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Gegenwarts- und Lebensweltbezug als geschichts- geschichts-didaktische Prinzipien und Normen

Bedeutung und Varianten

2.4 Gegenwarts- und Lebensweltbezug als geschichts- geschichts-didaktische Prinzipien und Normen

Während Ansätze auf deskriptiver Ebene von einer nicht hintergehbaren Gegen-wartsgebundenheit historischen Denkens ausgehen, dabei wie Rüsen auf anthro-pologischer Ebene Orientierungsbedürfnisse als notwendigen Auslöser dafür betrachten, dass überhaupt eine Hinwendung zu Vergangenheit bzw. Geschichte passiert («Ohne historische Fragen keine Geschichte»177), oder wie Thomas Mar-tin Buck «epistemologisch betrachtet» hervorheben, «dass die Gegenwart das unhintergehbare erkenntnistheoretische Fundament nicht nur aller historischen, sondern aller menschlichen Erkenntnis schlechthin ist»,178 weist die Idee einer Gegenwartsbezogenheit historischen Denkens in der Geschichtsdidaktik neben der deskriptiven, anthropologischen und epistemologischen auch eine normative Dimension auf. Gegenwartsbezug gilt hier auch als leitendes didaktisches Prinzip und als Zielgrösse. Christian Heuer stellt diese Dimensionen nebeneinander, wenn er im «Wörterbuch Geschichtsdidaktik» Gegenwartsbezug einerseits als

«die nicht hintergehbare Gebundenheit des historischen Denkens an Gegenwart und Zukunft» fasst, andererseits aber auch «die bewusste Konstruktion dieses Gegenwartsbezuges» als Aufgabe des schulischen Geschichtsunterrichts be-nennt.179

174 Bergmann 2016, S. 104.

175 Bergmann 2016, S. 105.

176 Bergmann 2016, S. 105 f.

177 Schreiber 2007a, S. 156.

178 Buck 2017, S. 291.

179 Heuer 2009, S. 76.

Differenzierte Überlegungen zur didaktischen Dimension eines Gegenwarts-bezugs, vielmehr sogar «Gegenwarts- und Zukunftsbezug[s]», finden sich vor allem bei Klaus Bergmann.180 Auch er betont zunächst die anthropologische Di-mension: «Diese Gegenwarts- und Zukunftsbezogenheit ist eine grundlegende, nicht hintergehbare Voraussetzung allen historischen Denkens. Geschichte ist im-mer ein Nachdenken über Vergangenheit, das in einer Gegenwart stattfindet und von Zukunftserwartungen beeinflusst wird.»181 Gleichzeitig formuliert er aber auch als Anforderung an den Geschichtsunterricht, «das Nachdenken über Ver-gangenes so anzulegen, dass den Schülerinnen und Schüler[n] erkennbar und nachvollziehbar ist, was dieses Nachdenken über Vergangenes mit ihrer Gegenwart und Zukunft zu tun hat».182

In dieser Unterscheidung deutet sich eine Differenzierung in unbewusste und bewusste, implizite und explizite Gegenwartsbezüge an.183 Auf der einen Seite steht das unbewusste, unreflektierte Einbringen von gegenwärtigen Perspektiven und Fragestellungen in die Zuwendung zu Historischem, das – wie bereits mehr-fach thematisiert – als konstitutiv und unumgänglich angesehen wird. Auf der anderen steht das explizite, reflektierte Sich-Bewusstmachen oder gar aktive Her-stellen dieser Bezüge, wobei Bergmann insbesondere im letztgenannten Bereich die Aufgabe von Lehrpersonen erkennt.184

Die Ausführungen Bergmanns und Heuers oder auch Gautschis185 verweisen auf ein angenommenes geschichtsdidaktisches Potenzial in der Herstellung von Gegenwartsbezügen. Gegenwartsbezüge verhindern, so Heuer, «Geschichte […]

als reinen ‹Stoff› zu konsumieren», und dienen stattdessen der «Förderung eines reflektierten Geschichtsbewusstsein».186 Sie zielen, so Bergmann, auf eine Ausrich-tung des Unterrichts an «den Lebensperspektiven von Schülerinnen und Schülern»187 und klären die Frage,

180 Bergmann 2008 und Bergmann 2016; ausserdem bei Pandel 2013, S. 333–336.

181 Bergmann 2016, S. 91.

182 Bergmann 2016, S. 91 f.

183 So auch bei Heuer 2009.

184 Bergmann 2016, S. 92.

185 Gautschi 2015, S. 36.

186 Heuer 2009, S. 76.

187 Bergmann 2016, S. 92.

«welchen Nutzen und welchen Nachteil die Geschichte für ihr Leben in ihrer Gegenwart und für ihre Zukunft hat – und das ist eine Frage, die zu Recht immer wieder gestellt und beantwortet worden ist. […] Die Frage gehört als Frage nach der Lebensdienlichkeit von Geschichte zu den Grundfragen der Geschichtsdidaktik. Sie ohne Begründung als banausisch abzutun heisst, die Bedürfnisse und berechtigten Ansprüche von Kindern und Jugendlichen zu missachten.»188

Die Idee notwendiger Gegenwartsbezüge geht bei Heuer Hand in Hand mit der Idee eines notwendigen Lebensweltbezugs schulischen Geschichtsunterrichts,189 eine Verbindung, die sich in der geschichtsdidaktischen Literatur häufiger findet.

Etwa titelt Thomas Martin Buck integrierend «Lebenswelt- und Gegenwartsbe-zug»190 und vermengt die Prinzipien auch in seinen Ausführungen:

«Sie [gemeint ist Geschichte, Anm. JT] hat etwas mit unserem Leben zu tun und sollte deshalb nicht nur ein ödes Abarbeiten von Faktenbeständen oder gar Auswendiglernen sein, sondern persönliche Bedeutung für die Lernenden haben. Geschichte geht uns etwas an, weil Geschichte Teil unserer Lebenswelt ist und wir selbst historisch bzw. zeitlich existieren. Das heisst: Aller Beschäf-tigung mit Geschichte ist zwar selbstverständlich ein Vergangenheitsbezug, aber auch ein Gegenwarts- und Zukunftsbezug inhärent.»191

Auch Hans-Jürgen Pandel neigt unter dem Stichwort «Gegenwartsorientierung»

zu einer Integration beider Perspektiven, feststellend, dass «Gegenwarts- und Schülerorientierung […] weitgehend den gleichen Sachverhalt [meinen]».192 Hin-gegen differenziert er danach, ob von einem didaktischen, die Auswahl von The-men für den Unterricht leitenden Prinzip «Gegenwartsorientierung» oder viel-mehr von einem methodischen Prinzip «Gegenwarts- und Zukunftsbezug» die Rede ist.193

188 Bergmann 2008, S. 10 f.

189 Grundsätzlich über das Verhältnis von historischem Lernen und Lebenswelt nachgedacht wird bei Schreiber (2005), Grunder widmet sich aus schulpädagogischer Perspektive dem Verhältnis von «Schule und Lebenswelt» (Grunder 2001).

190 Buck 2017.

191 Buck 2017, S. 293.

192 Pandel 2013, S. 333.

193 Pandel 2013, S. 333.

Umgekehrt unterscheidet Ulrich Baumgärtner in zwei separate didaktische Prinzipien, nämlich «Gegenwartsorientierung» einerseits und «Lebenswelt- und Erfahrungsorientierung» andererseits.194 Bei Ersterer berücksichtigt auch Baum-gärtner die anthropologische Dimension von Gegenwartsbezügen:

«Da jede historische Frage von der jeweiligen Gegenwart ausgeht, ist dieses Prinzip konstitutiv. So ist im Unterricht stets der Bezug historischer Sachver-halte zur heutigen Situation zu thematisieren, da dadurch der Blickwinkel auf die Vergangenheit vorgegeben ist und nur eine Reflexion dieser Perspektive eine belastbare historische Erkenntnis ermöglicht.»195

Dem stellt Baumgärtner das Prinzip der «Lebenswelt und Erfahrungsorientie-rung» gegenüber:

«Im Unterschied zur Gegenwartsorientierung spielt hier die Erfahrungs- und Lebenswelt der Kinder und Jugendlichen eine entscheidende Rolle. Im Unter-richt kommt es darauf an, entsprechende Anknüpfungspunkte zu suchen. So kann im Zusammenhang der Industrialisierung auf die Verwendung von Plastik bei der Herstellung von Alltagsgegenständen Bezug genommen werden.»196 Diese Zweiteilung sensibilisiert dafür, dass Gegenwartsbezüge und Bezüge zur Lebenswelt der historisch Denkenden nicht zwingend identisch sind und dass Gegenwarts- auch ohne Lebensweltbezüge auftreten können197 – eine Unterschei-dung, die sich später auch in dem von mir eingesetzten Kategoriensystem wider-spiegelt und die ich bei der Darstellung meiner Ergebnisse erneut aufgreife. In der Theorie werden beide Prinzipien jedoch, wie dargestellt, häufig vermengt, und auch in den im folgenden Abschnitt beschriebenen Konzeptionen historischen Denkens wird eine entsprechende Differenzierung bisweilen verwässert.

Gegenwarts- und Lebensweltbezüge haben, so lässt sich zusammenfassend konstatieren, für die Geschichtsdidaktik, neben der Einsicht in ihren unhintergeh-baren anthropologischen und dabei vielfach impliziten, unbewussten Charakter,

194 Baumgärtner 2015, S. 68.

195 Baumgärtner 2015, S. 68.

196 Baumgärtner 2015, S. 68.

197 Umgekehrt lassen sich Lebensweltbezüge immer auch als Gegenwartsbezüge verstehen, wenn man Lebenswelt als einen Teilbereich von Gegenwart versteht. Unter dieser Perspek-tive wären Lebensweltbezüge eine Teilmenge von Gegenwartsbezügen.

auch einen didaktischen Wert, nämlich dann, wenn sie bewusst hergestellt und auf die Lebenswelt der historisch denkenden Personen bezogen werden. Sie sind da-mit zugleich normative Konzepte als didaktische Zielgrössen, die es im Unterricht zu verwirklichen gilt.