2014 den Einzug in drei Landtage mit beachtlichen Stimmenan-teilen feiern konnte und sich seit 2018 in allen Landtagen sowie im Bundes-tag vertreten sieht, zeigt, dass Wähler durch Parteien prinzipiell noch mobili-sierbar sind. Das rasche und unvorhergesehene Mitgliederwachstum der AfD (vgl. Neuerer 2014) macht außerdem deutlich, dass es Parteien prinzipiell noch gelingen kann, Neumitglieder zu akquirieren. Noch deutlicher wird es bei der Betrachtung der Grünen, dass Parteien als Partizipationsform mitnich-ten ausgedient haben. Wenngleich sich die Grünen unter den anderen etab-lierten Parteien noch als ‚Youngster‘ bezeichnen lassen können, so existiert sie nunmehr seit über 40 Jahren. Über all die Jahre ihres Bestehens hinweg gelang es ihr verlässlich, ein insgesamt positives Mitgliedersaldo zu verbu-chen. Hinsichtlich der Altersstruktur der Grünen kann zwar geschlossen wer-den, dass sie in einem deutlich geringeren Maße unter unvermeidlichen Aus-tritten durch Todesfälle ihrer Mitglieder leiden, doch zeigt sich, dass die Partei es selbst in eintrittsschwachen Jahren schafft, anteilig zur Gesamtmit-gliedschaft deutlich mehr Mitglieder zu rekrutieren als die Konkurrenz. Bei SPD, CDU und auch der CSU lässt sich feststellen, dass in den letzten Jahren allein die Zahl der freiwilligen Austritte die Zahl der Eintritte zumeist über-steigt, hinzukommen dann zusätzlich noch die Todesfälle (vgl. Niedermayer 2016: 430f.). Das Durchschnittsalter der eintretenden Mitglieder liegt im Jahre 2014 bei den Parteien zwar zwischen 37 und 42 Jahren, wobei die LINKE und SPD mit 37 und 39 Jahren das jeweils jüngste Rekrutierungs-durchschnittsalter aufweisen (vgl. Niedermayer 2016: 433f.); für das Jahr 2019 lässt sich gar ein Durchschnittsalter von 34 bis 43 Jahren der Eingetre-tenen feststellen, wobei die LINKE mit 34 Jahren das geringste Alter bei den Eintritten vorweist. SPD und CDU bewegen sich mit 42 bzw. 43 Jahren am oberen Rand des Durchschnittsalters der Eingetretenen (vgl. Niedermayer 2020: 443ff.). Bei der LINKEN ist in den letzten Jahren eine deutliche Ver-jüngung der Mitglieder festzustellen, von noch 60 Jahren im Jahr 2014 auf 55 Jahre im Jahr 2019 (vgl. Niedermayer 2020: 435). Bei den anderen Parteien ist eine solche Verjüngung nicht festzustellen.

Abschließend kann das Fazit gezogen werden, dass sich in der Literatur keine generalisierbare Theorie für den Mitgliederrückgang finden lässt (vgl.

Kölln 2015: 708). Neben dem gesellschaftlichen Relevanzverlust, den Partei-en erfahrPartei-en, scheint es dPartei-ennoch – bei jüngerPartei-en, innovationsfähigerPartei-en ParteiPartei-en – Möglichkeiten zu geben, den Mitgliederschwund abzubremsen oder gar umzukehren. Dies erschwert es, die Gründe dafür herauszufinden, warum manche Parteien mit ihren Umweltanforderungen besser, manche schlechter zurechtkommen, zumindest was die Stabilisierung der Mitgliederzahlen be-trifft.

“Part of the difficulty in explaining cross-party variation is that most explanations of declining membership focus on the supply-side, i.e. on potential members. Whilst

these supply-side explanations can partly account for the general decline of party membership and activism, they cannot explain why this trend affects some political parties more than others” (Kosiara-Pedersen et al. 2015: 2).

In einer neueren Publikation plädieren die Autoren daher für eine Fokussie-rung und Exploration der „demand-side approaches“ (Kosiara-Pedersen et al.

2017: 235).

In Abschnitt 4.4 soll für die Mitgliederparteien auf ebendiese demand-side eingegangen werden, wobei eine kurze typologische Diskussion uner-lässlich ist. Die deutschen Großparteien bezeichnen sich zugleich als Volks-parteien sowie als MitgliederVolks-parteien, „[d]ie VolksVolks-parteien sind also durch und durch Mitgliederparteien“ (Hornig 2008: 50)72, wobei für Ostdeutschland aufgrund des niedrigen Organisationsgrades Abstriche in dieser Aussage gemacht werden sollten (vgl. Decker et al. 2014: 10). In der Mitgliederpartei spielt, den ‚Gesichtern‘ der Parteien von Katz und Mair (1993) folgend73, vor allem die Party on the Ground eine große Rolle, umfasst die Organisations-ebene doch die ‚einfachen‘ Parteimitglieder, die neben Pflichten wie der Entrichtung von Mitgliedsbeiträgen auch Rechte wie Beteiligungsmöglich-keiten und Mitbestimmung über den politischen Kurs haben. Die genannten Tendenzen, nach denen Parteien Mitglieder und gesellschaftlichen Rückhalt zugleich verlieren, mögen zwar nicht ewig demselben Trend folgen, doch ist

„der Schlüssel zu diesem Umkehrprozess […] allerdings bislang weder von der Parteienforschung noch von den Organisationspraktikern in den Parteien gefunden worden“ (Wiesendahl 2009a: 256).

Die aufgezählten ‚Krisensymptome‘ sind zudem keine erst seit Kurzem diskutierten Herausforderungen im Umfeld von Parteien, sondern seit den ausgehenden 1970er-Jahren akut sicht- und seit den 1980er-Jahren in den Mitgliederzahlen spürbar. Dennoch sind Parteien, insbesondere die Großpar-teien, nicht an diesen Krisensymptomen zerbrochen, sondern sowohl organi-satorisch als auch finanziell resilient. Zudem müssen sie nicht fürchten, von anderen politischen Organisationen ersetzt zu werden, „weil kein zivilgesell-schaftlicher Akteur das Format besitzt, die Aufgabe von Parteien zu über-nehmen“ (Wiesendahl 2012a: 38; siehe zudem Vielhaber 2015: 131). Vor der Betrachtung der demand-side zum Mitgliederrückgang soll daher vor dem Hintergrund dieser Resilienz in einem ersten Schritt untersucht werden, ob die sinkende Mitgliederzahl aus strategischer Perspektive irrelevant ist oder ob sich dadurch ein gewisser Leidensdruck aufbaut, den vor allem CDU und SPD spüren werden. Dazu werden sowohl Nutzen als auch ‚Schaden‘ von Parteimitgliedern evaluiert, um zu überprüfen, ob Parteimitglieder überhaupt noch als relevante Organisationsressource zu bezeichnen sind und welche angebotsseitigen Konsequenzen dies impliziert.

72 Siehe dazu auch den Literaturbericht von Hofmann (2004, bspw. 2004: 87).

73 Basierend auf Sorauf (1967: 37), der die organization proper, die party in office und die party-in-the-electorate als Gesichter von Parteien identifizierte.

4.3 Die Mitgliederpartei – Nutzen und Schaden von