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Gesprächsanalytische Verfahren der Gattungsanalyse

4 Forschungsmethode und Datenkorpus

5.1.1 Gesprächsanalytische Verfahren der Gattungsanalyse

Nach Knoblauch und Luckmann (2012) beschränkt sich die Gattungsanalyse nicht auf einzel-ne exemplarische Fallanalysen. Sie ist komparativ angelegt, indem sie versucht, typische Ähnlichkeiten und Unterschiede beim Vergleich kommunikativer Handlungen herauszustel-len. Weiterhin fließt bei der Interpretation der Gespräche auch das Hintergrundwissen um die gesellschaftlichen, interaktiv bedeutsamen Hintergründe ein (vgl. ebd.: 540).

Um die unterschiedlichen Reichweiten der einzelnen Strukturmerkmale festzustellen, wird auf die Zuordnung sprachlicher Einheiten zu den einzelnen Strukturebenen einer kommunikativen Gattung zurückgegriffen. Wie bereits beschrieben (siehe Kapitel 3) unterscheidet Luckmann (1986: 204) zunächst zwei strukturelle Ebenen, die Binnenstruktur und die Außenstruktur. Die dritte Ebene umfasst die situative Verwirklichung kommunikativer Gattungen, welche von Knoblauch/Günthner (1994: 704) als „situative Realisierungsebene“ bezeichnet und von

82 Vgl. Deppermann (2000, 2010, 2013), Depperman/Reitemeier/Schmitt/Spranz-Fogasy (2010), Schwitalla (1986).

Günthner (2000: 16) als „Interaktionsebene“ verstanden wird. Die situative Realisierungs-ebene fokussiert Merkmale, welche kommunikative Handlungen koordinieren und sich auf deren situativen Kontext beziehen. Diese Ebene weist Anknüpfungspunkte zu den Unter-suchungsmethoden der Konversationsanalyse auf.83

Dies bedeutet, dass die Gattungsanalyse selbst ein empirisch begründetes und durch vielerlei Analysen fundiertes Rahmenkonzept darstellt. Ohne vorher zu bestimmen, welche gesprächs-linguistischen Analyseverfahren zur Erarbeitung konstitutiver Merkmale herangezogen wer-den, sollen diese im Folgenden skizziert werden.

5.1.1.1 Konversationsanalyse

Die Entwicklungsgeschichte der Konversationsanalyse (conversation analysis) reicht bis in die 60er und 70er Jahre des letzten Jahrhunderts zurück. Damals begründete Harold Garfinkel (1967) die Ethnomethodologie. Diese Forschungsrichtung bezieht sich auf "the investigation of the rational properties of indexical expressions and other practical actions as contingent ongoing accomplishments of organized artful practices of everyday life" (Garfinkel 1967: 11) und hat die Konversationsanalyse wesentlich geprägt. Die Gründung einer konversations-analytischen Forschung erfolgte dank Harvey Sacks (1984), welcher den Ansatz verfolgte, das Alltagshandeln in seinen situativen Praktiken zu untersuchen und dabei stark von Erving Gof-fman (1981) und dessen Erforschung der face-to-face-Kommunikation geprägt wurde. Zu-sammen mit Sacks haben auch Emanuel Schegloff und Gail Jefferson bei der Entwicklung der Konversationsanalyse beigetragen. Sie gelten als die wichtigsten Vertreter der Konversations-analyse, welche aufgrund ihrer Methodologie, sowohl bei der Datenerhebung als auch der Da-tenanalyse bei ihren Nachbardisziplinen ebenfalls auf große Resonanz stieß, vor allem bei der Sprachwissenschaft. Somit wuchs das Interesse an Analysen authentischer Interaktionen und an allen kommunikativen und kontextuellen Dimensionen des Sprechens (vgl. Bergmann 2001: 919f).

Konzeptuell versteht die Konversationsanalyse die „Untersuchung der sozialen Interaktion als einen fortwährenden Prozess der Hervorbringung und Absicherung sinnhafter sozialer Ord-nung“ und folgt dabei einer „strikt empirischen Orientierung“ (vgl. Bergmann 2001.: 919).

83 Vgl. dazu auch Ayaß (2004).

Die Konversationsanalyse verfolgt das Ziel, die Mechanismen und Prinzipien der sinnhaften Strukturierung und Ordnung eines ablaufenden Gesprächs zu identifizieren (vgl. ebd.).

Dazu entwickelt die Konversationsanalyse eine Anzahl methodischer Prinzipien, die sich in bisherigen konversationsanalytischen Arbeiten bei der Analyse des Ton- und Bildmaterials zeigen. Ihre Vertreter beharren darauf, dass der Gegenstand der Analyse Aufzeichnungen real abgelaufener „natürlicher“ Interaktionen darstellen sollte, welche dann im Vorgang der Transkription verschriftlicht werden. Bei konservierten Daten ist es wichtig, dass kein im Transkript auftauchendes Element als Zufallsprodukt gesehen wird (vgl. ebd.: 923). Sacks (1984: 22) fasst diese Maxime unter das Motto order at all points. Mit der Identifizierung formaler Mechanismen der Organisation sprachlicher und nichtsprachlicher Interaktion wird versucht, die Orientierung der Interagierenden an ihren Äußerungen und Handlungen aufzuzeigen (vgl. Bergmann 2010: 264-267).

Weiterhin sind für die Konversationsanalyse Mechanismen wichtig, welche die Abfolge sozialer Interaktion regulieren. Bergmann (2000, 2001) schlägt resümierend in seinen Auf-sätzen folgende Gruppierungen von Themenbereichen vor, welcher sich die konversations-analytischen Studien bedienen: das turn-taking system84 (Organisation des Sprecherwechsels), die sequenzielle Organisation von Redezügen, die Mechanismen des Geschichtenerzählens in Unterhaltungen, die Mechanismen der Kategorisierung von Personen, die Formulierungen und Beschreibungen in der Kommunikation bei Bewusstseinsvorgängen, das Herstellen von Verständigung sowie die Rolle der Reparaturen und die non-verbalen Anteile der Interaktion (vgl. Bergmann 2000: 534ff).

Einer der zentralen Mechanismen, welches für eine geregelte Abfolge von Äußerungen in Ge-sprächen sorgt, ist die Organisation des Sprecherwechsels. Dem turn-taking geben Sacks, Schegloff und Jefferson (1974) in ihrer breit rezipierten Arbeit A simpliest sistematics for the organization of turn-talk for conversation eine fundamentale Rolle für das Entstehen von Ge-sprächen. Sie gehen davon aus, dass ein lokaler Mechanismus (local management system) den Sprecherwechsel steuert. Das Rederecht kann so beispielsweise an einem übergaberelevanten Punkt (transition-relevance place) übernommen werden, indem dies mitunter durch intonato-rische und semantische Mittel angezeigt wird (vgl. Sacks/Schegloff/Jefferson 1974: 696-701).

84 Vgl dazu auch Sacks/Schegloff/Jefferson (1974).

Gleichzeitig ist die sequenzielle Organisation von enormer Bedeutung für die Konversations-analyse. In Studien, die sich mit diesem Gebiet beschäftigen, gilt ein besonderes Interesse ne-ben der Organisation von Paarsequenzen, wie Bitten, Einladungen und Komplimente, auch Prä- und Postsequenzen sowie Einschüben (vgl. Bergmann 2001: 923).

Die Konversationsanalyse dient in der vorliegenden Arbeit dazu, die sinnhafte Strukturierung und Ordnung der Gespräche zu analysieren, um somit spezifische Normen und Regularitäten im Gesprächsverlauf festzustellen und zu analysieren.

5.1.1.2 Sozialwissenschaftliche Hermeneutik

Nach Soeffner (2012: 164) geht die sozialwissenschaftliche Hermeneutik von der Fixiertheit der Sprache und damit einer unendlich wiederholbaren Abrufbarkeit sowohl sprachlicher als auch nicht-sprachlicher Dokumente aus. Sie wird als Lehre des Verstehens angesehen, denn ihre Hauptaufgabe ist es, das „wie“ des Verstehens hervorzuheben. Das Verstehen wird dabei als jener Vorgang bezeichnet, „der einer Erfahrung Sinn verleiht“ (Soeffner 2012: 165).

Nach Hitzler und Honer (1997) kann Verstehen erst dann zu einem wissenschaftlichen Ver-fahren werden, wenn sich der wissenschaftliche Interpret über die Voraussetzungen und die Methode Klarheit verschafft. Soeffner (2012: 167) betont, dass sich die Sozialwissenschaftler zuerst mit der Beschreibung und Analyse der Konstruktion „erster Ordnung“ beschäftigen müssen. Diese beziehe sich auf „das Handeln und Planen von Gesellschaftsmitgliedern in all-täglicher, pragmatischer Perspektive“ (ebd.). Danach entwickelt der Wissenschaftler seine Daten in Form von Konstruktionen zweiter Ordnung, welche als „kontrollierte, methodisch überprüfte und überprüfbare, verstehende Rekonstruktionen der Konstruktionen ‚erster Ord-nung‘“ (Hitzler/Honer 1997: 8) angesehen werden. Entsprechend sind die Daten, mit denen Forscher in der Sozialwissenschaftlichen Hermeneutik arbeiten, „Konstruktionen von Kon-struktionen“ und gelten als vorinterpretiert (vgl. ebd.: 7). Ihre primären Analysegegenstande sind also nicht unbedingt Texte, sondern „soziale Praktiken“ und „Artefakte“, welche auch in Textform erscheinen können. So bedienen sich Sozialwissenschaftler unterschiedlicher Daten, wie beispielsweise schriftlicher Äußerungen (jeder Art), Artefakte (in Form von unbewegten und bewegten Bildern und unterschiedlichen Gegenständen) oder auch mündlicher Äußerun-gen (Gespräche, Diskussionen), welche nicht vom Forscher initiiert worden sind. Bevor die Daten kontrolliert interpretiert werden können, werden sie mit Hilfe von

Beobachtungsproto-kollen in Form von Aufzeichnungen von Forschungsgesprächen (Notationen, Zeichnungen, Fotografien, Filme) dokumentiert (vgl. Hitzler/Honer 1997: 8f).

Die Methodik der sozialwissenschaftlichen Hermeneutik besteht nach Soeffner (2012) aus drei Phasen: 1) Reflexion der eigenen Vor-Urteile mit einem kontrolliertem Abstrahieren der eigenen kulturellen Fraglosigkeiten und historischen Perspektive, 2) Rekonstruktion der Struktur und der Lebenswelt des zu erforschenden Gegenstandsbereiches und 3) Zuordnung und Deutung der eigenen und fremden Erfahrungskultur im wissenschaftlichen Diskurs (vgl.

ebd.: 171f).

Die Rekonstruktion gesellschaftlichen Handelns wird bei der sozialwissenschaftlichen Her-meneutik in Form von jeweils umfassenden Einzelfallanalysen, Fallvergleichen, Deskrip-tionen und RekonstrukDeskrip-tionen fallübergreifender Muster und gleichzeitig fallgenerierender Strukturen dargestellt. Somit werden sowohl historische Veränderungen der Struktur als auch die historisch-kulturspezifischen Ausdifferenzierungen herausgearbeitet (vgl. ebd.: 173).

Abschließend wird die Frage aufgeworfen, ob die Forschungen den Anforderungen der In-tersubjektivität gerecht werden und ob Wissenschaftler ihre eigene Sichtweise vor der Analy-se des Forschungsgegenstandes kritisch genug reflektieren. Um mit dem Problem, Fremdes zu verstehen und sowohl mit den eigenen Wissensbeständen als dem alltäglich Vor-Gedeuteten umzugehen, nennen Hitzler und Honer (1997) zwei Strategien, welche sich in der Soziologie entwickelt haben. Die erste sei die „explorative Strategie“, bei der man sich einen quasi-ethnologischen Blick auf die eigene Kultur angewöhnen solle und zweitens die „interpretative Strategie“, welche die methodisch kontrollierte Analyse von Sinngehalten in Texten darstellt (vgl. ebd.: 13ff).

Die Herangehensweise der sozialwissenschaftlichen Hermeneutik ist in der vorliegenden Ar-beit bei der Identifizierung gattungsspezifischer Phänomene und Strukturen in der umfassen-den Komplettanalyse des Mitfahrgelegenheitsgesprächs MFG1 zu erkennen. Mit der Überprü-fung dieser Phänomene und Strukturen im gesamten Korpus können dann für Mitfahrgele-genheitsgespräche charakteristische fallübergreifende Muster und Strukturen festgestellt wer-den.

5.1.1.3 Ethnographie der Kommunikation

Als Begründer der „Ethnographie des Sprechens“, später umbenannt in „Ethnographie der Kommunikation“, gilt der Sozialwissenschaftler und Anthropologe Dell Hymes, welcher die-se qualitative Forschungsmethode entwickelt hat. Die Ethnographie der Kommunikation ver-sucht, aus dem Sprachgebrauch einer Gesellschaft deren soziale Organisationsstrukturen und Normen abzuleiten. Um sie zu erfassen, untersuchen ihre Studien neben Perspektiven der Teilnehmer, ihren Wissensbeständen und -formen, auch deren Interaktionen, Praktiken und Diskurse. Auf diese Weise wollen sie aus der teilnehmenden Perspektive die situativ einge-setzten Mittel erfassen, welche herangezogen werden, um soziale Phänomene zu konstituieren (vgl. Soeffner 2012: 390).

Wie bereits im Kapitel 3.4 skizziert, betrachtet Hymes (1979) speech situation, speech event und speach acts als die wichtigsten Analyseeinheiten der Ethnographie des Sprechens. Um Ethnographen die Analyse von Sprechereignissen zu erleichtern, stellte Hymes im Jahr 1967 einen Rahmen für die Analyse der Ethnographie des Sprechens vor, welcher als das SPEA-KING Modell bezeichnet wird. Denn die Anfangsbuchstaben seiner acht Komponenten erge-ben das Akronym SPEAKING. Die Tabelle zeigt links, für welche Begriffe die Anfangsbuch-staben jeweils stehen und in der linken Spalte eine deutsche Übersetzung dieser englischen Begriffe sowie eine kurze Erklärung.

Setting/scene Szene oder Situation bezeichnet Zeit und Ort, in dem ein Sprechereignis stattfindet.

Participants Sprecher oder Zuhörer sind die Interaktanten, die an einem Sprechereig-nis teilnehmen.

Ends Ziele, die die Teilnehmer versuchen in der Interaktion zu erreichen.

Act sequence Form und Inhalt des Gesagten bezeichnet die Organisation von Sprech-akten in einem Sprechereignis und die Themen die angesprochen wer-den.

Key Modalität und Stimmung bezeichnen die Art und Weise, wie etwas ge-sagt wird.

Instrumentalities Kanal und Kode sind sprachliche und nicht-sprachliche Instrumente, welche den Sprechakt möglich machen.

Norms of interaction and of interpretation

Normen der Interaktion und Interpretation sind die Konventionen, wel-cher sich Sprewel-cher bedienen, um ihre kommunikativen Ziele zu errei-chen.

Genres Typ des Sprechereignisses, welcher einen Interaktionstyp bestimmt.

Tabelle 2: Komponenten des SPEAKING Modells (nach Hymes)

Bauman und Scherzer (1975: 100) erläutern den Zweck der Komponenten von Hymes, indem sie verdeutlichen, dass sie nicht als Einzelelemente gesehen werden sollen, sondern man sich der Analyse der wechselseitigen Beziehungen zwischen ihnen widmen muss.

Als wesentliche Charakteristika ethnographischer Forschungen führt Lüders (2012) neben der längeren Teilnahme und der flexiblen Forschungsstrategie noch das ethnographische Schrei-ben auf. Ethnographen sind davon überzeugt, dass sie nur mit einer längeren Beobachtung des Geschehens an das lokale Wissen gelangen können, welches eine umfassende Analyse mög-lich macht. Weil ethnographisches Vorgehen für alle Forschungsmethoden offen ist, kann sich der Ethnograph der Situation immer anpassen und flexibel bei dem Einsatz unterschiedlicher Methoden sein (vgl. Lüders 2012: 391-396). Bei dem ethnographischen Schreiben und Proto-kollieren handelt es sich um eine „rekonstruierende Konservierung“ von Beobachtungen und Wahrnehmungen (vgl. Soeffner 2012: 396). Da Protokolle nicht authentische Repräsen-tationen beobachteter Wirklichkeit sind, gab es viele Diskussionen über das Dilemma zwi-schen der rhetorizwi-schen Konstruktion und der Empirie.

Im folgenden Abschnitt erläutere ich die Verbindung ethnographischer Methoden mit der Ge-sprächsanalyse.