• Keine Ergebnisse gefunden

Abgrenzung zu alternativen Konzepten

2 Konzept der kommunikativen Gattungen

3.4 Abgrenzung zu alternativen Konzepten

Zum Begriff der kommunikativen Gattungen, bei denen sich Luckmann einer soziologisch-empirischen Theorie bedient, existieren auch konkurrierende Begriffe, wie speech events bei Hymes (1972), frame bei Tannen (1993), activity types bei Levinson (1979, 1992) und „Hand-lungsmuster“ bei Ehlich und Rehbein (1979).

In der Ethnographie der Kommunikation ordnet Hymes (1972) speech event (Sprechereignis) hierarchisch zwischen speech situation (Sprechsituation) und speech act (Sprechakt) ein und stellt dies folgendermaßen dar:

Speech event will be restricted to activities, or aspects of activities, that are directly governed by rules or norms for the use of speech. An event may consist of a single speech act, but will often comprise several. (Hymes 1972: 56)

Nach Hymes (1979) setzen sich Gesprächssituationen aus mehreren Sprechereignissen zu-sammen, wie beispielsweise ein Gottesdienst, der aus den Sprachereignissen Predigt, Lesung etc. besteht. Während Sprechereignisse eine einzelne Einheit des Sprachgebrauchs darstellen (z. B. eine Predigt, Eröffnungsreden), sind Sprechakte einzelne Äußerungen, die innerhalb kulturell spezifischer Sprechereignisse analysiert werden, wie beispiesweise umgangssprach-liche Ausdrücke heart-to-heart-talk, talk man-to-man, woman`s talk und chew him out (ebd.:

47f). Mit der Sprachgemeinschaft (speech community) definiert er nicht eine Gemeinschaft,

50 Goffman (1983a) betont, dass auch das Hintergrundwissen über soziale Kategorien, Biographien und gemein-same Vorgeschichten berücksichtigt werden muss.

welche durch ihre gemeinsame Sprache determiniert wird, sondern durch gemeinsame Sprachnormen als "community sharing rules for the conduct and interpretation of speech, and rules for the interpretation of at least one linguistic variety" (Hymes 1979: 54).

Hymes (1972) gibt keine eindeutige Definition von speech event, sieht sie jedoch in enger Beziehung zu genres, die allerdings im ethnographischen volkskundlichen Sinn gefasst wer-den:

By genres are meant categories such as poem, myth, tale, proverb, riddle, curse, prayer, oration, lecture, commercial, form letter, editorial, etc. (Hymes 1972: 65)

Genres sollen zwar analytisch unabhängig von speech events behandelt werden, fallen jedoch oft mit ihnen zusammen. Sie können in (oder auch als) verschiedene(n) Sprechereignisse auf-treten, was Hymes wie folgt beispielhaft darlegt:

The sermon of a genre is typically identical with a certain place in a church service, but its proper-ties may be invoked, for serious or humorous effect, in other situations. Often enough a genre re-curs in several events, such as a genre chanting employed by women in Bihar state in India; it is the prescribed form for a related set of acts, recurring in weddings, family visits, and complaints to one´s husband. (Hymes 1972: 65)

Demnach werden genres bei Hymes (1972) als hoch formalisierte Strukturen angesehen und können auch als Sprechereignisse vorkommen, wie das oben angeführte Beispiel der Sprech-gesänge indischer Frauen, die sowohl bei Hochzeiten als auch bei weiteren Situationen Ver-wendung finden.

Indem Tannen und Wallat (1993) frames als eine Reihe von Erwartungen, die eine bestimmte Interpretation der Interaktion ermöglichen, darstellen, ähnelt ihr Begriff der Komponente des settings bei Hymes’ Modell (1979) für die Analyse von Sprechereignissen.51 Bei dem Begriff

„Rahmen“ (frame) orientiert sich Tannen (1993) an der Forschungstradition von Goffmann (1974), welcher frames in Anlehnung an Bateson (1972) als Organisatoren von Erfahrungen bestimmt. Tannen und Wallat (1993) unterscheiden beim framing zwei Forschungsrichtungen, interactive frames of interpretation und knowledge structures (vgl. ebd.: 59). Während inter-active frames charakteristisch für anthropologische und soziologische Arbeiten sind, sind knowledge structures, welche auch als schemas bezeichnet werden, in den

51 Vgl. dazu Kapitel 5.1.1.3.

richtungen der künstlichen Intelligenz, der kognitiven Psychologie und der linguistischen Semantik kennzeichnend (vgl. Tannen/Wallat 1993: 59). Die unterschiedlichen Kategorien von frame definieren sie folgendermaßen:

The interactive notion of frame […] refers to a sense of what activity is being engaged in, how speakers mean what they say. (ebd.)

We use the term ‘knowledge schemas’ to refer to participants’ expectations about people, objects, events and settings in the world, as distinguished from alignments being negotiated in a particular interaction. (ebd.: 60)

Während interactive frames sich sowohl auf Erwartungen über die Art der Interaktion als auch Orientierungen der Teilnehmer während der Interaktion beziehen, verwenden Tannen und Wallat den Begriff schema, um auf die Erwartungen bezüglich des Wissens über die Welt zu verweisen. Als gemeinsamer Schwerpunkt dieser Konzepte ist die Organisation von ver-gangenen Erfahrungen zu sehen und wie diese als Orientierungshilfen für Interpretationen und Handlungen in ähnlichen Situationen genutzt werden.

Ein weiteres Konzept, das ähnlich zu dem der kommunikativen Gattungen ist und an Hymes anknüpft, gleichzeitig aber nach Auer (1999: 184) als Weiterentwicklung von Wittgensteins Sprachspiel angesehen werden kann, ist das Konzept des Aktivitätstyps (activity types) von Levinson (1979, 1992). Levinson bietet eine Lösung mit dem Begriff des Aktivitätstyps an, welchen er als "fuzzy category whose focal members are goal defined, socially constituted, bounded events with constraints on participants, setting an so on, but above all on the kinds allowable contributions" (Levinson 1979: 62) beschreibt.

Mit der bewussten Bezeichnung des Aktivitätstyps als „unscharfe Kategorie“ werden nicht nur streng vorausgeplante und zufällige Kommunikationsformen umfasst, sondern auch aus-schließlich sprachlich vollzogene Formen und solche, die kein Sprechen zwingend erfordern.

Die Reichweite der Ereignisse ist ziemlich weit gefasst, da sie sowohl sehr formelle als auch äußerst informelle Interaktionsformen umfassen. Die Beschreibung von Aktivitätstypen er-folgt nach ihrer Struktur, die u. a. eine Binnengliederung, Sprechkonstellation und soziale Rollen darstellen (vgl. Auer 1999: 184f).

Obwohl die Konzepte von Levinson (1979, 1992) und Luckmann (1986) starke Ähnlichkeiten aufweisen, gibt es in einigen wichtigen Punkten doch Unterscheidungsmerkmale. Während

Levinson unterstreicht, dass es nicht relevant sei, ob zum Aktivitätstyp auch Sprechen gehö-ren soll, sind Gattungen nach Luckmann immer dominant sprachlich. Ein weiteres Merkmal ist, dass Aktivitätstypen auch überwiegend unstrukturierte sprachliche Sequenzen umfassen können, während das bei Gattungen nicht der Fall sein kann. Schließlich liegt der größte Un-terschied darin, dass Levinson (1992) Aktivitätstypen als organisiertes Handeln von Spre-chern ansieht, die ein Ziel verfolgen. Mit einem solchen Ansatz werden die einzelnen Han-delnden in den Vordergrund gerückt und nicht, wie bei Luckmann, die gesellschaftliche Ver-festigung von Gattungen (vgl. Auer 1999: 185).

Eine ähnliche, rationale und funktionsbezogene Sichtweise wird auch bei Ehlich und Rehbein (1979) vertreten. Im Vergleich zu Levinson, wo die Handelnden Muster zu eigenen Zwecken einsetzen, sind bei Ehlich und Rehbein die Muster auf bestimmte Ziele hin orientiert, und die Handelnden machen die Muster „jeweils zu ihrem eigenem Zweck“ (ebd.: 250). Der Begriff der „sprachlichen Handlungsmuster“ wird im Rahmen der Funktionalen Pragmatik in die Ge-sprächsforschung eingebracht. Sie werden als „standardisierte Handlungsmöglichkeiten, die im konkretem Handeln aktualisiert und realisiert werden“ (ebd.: 250) definiert. Der Hauptun-terschied zum Konzept der kommunikativen Gattungen und dem des Aktivitätstyps besteht Auer (1999) zufolge darin, dass hier der Handlungsbegriff sehr weit ausgelegt wird, weil auch mentale Tätigkeiten einbezogen werden und ihnen ein großes Interesse gewidmet wird (vgl.

ebd: 185f).