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Befunde zum Nicht-nur-Kognitiven 775 (1): Imagination und Empathie

Ausstellungen: Zum Stand der empirischen Forschung

5.3 Befunde ausgewählter Studien

5.3.4 Befunde zum Nicht-nur-Kognitiven 775 (1): Imagination und Empathie

Die Schülerinnen und Schüler in der Studie Kohlers verstehen, wie soeben er-wähnt, rekonstruierende Präsentationsformen als Anlass für «Imagination» und

«empathisches Nachvollziehen»776 bzw. historische Museen generell als Orte, in denen «eine ästhetisch-emotionale Erfahrung von Geschichte durch die Anregung historischer Imagination» möglich ist.777 Mit den Begriffen der Imagination und Empathie berührt Kohler die emotionale Seite und damit den unter Verwendung einer Terminologie Bodo von Borries’ in meiner Arbeit als nicht-nur-kognitiv bezeichneten Bereich des Museumsbesuchs.

Ebenfalls über Imagination, aber in Bezug auf den Kontakt von Schülern und Schülerinnen mit Inszenierungen in britischen Living-History-Museen, spricht Berit Pleitner.778 Sie stellt aufseiten der Beforschten «ein grosses Bedürfnis nach diesem Sich-Einfühlen, Sich-Einlassen» fest und konstatiert, «dass ihnen durch die Living History quasi ein Schlüssel gereicht wird, mit dem sie zumindest die erste Tür zum Verständnis vergangener Zeiten öffnen können».779 In einer anderen Untersuchung kommt Pleitner zu dem Befund, dass Schüler und Schülerinnen

774 Kohler 2016, S. 203.

775 Der Terminus des Nicht-nur-Kognitiven geht, wie erwähnt, zurück auf Borries (2014, S. 167 ff.). Vgl. zur theoretischen Betrachtung dieses Bereichs auch die Ausführungen in Abschnitt 3.4.1.

776 Kohler 2016, S. 226.

777 Kohler 2015, S. 68.

778 Pleitner 2008.

779 Pleitner 2008, S. 108 f.

Exponate dann als positiv einschätzen, wenn sie anschaulich sind und «das histo-rische Vorstellungsvermögen anregen».780

Stärker, als dies für die Schüler und Schülerinnen aus Kohlers Studie zuzutref-fen scheint, beschreibt Pleitner die Teilnehmenden ihrer Studie zu Living-History Museen als sich der Gemachtheit des Dargestellten – hier in Bezug auf Inszenie-rungen – durchaus bewusst und sieht gerade in dieser Bewusstheit ein produktives Moment:

«Dieses Wissen darum, dass es sich nicht um eine tatsächliche ‹Zeitreise in das Mittelalter›, sondern um eine Inszenierung handelt, lässt den Schülern den nötigen Raum für die Distanz, die die historische Imagination benötigt, um sich fruchtbar zu entfalten. Auf die Frage, ob man bei Living History auch etwas über die Gefühle der Menschen erfahren könne, antworten sie mit nein.

Das zeigt doch sehr deutlich, dass sie zwar die Anschaulichkeit schätzen, sich aber darüber im Klaren sind, dass hier eben nicht ein allumfassendes, gar

‹wahres› Bild von der Vergangenheit (bzw. von den Menschen aus der Ver-gangenheit) gezeichnet werden kann. […] Die Schüler bewegen sich mental zwischen der realen und der inszenierten Lebenswelt.»781

Pleitners Analyse lässt sich damit nahtlos anschliessen an den weiter oben bereits vorgestellten Empathiebegriff Juliane Brauers, die die in der Empathie liegende Gleichzeitigkeit von Imagination und dem Erkennen von «Nicht-Ähnlichkeit»

hervorhebt und diese als «produktive Irritation» beschreibt, die ermögliche, «nicht nur […] Alterität zu überbrücken, sondern sie auch spürbar und erkennbar werden zu lassen. Empathie rechnet Alterität ein und fordert sie heraus»,782 ist also mehr als blosses Imaginieren.

Während Pleitner den Teilnehmenden eine Einsicht in die Konstruiertheit von Inszenierungen zuschreibt, stellt sie umgekehrt – und darin wieder ähnlich zu den Befunden Kohlers783 – allerdings auch fest, dass die Schülerinnen und Schüler

780 Pleitner 2011, S. 39.

781 Pleitner 2008, S. 110.

782 Brauer 2013, S. 84 ff., direkte Zitate: S. 86, S. 88, S. 89. Vgl. hierzu auch die Ausführun-gen in Abschnitt 3.4.

783 Kohler 2016, S. 172 ff., insb. S. 175.

«keinen Unterschied zwischen Quelle und Darstellung [machen]. Alles ist gleichermassen ‹evidence› für vergangene Ereignisse: ein Exponat im Museum (sei es Original oder Replik), eine CD der horrible histories, ein Schulbuch, eine Burgruine.»784

Angesichts dessen benennt Pleitner – nun nicht mehr auf der Ebene der deskrip-tiven Beschreibungen von Untersuchungsergebnissen, sondern auf Ebene der Empfehlungen – als Aufgabe des Geschichtsunterrichts, über unterschiedliche Formen von «evidence» zu reflektieren und diese einzuordnen, wobei sie Living History für einen besonders geeigneten Gegenstand der Reflexion hält.785 Pleitner thematisiert Living History damit einerseits normativ als möglichen Gegenstand der Analyse im Unterricht, andererseits aber auch deskriptiv als möglichen Auslö-ser für Imagination, für die es «Vorlagen» brauche, «entweder aus der eigenen Erfahrung oder aus uns sinnlich zugänglichen Vorlagen – Bildern, Filmen, Objek-ten, Gerüchen […]. Da Geschichte nicht erfahren werden kann, bleibt nur der Umweg über verschiedene Medien.»786

Neben den geschichtsdidaktischen Studien Pleitners und Kohlers komme ich weiter auf eine dritte, nun psychologische Studie zu sprechen, die die Bedeutung einer Imagination und eines Sich-Hineinversetzens für Museumsbesuchende fest-stellt, allerdings unter anderem Begriff. Holger Höge befragte Besuchende des Museumsdorfes Cloppenburg in Eingangs- und Ausgangsbefragungen nach ihren Erwartungen und anschliessendem Befinden,787 wobei im letztgenannten Bereich unter anderem ein «nostalgisch[es]» Empfinden geäussert wurde.788 Höge wendet sich nachfolgend unter dem Begriff «Nostalgie» diesem Bereich näher zu und beschreibt ihn innerhalb des Spektrums an Grundemotionen als eine «Form einer Sehnsucht», als «Erwartung des Nacherlebens, d. h. der Einfühlung in frühere Lebensumstände», als ein «Sich-in-die-Lebensumstände-Hineinversetzen».789

Ab-784 Pleitner 2008, S. 109.

785 Pleitner 2008, S. 109.

786 Pleitner 2008, S. 109. Dass als imaginationsauslösende bzw. Einfühlung bewirkende Me-dien auch die Architektur eines Museums eine Rolle spielen kann, hierzu finden sich erste vereinzelte Hinweise bei Bishop Kendzia am Beispiel des Jüdischen Museums in Berlin (Bishop Kendzia 2011, S. 55 f.).

787 Höge 2006, S. 210, 215.

788 Höge 2006, S. 215. Höge schreibt, dies sei «das einzige Gefühl, das in die Liste der Selbst-beschreibungsadjektive aufgenommen wurde» (ebd., S. 216), was vermutlich bedeutet, dass es sich hierbei um einen von den Besuchenden selbst gewählten Terminus handelt.

789 Höge 2006, S. 218 f.

gesehen von dem Aspekt der Sehnsucht, der in den Überlegungen Höges neu auftaucht, scheint mir der beschriebene Bereich verwandt mit dem zu sein, was in der Geschichtsdidaktik unter Imagination oder auch Empathie verhandelt wird, und es zeigt sich, wie lohnenswert ein wechselseitiges Sich-zur-Kenntnis-Nehmen zwischen psychologischen und geschichtsdidaktischen Arbeiten sein könnte.790

Über die Bedeutung von Empathie und Sich-Vorstellen, nun am Beispiel von Besuchenden von Gedenkstätten an Orten ehemaliger nationalsozialistischer Kon-zentrationslager, finden sich auch Ausführungen bei Bert Pampel. Er unterschei-det innerhalb seines bereits weiter oben vorgestellten Sets von Besuchserfahrun-gen zwei zum Thema passende Bereiche, nämlich – und in deren Unterscheidung begrifflich vordergründig anschlussfähig etwa an die Differenzierung Juliane Brauers791 – «Vorstellung (Imaginative Erfahrungen)» und «Einfühlung (Empa-thische Erfahrungen)».792

Pampel kommt in einer Analyse von Besuchsmotiven zu dem Schluss, die Besuchenden erhofften sich «von ihrem Aufenthalt in Gedenkstätten eine Vorstel-lung davon, ‹wie es früher war›, den Nachvollzug des historischen Geschehens oder sogar eine Zeitreise in die Vergangenheit».793 «[E]rlebnisorientierte Erwar-tungen» besässen grössere Bedeutung für die Besuchenden als Wissenserwerb.794 Pampel widmet sich nun der Frage, inwieweit den Besuchenden «eine solche ‹ge-dankliche Rekonstruktion› gelingt»,795 und kommt dabei zu differenzierten Er-gebnissen.

790 In der deutschsprachigen Geschichtsdidaktik scheint mir der Begriff der Nostalgie bislang kaum geläufig. Allerdings widmete die Internationale Gesellschaft für Geschichtsdidaktik im Jahr 2016 ihre Zeitschrift dem Thema «Nostalgia in Historical Consciousness and Culture» (Popp et al. 2016). Im einführenden Beitrag entfalten Elisabeth Erdmann und Arja Virta die Vielschichtigkeit des Begriffs und fassen zusammen: «In the context of his-tory, nostalgia is understood as a sentimental relationship to the past, embellishing the past with devotion and admiration. It is not only about the place, the home that has been lost – but can deal with the time that has been lost. People’s subjective images of the past are often represented as the glorfication of ‹the good old times›, heritage and tradition» (Erd-mann/Virta 2016, S. 13). Eine künftige geschichtsdidaktische Aufgabe könnte es sein, Konzepte von Nostalgie mit denjenigen der Empathie und Imagination zusammenzubrin-gen und über Gemeinsamkeiten und Differenzen nachzudenken sowie hierzu auch Beiträ-ge der psychologischen Forschung zu berücksichtiBeiträ-gen.

791 Brauer 2013.

792 Pampel 2007, S. 262 ff. und S. 267 ff.

793 Pampel 2007, S. 257.

794 Pampel 2007, S. 248.

795 Pampel 2007, S. 258.

Er gliedert seine Befunde in Äusserungen über «Vorstellungen (Imaginative Erfahrungen)» und «Einfühlung (Empathische Erfahrungen)» und schildert so-wohl gelingende Fälle des Sich-Vorstellens und Sich-Einfühlens, aber auch durch die Besuchenden berichtete Schwierigkeiten, sowohl dahingehend, sich den «Ort des Geschehens» vorzustellen, als auch, «sich in die Opfer hineinzuversetzen».796 Pampel kommt zu dem Befund, dass ein Nicht-Gelingen des Sich-Vorstellens oder -Einfühlens von den Besuchenden im erstgenannten Fall vor allem auf die örtli-chen Gegebenheiten zurückgeführt wird, nämlich auf das inzwisörtli-chen veränderte Aussehen des Ortes, im zweiten Fall auf einen «Mangel an Anschaulichkeit oder an Information», in beiden Fällen also «praktisch» begründet werde, hingegen nur selten «wahrnehmungstheoretisch» oder «geschichtstheoretisch – mit der unauf-hebbaren Distanz zwischen Vergangenheit und Gegenwart – oder psychologisch – mit der unüberwindlichen Differenz zwischen Subjekten».797

Umgekehrt finden sich auch Hinweise auf gelingendes Sich-Einfühlen. Sofern empathisches Sich-Einfühlen gelingt, das von nahezu allen Besuchenden versucht werde, seien «Gegenstand der Empathie […] fast ausschliesslich Opfer, teilweise Angehörige bzw. Verwandte».798 Pampel bringt solches Sich-Einfühlen mit der Erfahrung des Ortes in Verbindung:

«Die Distanz zum historischen Geschehen wird auch dadurch verringert, dass man den Ort der Ereignisse ‹hautnah› erleben kann, dass man aus der Nähe erfährt, was dort Schreckliches geschehen ist. In dem Eindruck, die Leiden der Opfer nacherleben zu können, wird Distanz schliesslich gänzlich aufgehoben.»799

Im Fall von Pampels Studie kann Empathie somit auch ein Aufheben der histori-schen Distanz meinen, während in den weiter oben genannten Empathiedefinitio-nen die Differenzerfahrung als integraler Bestandteil von Empathie betont wird.

Pampel stellt weiter die Frage, ob Imaginieren historisches Verstehen beför-dern könne,800 und generell, «wie sich […] Gefühle auf die kognitive Verarbeitung von Wahrnehmung auswirken», insbesondere angesichts von Einsichten der

Psy-796 Pampel 2007, S. 257 ff.; direkte Zitate S. 257, S. 258, S. 262, S. 263.

797 Pampel 2007, S. 258, S. 264.

798 Pampel 2007, S. 263.

799 Pampel 2007, S. 245.

800 Pampel 2007, S. 261.

chologie, dass «[n]egative Gefühle […] logisches Denken und rationale Entschei-dungsfindung beeinträchtigen».801 Er kommt auch hier zu differenzierten Befun-den, es fänden sich nämlich «sowohl Beispiele für Besucher mit reichhaltigen Vorstellungsbildern ohne nachhaltige Denkprozesse wie auch Beispiele dafür, dass trotz fehlenden Vorstellungsvermögens Einsichten gewonnen werden. Umge-kehrt genauso.»802 Die der Gedenkstättenpädagogik zugeschriebene Annahme, dass Empathie die Besuchenden «nach Erklärungen für die historischen Gescheh-nisse» suchen lasse oder «weitergehendes Interesse an den Opfern» wecke, kann Pampel nicht stützen.803 Gleichwohl stellt er im Resümee seiner Arbeit ein in Gedenkstätten mögliches, «auf unmittelbaren nicht-kognitiven Erfahrungen» be-ruhendes Lernen fest, nämlich ein «Lernen durch unmittelbare Anschauung», ein

«Lernen durch physische Aneignung des Ortes» und ein «Lernen durch Einfüh-lung und Imagination».804

In der Zusammenschau der rezipierten Studien zeigt sich, dass Imagination/

Sich-Vorstellen einerseits und Sich-Hineinversetzen/Sich-Einfühlen/Empathie andererseits sowohl Bedürfnisse von Museumsbesuchenden sind wie auch dass sie von Besuchenden als tatsächlich erlebt berichtet werden.805 Der Bereich der Ima-gination und Empathie steht dabei an der Schnittstelle zwischen Emotion und Kognition, da er einerseits auf Einfühlung und Sich-Vorstellen basiert, ihm ande-rerseits auch erkenntnisfördernde Kraft zugeschrieben wird – dies einerseits in der theoretischen geschichtsdidaktischen Literatur,806 andererseits von etlichen empi-rischen Studien.807

Wohl dieser Schnittstellenposition ist es geschuldet, dass Christian Kohler die eindeutige Zuordnung dieses Bereichs zu kognitiven oder emotionalen Anteilen des Museumsbesuchs offenbar Schwierigkeiten bereitet – so von mir folgender-massen andernorts bereits festgehalten:808

801 Pampel 2007, S. 245.

802 Pampel 2007, S. 261.

803 Pampel 2007, S. 265.

804 Pampel 2007, S. 352 f.; erstes Zitat im Original in Kursivsetzung.

805 Differenzierung in erwartete und erlebte Aspekte in Anlehnung an Pekarik et al. 1999, S. 152.

806 Vgl. Abschnitt 3.4.

807 Pleitner 2008, S. 110; Kohler 2016, S. 164, S. 203; bedingt: Pampel 2007.

808 Ich habe dies im Rahmen einer Rezension bereits ausgeführt (Thyroff 2017d) und bezie-he mich auf die dortige Darstellung.

«Wie dieses Imaginieren, Nachvollziehen, Abtauchen, Hineinversetzen inner-halb der theoretischen Pole der Kognition und Emotion einzuordnen sei, in dieser Frage bleibt Kohlers Darstellung unentschlossen bzw. variantenreich.

So kommt er zum Ende seiner Analyse zu dem Fazit, dass gefühlsmässiges Hineinversetzen von den Probandinnen und Probanden selbst nicht als Ler-nen konnotiert wird,809 während er im Rahmen einer Hauptkomponenten-analyse die Intentionen des Abtauchens und Mitreissenlassens als Elemente einer ‹Lernintention› im Kontrast zu einer ‹Erlebnisintention› identifiziert hat,810 bei den konkreten berichteten Besuchserfahrungen jedoch dann wieder in eine ‹emotionale Alteritätserfahrung› und eine ‹kognitive Lernerfahrung›

unterscheidet.811 Kohlers eigene Erklärung, dass es wohl eine Diskrepanz zwi-schen Besuchsintentionen und konkreten Erfahrungen gebe,812 vermag die theoretische Unschärfe der gewählten Kategorien nicht vollends aufzulösen […]. Die offenbar disparate Datenlage kann gleichzeitig auch als Indiz dafür verstanden werden, wie verwoben emotionale und kognitive Erfahrungen beim Museumsbesuch in den Vorstellungen der Besuchenden sein können.

Kohler selbst macht denn auch die Notwendigkeit deutlich, beide Aspekte stärker zusammenzudenken, […] [beschränkt sich aber auf die Feststellung], dass Imagination und Hineinversetzen auch eine ‹erkenntnisleitende Funkti-on› haben könne.813 Ebenfalls wenig ausdifferenziert wird die Rolle, die dabei die ästhetische Dimension von Museen in den Vorstellungen spielt. Eher als Notbehelf erscheint die gewählte Bindestrichvariante ‹ästhetisch-emotionale Komponente› oder ein lediglich additives Aneinanderhängen als ‹ästhetische und emotionale Erfahrung›.814 Eine weitere Ausdifferenzierung des Verhält-nisses von kognitiver, ästhetischer und emotionaler Dimension der Museums-erfahrung steht insofern noch aus […]».815

809 Kohler 2016, S. 226.

810 Kohler 2016, S. 112.

811 Kohler 2016, S. 118.

812 Kohler 2016, S. 118.

813 Kohler 2016, S. 164, S. 171, S. 203, S. 236; direkte Zitate: S. 164, S. 203.

814 Kohler 2016, S. 127, S. 167, S. 170 f.

815 Thyroff 2017d, S. 287 f.; ähnlich wie auch bereits im Theorieteil meiner Arbeit festgestellt, vgl. Abschnitt 3.4.

5.3.5 Befunde zum Nicht-nur-Kognitiven (2): Objekt begegnung, Emotion und Ästhetik

Nicht-nur-kognitive Dimensionen des Ausstellungsbesuchs manifestieren sich neben dem Bereich der Imagination und Empathie, der im Zusammenhang mit unterschiedlichsten Medien- und Präsentationsformen stehen kann, auch generell in der Begegnung zwischen Besuchenden und Objekten. Einige Studien beschäf-tigen sich etwa mit der Frage, wie Besuchende auf Objekte aufmerksam werden und aufgrund welcher Beweggründe sie sich diesen zuwenden. Dass Besuchende oft selektiv durch eine Ausstellung gehen, wurde weiter oben bereits deutlich.

Insofern müssen sie eine Auswahl treffen, die, so zeigen Studien, auf mehreren Faktoren beruht.

Bernd Wagner beschäftigt sich in einer Studie mit Kindern im Berliner Muse-um für Gebrauchsgegenstände mit Kriterien der Zuwendung zu Objekten. Anzie-hend für die Kinder seien zum einen «Dinge, die emotionale Reaktionen hervor-rufen», einhergehend «mit körperbezogenen, sinnlichen Erfahrungen».816 Zum anderen seien die Kinder «an ungewohnten Dingen sehr interessiert»,817 wobei es hier auf die richtige Passung zwischen Fremdheit und Vertrautheit ankomme:

«Die drei Museumsbesuche zeigen, dass Dinge, die zwar noch in ihren Ge-brauchszusammenhängen erkennbar sind, aber befremden, sich Kategorisie-rungen entziehen, eine Anziehungskraft auf die Kinder unseres kleinen Sam-ples ausüben. Die Lieblingsdinge sind ihnen nicht völlig fremd, aber gleichzeitig irritieren sie und sind nicht in gewohnte lineare Dingkombinati-onen einordbar.»818

Wagner schreibt den an der Schwelle zwischen Vertrautheit und Fremdheit be-findlichen Dingen ein didaktisches Potenzial zu. «Historisches Lernen kann diese produktive Verunsicherung aufgreifen, Verbindungen zu heute noch gebräuchli-chen Nutzgegenständen aufzeigen und Empathie für die Lebensbedingungen in historisch gewachsenen Dingwelten wecken.»819

816 Wagner 2013, S. 213.

817 Wagner 2013, S. 215.

818 Wagner 2013, S. 213.

819 Wagner 2013, S. 215.

Auf ein produktives Moment in der Objektbegegnung weist dezidiert auch Han-nah Röttele hin. Im Rahmen ihrer Beobachtung von Teilnehmenden eines museums-pädagogischen Programms im Historischen Museum Hannover stellt sie fest, dass

«Schülerinnen und Schüler auf Gegenstände, Bild- oder Modellelemente re-agieren, die sie entweder als ‹bekannt› identifizieren oder die sie in irgendeiner Weise irritieren oder ihnen als ungewöhnlich erscheinen. Der Identifikation von ‹Bekanntem› folgt in vielen Fällen keine weitere Beschäftigung; es sei denn, es knüpft sich an die Identifikation ein weiteres inhaltliches Interesse.

In der Irritation kann hingegen ein verlängerter Wahrnehmungsmoment ste-cken und die Frage, wie die Wahrnehmungsirritation zu begründen ist.»820 Im Gegensatz zu Wagner stellt Röttele also keine Gleichzeitigkeit von Bekanntheit und Fremdheit fest, sondern unterscheidet nach zwei verschiedenen Formen der Objektbegegnung. Im Fall von Irritation sieht Röttele ähnlich wie Wagner ein Potenzial für die Anregung historischen Denkens.821 Innovativ an Rötteles Ansatz ist hierbei, den Moment der Wahrnehmung eines Objekts und das Entstehen einer historischen Frage integrativ zu denken. Bei der Objektbegegnung aufgrund von Irritation sei bereits «die historische Frage im Wahrnehmungsakt selbst angelegt».822

Die Ansätze Rötteles und Wagners unterscheiden sich mit ihrer Betonung der Bedeutung von (bedingter) Fremdheit ihrerseits von Überlegungen Heiner Trei-nens, der davon ausgeht, es werde lediglich sowieso Bekanntes betrachtet.823 Trei-nen vergleicht den Museumsbesuch mit der Nutzung von Massenmedien und bezeichnet ihn als «kulturelles window-shopping» bzw. als «aktives Dösen»:824

«Wir verweilen vor allem vor solchen Objekten, mit denen wir bereits vorweg, vor dem Museumsbesuch also, zu tun hatten. Sofern unser Wissen über die dahinterstehenden Objektklassen, über die Struktur der ausgestellten Objek-te also, ausgedehnt ist, genügen vielleicht wenige Blicke, um einen Merkmal-posten abzuhaken, Gedanken anzuregen, Wissen zu vervollständigen. Alles andere wird ‹mitgenommen›, das heisst: als blanke Abwechslung behandelt.»825

820 Röttele 2017, S. 119.

821 Röttele 2017, S. 123.

822 Röttele 2017, S. 123.

823 Treinen 1988, S. 34.

824 Treinen 1988, S. 33.

825 Treinen 1988, S. 33 f.

Auf ein Vorgehen im Stil eines Abhakens deutet auch ein Befund von Susie Wise hin, die allerdings nicht drauf eingeht, inwiefern dabei die Bekanntheit von Ob-jekten eine Rolle spielt. Sie stellt fest: «The basic script for exploring a museum exhibition with its objects on display is to walk in to the space, look at an object, read its label, and move to a next object. This is repeated multiple times until the visit is ‹done›.»826

Auf eine Bedeutung der Auseinandersetzung mit bereits Bekanntem statt Ir-ritierendem können meines Erachtens auch die Befunde Gun-Brit Thomas hin-deuten, die sie mittels Fragebogen und Lautem Denken bei einer Vitrine innerhalb der Ausstellung «Film und Fotografie» im Deutschen Museum in München ge-wonnen hat827 – auch wenn sie selbst ihre Ergebnisse nicht in dieser Hinsicht in einen grösseren Zusammenhang einordnet und diskutiert. Gemäss Thomas Fra-gebogenerhebung gehörte das Wiedererkennen von Apparaten zu einem von drei am ehesten von Besuchenden selbst geschilderten kognitiven Verarbeitungspro-zessen.828 Aus den mittels Lauten Denkens erhobenen Daten folgert Thoma, dass die Exponate «am ehesten dazu an[regen], das eigene Vorwissen zu aktivieren […]. Am seltensten werden durch die Exponate Fragen bei den Besucherinnen und Besucher[n] aufgeworfen.»829 Ergänzt um die Kategorien «Wiedererken-nung» und «Nennung von Alltagsbeispielen», die Thoma neben dem Vorwissen separat ausweist, was aber anhand der im Anhang befindlichen Ankerbeispiele nicht überzeugend ist, da sich diese für alle drei Kategorien in ihrer Struktur auf-fallend ähneln oder gar gleichen,830 wird die Bedeutung der Auseinandersetzung mit bereits Bekanntem zusätzlich unterstrichen.831

Sofern überhaupt von den Besuchenden Fragen während der Exponatbetrach-tung aufgeworfen werden, sind diese Thoma zufolge nie komplex, sondern «aus-schliesslich einfach»,832 was gemäss Kategorienbeschreibung bedeutet, dass das

826 Wise 2011, S. 75. Wie bereits erwähnt, verwendet Wise allerdings einen breiten Objekt-begriff und zählt dazu etwa auch ein «text panel» (ebd., S. 92).

827 Thoma 2009, S. 82 ff.

828 Thoma 2009, S. 120. Die zwei anderen Aspekte sind das Entdecken von «Gemeinsamkei-ten und Unterschiede[n] zwischen den Appara«Gemeinsamkei-ten» und das Sich-Vorstellen, «wie Leute zu den verschiedenen Zeiten mit den einzelnen Apparaten fotografiert haben» (ebd., S. 120).

829 Thoma 2009, S. 137.

830 Thoma 2009, S. 221 f.

831 Entsprechende quantitative Befunde für die Kategorien im Vergleich sind ersichtlich in Thoma 2009, S. 137.

832 Thoma 2009, S. 138.

Fragen darauf zielt, «was das für ein Exponat ist und was seine Funktion ist».833 Und auch generell stellt Thoma fest, «dass alle kognitiven Prozesse eher in einfa-cher als in komplexer Form vollzogen werden»,834 wobei in der einfachen Form von Thoma gemäss Ankerbeispielen in mehreren Fällen identifizierende Tätigkei-ten oder entsprechende Fragen/Vermutungen erfasst werden,835 ohne dass Tho-ma diese auffallende Parallele zwischen den einzelnen Kategorien reflektieren würde. Sie verpasst auf diese Weise die Gelegenheit, auf eine offensichtlich hohe Bedeutung der Auseinandersetzung mit bereits Bekanntem einerseits und identi-fizierender Aktivitäten andererseits hinzweisen. Inwieweit diese Befunde der spe-zifisch zugrunde liegenden Ausstellung geschuldet sind oder vielleicht generell ein Charakteristikum von Ausstellungsbesuchen darstellen, lässt sich freilich auf Basis einer einzelnen Studie nicht aufzeigen.

Fragen darauf zielt, «was das für ein Exponat ist und was seine Funktion ist».833 Und auch generell stellt Thoma fest, «dass alle kognitiven Prozesse eher in einfa-cher als in komplexer Form vollzogen werden»,834 wobei in der einfachen Form von Thoma gemäss Ankerbeispielen in mehreren Fällen identifizierende Tätigkei-ten oder entsprechende Fragen/Vermutungen erfasst werden,835 ohne dass Tho-ma diese auffallende Parallele zwischen den einzelnen Kategorien reflektieren würde. Sie verpasst auf diese Weise die Gelegenheit, auf eine offensichtlich hohe Bedeutung der Auseinandersetzung mit bereits Bekanntem einerseits und identi-fizierender Aktivitäten andererseits hinzweisen. Inwieweit diese Befunde der spe-zifisch zugrunde liegenden Ausstellung geschuldet sind oder vielleicht generell ein Charakteristikum von Ausstellungsbesuchen darstellen, lässt sich freilich auf Basis einer einzelnen Studie nicht aufzeigen.