• Keine Ergebnisse gefunden

Besuchende: Lernen und Aneignen in Museum und Ausstellung

Historische Museen und Ausstellungen und deren Besuchende

3.2 Besuchende: Lernen und Aneignen in Museum und Ausstellung

Während ich mich bislang mit den Merkmalen historischer Museen und Ausstel-lungen beschäftigt und damit diese Manifestationen angebotsseitig betrachtet habe, frage ich nun, wie in theoretischer Hinsicht über die Nutzung von Museen und Ausstellungen durch Besuchende gedacht wird. Da in der Literatur zumeist von «Museumsbesuchenden» und nicht den «Besuchenden in Ausstellungen» die Rede ist, auch dann, wenn im engeren Sinn die Besuche der Ausstellungsräum-lichkeiten gemeint sind, gebrauche ich nachfolgend beide Begriffe, wechselweise oder in Kombination, um je nach Verwendungszusammenhang meiner eigenen Begriffssetzung und der geläufigen Bezeichnung in der rezipierten Literatur ge-recht zu werden.

Der vorzufindende Literaturbestand ist umfangreich, und nicht immer sind dabei theoretische Überlegungen und empirische Untersuchungen klar voneinan-der zu trennen. Ich versuche trotzdem eine Unterscheidung, indem ich mich nun zunächst den theoretischen Überlegungen zuwende, bevor ich später in einem separaten Abschnitt (Kapitel 5) die empirische Forschungslage in Bezug auf Mu-seums- bzw. Ausstellungsbesuchende thematisiere.

Die Unterscheidung theoretischer und empirischer Zugänge empfiehlt sich nicht nur in systematischer Hinsicht, sondern auch, um zu verdeutlichen, dass ein grosser Bestand an theoretischen Annahmen darüber existiert, wie die Nutzung von Museen bzw. Ausstellungen abläuft,390 und dass diese zwar inzwischen auch von einem umfangreichen Bestand an empirischen Untersuchungen flankiert wer-den, gleichwohl aber bislang in manchen Bereichen empirischer Forschungsbedarf

389 Vgl. Abschnitt 3.4 sowie Kapitel 9.

390 So auch die Feststellung bei Kohler 2014, S. 83 f.

besteht. Jedoch mangelt es bislang, wie Christian Kohler feststellt, an einer «Rück-kopplung» zwischen neueren empirischen Untersuchungen und den oft ohne empirischen Bezug formulierten theoretischen und normativen Annahmen.391 Angesichts dieser Desiderate begründe ich anschliessend die Notwendigkeit mei-ner Untersuchung.

Museen werden in der didaktischen Literatur gelegentlich als «informelle Lern-orte»392oder «non-formale Lernorte»393, häufig auch als «ausserschulische Lern-orte»394 thematisiert. Mit diesen Begriffen kann je nach Verwendungszusammenhang Unterschiedliches gemeint sein, wie Oliver Plessow für die Geschichtsdidaktik und deren Gebrauchsweisen des Begriffs des Ausserschulischen herausarbeitet.395 Plessow unterscheidet zwei Bedeutungsvarianten des Begriffs, nämlich eine schulbezogene und eine schulkomplementäre Verwendung, wobei Erstere «von der Schule verant-wortete Lernaktivitäten ausserhalb des Klassenraums und Schulgeländes» umfasst, Zweitere «das Engagement nicht-schulischer Bildungsakteure» meint.396 Museen seien nach beiden Verwendungsweisen als ausserschulische Lernorte einzustufen, sie seien «hybride Einrichtungen», die einerseits zum Ziel im Rahmen des Schulunter-richts unternommener Exkursionen würden, gleichzeitig «als etablierte eigenstän-dige Bildungsinstitutionen […] keinesfalls zwingend allein an Schule gerichtete […]

professionelle pädagogische Angebote bereitstellen».397 Ungeachtet des jeweiligen Be-deutungsgehalts sei, so stellt Plessow fest, der «Terminus meist positiv konnotiert».398 Tatsächlich wird ausserschulischen Lernorten in der Literatur eine Reihe von Potenzialen zugeschrieben. So wird davon ausgegangen, dass ausserschulische Lernorte einen höheren Bezug zur Lebenswelt der sie Nutzenden haben, dass ihr Besuch entdeckendes und handlungsorientiertes Lernen begünstigt, «die Mög-lichkeit der unmittelbaren Begegnung mit einem Lerngegenstand und/oder Sach-verhalt» bietet und sich diese Begegnung durch Originalität und Authentizität auszeichnet399 – wobei Konzepte von Originalität und Authentizität ihrerseits als

391 Kohler 2014, S. 84.

392 Hartung 2009, S. 158; Lewalter 2009, S. 45; Pleitner 2008, S. 101.

393 Plessow 2015, S. 26.

394 Z. B. Messmer/Niederhäusern/Rempfler/Wilhelm 2011, S. 7; Plessow 2015, S. 24 f.

395 Plessow 2015.

396 Plessow 2015, S. 17.

397 Plessow 2015, S. 24.

398 Plessow 2015, S. 18.

399 Sauerborn/Brühne 2007, S.  15; Mayer 2009, S.  27 ff.; Messmer/Rempfler/Wilhelm 2011, S.  139; Messmer/Niederhäusern/Rempfler/Wilhelm 2011, S.  7, direktes Zitat:

ebd., Kursivsetzung analog zum Original.

befragungswürdig gelten.400 Vielfach werden diese Potenziale vor dem Hinter-grund eines Vergleichs mit dem Lernen im schulischen Klassenzimmer entfaltet.401 Der fachdidaktische und erziehungswissenschaftliche Diskurs um ausserschuli-sche Lernorte, spezifiausserschuli-scher um historiausserschuli-sche Museen als ausserschuliausserschuli-sche Lernorte, stellt für meine Arbeit relevante Bezugsliteratur dar. Allerdings thematisiere ich selbst Museen aus zweierlei Gründen begrifflich nicht als ausserschulische Lernorte.

Erstens ist dem Begriff «ausserschulisch» sprachlich als Referenz- und Ver-gleichspunkt das schulische Lernen inhärent402, selbst wenn er eigentlich in schul-komplementärer Weise gemeint wäre. Angesichts dessen, dass mein Projekt aus-schliesslich mit erwachsenen Besuchenden durchgeführt wurde, die die Ausstellung nicht im Rahmen des schulischen Geschichtsunterrichts besuchten, könnte eine Verwendung des Begriffs des ausserschulischen Lernens zu irreleitenden Konnota-tionen führen.

Zweitens gilt es zu betonen, dass Lernen im engeren Sinn nur teilweise einen Gegenstandsbereich meines Forschungsprojekts bildet, nämlich dann nur bedingt, wenn Lernen erstens in einem engeren Sinn als feststellbarer Zuwachs von Wissen oder Fähigkeiten betrachtet wird,403 nicht breiter verstanden etwa als «Veränderung an und in der ‹Zielperson›»,404 und damit zweitens genau genommen erst vom Er-gebnis aus betrachtet konstatiert werden kann. Demgegenüber interessiere ich mich stärker für den Prozess des Ausstellungsbesuchs, weniger für dessen Resultate.

Gleichwohl ist mein Forschungsanliegen mit breiteren theoretischen Konzep-tionen von Lernen in Deckung zu bringen. So regt George E. Hein an, «education as ‹meaningful experience› rather than ‹defined content outcome›» zu verstehen.

Ein solches Verständnis sei «broad enough to include enjoyment, satisfaction, and other outcomes from experiences».405 Eine ganze Reihe von Autorinnen und Au-toren betont in diesem Sinn, dass Museumsbesuche mehr seien als der Erwerb von

400 Messmer/Rempfler/Wilhelm 2011, S. 139 f.

401 Einer entsprechenden Gegenüberstellung bedienen sich etwa: Sauerborn/Brühne 2007, S. 15; Thomas 2009, S. 284 ff.

402 Plessow 2015, S. 21. Dies gilt meines Erachtens auch dann, wenn ausserschulisches Lernen definitionsgemäss eigentlich sogar Erwachsene mit meinen soll, wie bei Messmer/Nieder-häusern/Rempfler/Wilhelm, die ausserschulische Lernorte definieren als «Orte ausserhalb des Schulhauses, an denen Personen jeglichen Alters im Rahmen formaler, non-formaler oder informeller Bildung lernen können» (Messmer/Niederhäusern/Rempfler/Wilhelm 2011, S. 7).

403 Z. B. Dinkelaker 2011, S. 133.

404 Nieke 2016, S. 28.

405 Hein 2006, S. 348.

Wissen oder Sachkenntnissen,406 wobei in diesen Kontexten mutmasslich eher ein enger Wissensbegriff im Sinn eines first-order knowledge407 leitend ist.

Einen solch engen Begriff überschreitend, listet Manfred Prenzel stattdessen ein ganzes Spektrum des Lernens im Museum auf, das «Formen des absichtlichen und beiläufigen Lernens» umfasse, verschiedene «Ausprägungen des kognitiven Lernens» wie etwa «Ebenen des konzeptuellen Verstehens, von episodischem Wis-sen, von prozeduralem oder strategischem Wissen», aber auch «Meta-Kognition und Reflexion» und neben dem kognitiven Bereich «das Lernen von Motiven, Überzeugungen, Gefühlen, Perspektiven oder Handlungsmustern», «Einstellun-gen und Überzeugun«Einstellun-gen».408 Zudem könne das Museum «ästhetische Empfin-dungen auslösen» und habe «als gemeinsames Erlebnis» auch eine «soziale Seite des Lernens», sodass Prenzel in der Summe zu dem Befund kommt, man könne

«im Museum nicht nicht lernen».409

Einen breiteren Lernbegriff vertreten auch Annette Noschka-Roos und Doris Lewalter, wenn sie über Museen als Orte der «ästhetischen Erfahrung» und der

«ästhetischen Bildung» schreiben.410 Es komme dabei darauf an, Bildung als Pro-zess und nicht vom Produkt her zu denken und Bildung zugleich breit zu kon-zeptualisieren: «Bildung wird als ein subjektives Vermögen, die Welt zu erschlies-sen, betrachtet und alle Formen – kognitive ebenso wie emotionale oder soziale – einbezogen».411

Mein Forschungsinteresse zielt also auf eine möglicherweise grosse Bandbrei-te von Erfahrungen beim Museums- bzw. AussBandbrei-tellungsbesuch, die den Zuwachs von Wissen und Kompetenzen nicht ausschliessen, jedoch keineswegs darauf be-schränkt werden, oder wie Sharon Macdonald, hier wiederum unter Annahme

406 So Stephan Schwan: «Zwar kann ein Museumsbesuch dazu beitragen, Sachkenntnisse zu erweitern und zu vertiefen. Er lässt sich jedoch nicht darauf reduzieren, denn er befriedigt noch eine Vielzahl weiterer Bedürfnisse» (Schwan 2012, S. 46).

407 Im Sinn der bereits weiter oben eingeführten Definition bei VanSledright/Limón, von welchen «First-Order Conceptual and Narrative Ideas and Knowledge», als Wissen auf

«who, what, where, when and how questions» verstanden werden (VanSledright/Limón 2006, S. 547).

408 Prenzel 2009, S. 137 f.

409 Prenzel 2009, S. 138.

410 Noschka-Roos/Lewalter 2013, S. 199. Zur Idee der ästhetischen Bildung siehe die Aus-führungen in Abschnitt 3.4.3. Die Unterscheidung von zwei grundlegenden Zugängen in der Museumsbesucherforschung habe ich bereits einmal in Thyroff 2017c, S.  2, ange-schnitten.

411 Noschka-Roos/Lewalter 2013, S. 201.

eines engen Lernverständnisses, formuliert: «[T]he ways in which visitors interact with museums cannot be confined to learning and education.»412

Die geschilderten Positionen tragen einem Blickwinkel auf Museums- bzw.

Ausstellungsbesuchende Rechnung, der einerseits die Aufmerksamkeit von defi-nierten Ergebnissen des Besuchs ablöst und stärker Prozesse des Besuchs in den Blick nimmt, gleichzeitig die Individualität dieser Prozesse betont. Folgt man Noschka-Roos und Lewalter, so sind diese Perspektiven für jüngere Forschungen zu Besuchenden überwiegend. Die Autorinnen unterscheiden Untersuchungen zum Lernen im Museum nach zwei Phasen bzw. Zugängen, nämlich danach, ob sie eine «instruktionale Perspektive» oder eine «konstruktivistische Perspektive»

auf Lernprozesse verfolgen.413 Die instruktionale Perspektive sei in einer ersten Phase der Besuchendenforschung ab den 1970er-Jahren vorherrschend gewesen, wobei das Forschungsinteresse darin bestand, herauszufinden, «inwieweit Besu-cher tatsächlich die präsentierten Inhalte mit der angestrebten Botschaft der Aus-stellung wahrnehmen, verarbeiten und schliesslich erinnern können», um an-schliessend «die instruktionale Seite der Informationspräsentation in Museen und Ausstellungen zu optimieren».414 Für diese Art der Forschung ist also ein Bild leitend, demzufolge Besuchende die vorgegebenen Deutungen der Ausstellungs-machenden idealerweise möglichst unverändert übernehmen. Dem stellen Nosch-ka-Roos und Lewalter eine konstruktivistische Perspektive gegenüber, die der «In-dividualität und Vielfältigkeit von Lernprozessen im Museum» Rechnung trägt.415 Diese Perspektive erlaube im Gegensatz zur erstgenannten, «Lernprozesse im Museum […] differenzierter zu betrachten und als wechselseitigen Prozess zu konzeptualisieren».416

John H. Falk, Lynn D. Dierking und Marianna Adams sowie Eilean Hooper-Greenhill kommen für die US-amerikanische und britische Forschung zu einem

412 Macdonald 2006, S. 320.

413 Noschka-Roos/Lewalter 2013, S. 206 ff. und 208 ff.

Knapp eingegangen auf diese zwei Phasen bin ich auch bereits in Thyroff 2017c, S. 2.

414 Noschka-Roos/Lewalter 2013, S. 206.

415 Noschka-Roos/Lewalter 2013, S. 208.

416 Noschka-Roos/Lewalter 2013, S. 208.

Nicht nur die «rezeptive Weltaneignung», sondern auch die «produktive Weltaneignung»

im Museum zu ermöglichen, stellt Eckart Liebau zufolge eine allerdings gar nicht so neue, sondern reformpädagogische Forderung dar und solle nicht zuletzt auch dem Zweck die-nen, weitere Adressatenkreise zu erschliessen (Liebau 2012, S. 43). Die Integration dieser Idee in die Museums(besuchenden)theorie und -forschung scheint allerdings erst in jün-gerer Vergangenheit erfolgt zu sein.

ganz ähnlichen Befund. Sie stellen einen Wandel von einem hier als behavioristisch bezeichneten Blick auf Besuchende bzw. Lernende hin zu einer konstruktivisti-schen Perspektive ab den 1980er- und 1990er-Jahren fest.417 So habe es einen Wechsel gegeben «from thinking about visitors as an undifferentiated mass public to beginning to accept visitors as active interpreters and performers of meaning-making practices within complex cultural sites».418 Frühere Studien hätten «fo-cused on whether the exhibitions visitor had understood the message that the exhibition intended to transmit».419 Das behavioristische Modell sei gekennzeich-net durch die Annahme, dass «all visitors to the museum will emerge having had the same experience and having learned exactly the same thing. The constructivist model, however, sees learning as a highly contextual process.»420

Falk, Dierking und Adams nehmen denn auch diese Kontexte in den Blick, die ihrer Ansicht nach individuelle Besuchsverläufe prägen, wobei sie in «personal, socio-cultural, and physical contexts» unterscheiden.421 Zum personal context zäh-len sie beispielsweise die individuelle Biografie, Vorwissen, Interessen, Überzeu-gungen, während der socio-cultural context Beeinflussungen aufgrund sozialer und kultureller Zugehörigkeiten meint, einschliesslich sozialer Interaktionen in der Besuchssituation, und der physical context die vorhandenen räumlichen Gegeben-heiten in der besuchten Ausstellung, wie etwa Architektur, Beleuchtung, Grad der Informationsfülle.422 Die Forschenden tragen mit ihrer Modellierung der Einsicht Rechnung, dass beim Museums- bzw. Ausstellungsbesuch individuelle Bedeutun-gen Bedeutun-generiert werden und dass dies, wie schon Grütter feststellte, «immer vor dem Hintergrund eigener Kenntnis und Erfahrung»423 geschieht.

Die auf den letzten Seiten vorgestellten Überlegungen wurden jüngst von Christian Kohler in ein «domänenspezifisches Modell des musealen Lernens»424

417 Falk/Dierking/Adams 2006, S. 325; Hooper-Greenhill 2006, S. 368.

418 Hooper-Greenhill 2006, S. 362.

419 Hooper-Greenhill (2006), S. 366. Falk/Dierking/Adams gehen davon aus, dass für die praktische Museumsarbeit nach wie vor eine behavioristische Lernvorstellung leitend ist (Falk/Dierking/Adams 2006, S.  325). Überlegungen dazu, welche Auswirkungen der Wandel von einer behavioristischen, instruktionalen Perspektive hin zu einem konstrukti-vistischen Blickwinkel für die Ausstellungsgestaltung und museumspädagogische Praxis hat, finden sich im selben Sammelband bei Hein (Hein 2006, v. a. S. 347 ff.).

420 Falk/Dierking/Adams 2006, S. 325.

421 Falk/Dierking/Adams 2006, S. 327, Kursivsetzung analog zum Original.

422 Falk/Dierking/Adams 2006, S. 327.

423 Grütter 1997b, S. 672; dazu auch: Falk/Dierking/Adams 2006, S. 326 ff.

424 Kohler 2016, S. 70.

überführt, das ich andernorts bereits rezipiert habe425; ich greife hier auf meine dortige Beschreibung zurück. In seinem Modell nimmt Kohler

«einerseits Bezug auf vorliegende theoretische Überlegungen zum Medium Museum, zu seinen Konstruktionsbedingungen und lernortspezifischen Beson-derheiten. Andererseits greift er auch auf Arbeiten der Museumsbesucherfor-schung zurück, namentlich und insbesondere auf das von Falk und Dierking entwickelte ‹Contextual Model of Learning›, und rezipiert bzw. integriert deren Ergebnisse. Kohlers Modell nimmt einerseits museales Lernen in seiner Prozess-haftigkeit in den Blick und modelliert einen Dreischritt aus Lernvoraussetzun-gen, Besuchssituation und Lernergebnissen. Zugleich betrachtet es Lernen im Museum als individuellen Konstruktionsprozess, der in seiner Individualität doch einer Reihe von Bedingungen und Faktoren unterliegt, konkret den indi-viduellen Lernvoraussetzungen, der aktuellen sozialen Situation und dem phy-sisch vorhandenen Ausstellungskontext und dessen Dimensionen.»426

Aus der Modellierung Kohlers – und den Abschnitt insgesamt zusammenfassend – wird deutlich: Was beim Besuch einer historischen Ausstellung passiert, kann viel mehr sein als ein lediglich passives Zurkenntnisnehmen einer vorgefertigten, vor-gegebenen Erzählung über Vergangenes. «From a constructivist perspective, lear-ning in and from museums is not just about what the museum wishes to teach the visitor. It is as much about what meaning the visitor chooses to make of the mu-seum experience.»427 Oder mit Heinrich Theodor Grütter gesprochen: «Der Be-sucher ist nicht nur Leser, er ist zugleich Produzent seines Textes.»428 Derartige Hinweise auf die aktive, erschliessende Rolle von Besuchenden in Abwendung von einer passiven Konsumentensicht sind vielerorts in der Literatur zu finden. So regen Annette Noschka-Roos und Doris Lewalter an, «Besucher im erschliessen-den Umgang mit erschliessen-den Objekten nicht in der Rolle als passive Konsumenten, son-dern als aktive Produzenten zu betrachten»,429 und im Vorwort zum Sammelband

425 Vgl. Thyroff 2017d.

426 So von mir im Rahmen der genannten Rezension zusammengefasst (Thyroff 2017d, S. 285 f.), wobei ich mich mit den Ausführungen auf die Darstellung von Kohlers Modell in Kohler 2016, S. 70, beziehe.

427 Falk/Dierking/Adams 2006, S. 325.

428 Grütter 1997c, S. 711.

429 Noschka-Roos/Lewalter 2013, S. 211, dazu auch S. 212.

«Geschichte erfahren im Museum» heisst es: «Die Ausstellungsbesucher sind nicht nur Leserinnen und Leser, sie produzieren ihre eigene Narration.»430

Kristine A. Morrissey fasst die Grundannahmen der von ihr als postmodern deklarierten Perspektiven auf Besuchende in drei Punkten zusammen:

a) «the visitor is actively engaged in creating knowledge», b) «learning is a process, not a product» und

c) «knowledge is not transmitted from one person to another, but construc-ted and continually negotiaconstruc-ted and renegotiaconstruc-ted».431

Um dieser Ausgangslage Rechnung zu tragen, bietet sich ein alternativer Begriff zum Lernbegriff an, obwohl der Lernbegriff, wie ich gezeigt habe, durchaus weit auslegbar ist. Aufgrund seiner bisweilen aber doch eng verstandenen Konnotation und zur Vorbeugung von Missverständnissen bevorzuge ich jedoch den Begriff der Aneignung. Dieser wird zum Beispiel in der Medienpädagogik verwendet und findet zunehmend Eingang auch in die Erforschung des Umgangs mit Museen und anderen ausserschulischen Lernorten.432

Bernd Schorb grenzt den Begriff «Medienaneignung» ab von den Begriffen

«Medienkonsum», «Mediennutzung» und «Medienrezeption»:433

«Gemeinsam ist allen diesen Begriffen, dass sie das Verhältnis der Menschen zu den Medien beschreiben wollen. Unterschiedlich ist die Sichtweise, die sie auf die Stellung des Menschen in diesem Verhältnis haben. Medienkonsum wählt das Bild, dass Medien einverleibt werden wie beispielsweise Nahrung.

Der Konsument ist dabei im Grunde passiv und die Medien entfalten ihre Wirkung mehr oder minder selbstständig in ihm, in seinem Denken und Han-deln. Der Begriff Mediennutzung legt die Betonung auf den sichtbaren Akt

430 Grütter/Kuhn 2014, S. 12.

431 Morrissey 2002, S. 288.

432 Für die Medienpädagogik: Schorb 2009; für die Übertragung des Aneignungsbegriffs von Schorb auf die Nuztzung ausserschulischer Lernorte wurde ich durch die Ausschreibung für die Tagung «Aneignungspraktiken an ausserschulischen Lernorten» inspiriert (Sommer 2016), die am 9. und 10. Juni 2017 an der Pädagogischen Hochschule Luzern stattfand.

Explizit erwähnt in Bezug auf Museumsbesuchende wird der Aneignungsbegriff ausserdem bei Noschka-Roos 2001, S. 89. Im Titel von museumsbezogenen Publikationen findet der Begriff Verwendung bei Borsdorf et al. 2004a sowie Kunz-Ott et al. 2009.

433 Schorb 2009, S. 182.

des Gebrauchs von Medien […]. Bei all diesen Begriffen ist das Verhältnis der Menschen zu den Medien dadurch gekennzeichnet, dass sie den Medien ge-genüberstehen und diese auf sie einwirken.»434

Demgegenüber versteht Schorb «Medienaneignung» als einen Begriff, der der Idee Rechnung trägt,

«dass der Mensch aktiv ist und sich handelnd die Medien aneignet. Der Mensch wird grundsätzlich als ein bewusst handelndes Wesen gesehen. […] Das bedeu-tet aber nicht, dass jeder Mensch während seines Medienhandelns immer diese Absicht aussprechen und/oder erklären kann, aber sehr wohl, dass er sie selbst erkennen und auch rekonstruieren kann und dass er für sein Medienhandeln grundsätzlich wie für jedes andere individuelle Handeln verantwortlich ist.»435 Ausgehend von diesem Begriffsverständnis, halte ich den Aneignungsbegriff für gut geeignet, um die oben ausgeführten Annahmen über die Aktivität von Muse-ums-/Ausstellungsbesuchenden Rechnung zu tragen, wobei in diesem Fall der Begriff «Medium», sofern überhaupt noch verwendet, nicht eng gefasst und dann bezogen auf den «Medieneinsatz»436 in historischen Ausstellungen zu verstehen ist, sondern breiter in Bezug auf die gesamte geschichtskulturelle Manifestation, mit der die Besuchenden in Kontakt kommen.437

Der Aneignungsbegriff trägt zudem auch auf sprachlicher Ebene dem verfolg-ten Forschungsanliegen Rechnung, betont er doch durch den Begriffsbestandteil des Eigenen, dass es darum geht, einen Gegenstand auf die eigene Person zu bezie-hen, Bezüge zur eigenen Person herzustellen, sich einen Gegenstand eben anzu-eignen, und dabei auf durchaus individuelle, aktive, kreative, konstruktive Weise.

Die Begriffswahl korrespondiert insofern insbesondere mit der zweiten verfolgten Forschungsfrage, die darauf zielt, herauszufinden, ob, wie und in welchen Hin-sichten Besuchende beim Besuch einer historischen Ausstellung Bezüge zur eige-nen Person und Zeit herstellen.

434 Schorb 2009, S. 182.

435 Schorb 2009, S. 182.

436 Eine solche mögliche Engführung des Begriffs im Zusammenhang mit ausserschulischen Lernorten wird in dem o. g. Call abgelehnt (Sommer 2016).

437 In Bezug auf ganze Ausstellungen wird der Begriff «Medium» verwendet bei Schönemann 2014, S. 19. Vgl. zu Vorbehalten gegenüber dem Medienbegriff die Hinweise im vorigen Abschnitt.

Trotz Bevorzugung des Aneignungsbegriffs ist der Lernbegriff für mein For-schungsprojekt nicht völlig obsolet, ist doch das auf den letzten Seiten geschilder-te Verständnis der beim Aussgeschilder-tellungsbesuch ablaufenden Prozesse insbesondere mit Konzeptionen informellen Lernens in Einklang zu bringen. Wie ich weiter oben bereits angedeutet habe, werden Museen neben ihrer Klassifizierung als ausserschulische Lernorte bisweilen auch als informelle Lernorte thematisiert.438 Der Begriff des informellen Lernens erlebt derzeit eine Hochkonjunktur439 und geht einher mit einer zunehmenden, auch bildungspolitisch forcierten, Beschäfti-gung mit lebenslangem Lernen als Phänomen und auch normative Zielgrösse.440 Die Aufmerksamkeit richtet sich dabei auf Lernen als Lernen jenseits formalisierter Bildungsinstitutionen und in allen Altersstufen, als selbst gesteuertes Lernen und als Lernen, das in der Lebenswelt und in unterschiedlichen sozialen Zusammen-hängen stattfindet.441 Die mit der Rede vom informellen Lernen überdies

verbun-438 Hartung 2009, S. 158. Je nach Klassifikationssystem liessen sich Museen allerdings ebenso als Orte des non-formalen oder gar formalen Lernens begreifen, wie dies etwa Oliver Plessow tut (Plessow 2015, S. 26). So unterscheidet die «Classification of Learning Acti-vities» (CLA) der Europäischen Union nicht nur zweipolig in formales und informelles Lernen, sondern differenziert «formal education», «non-formal education» und «informal learning», wobei «non-formal education» im Gegensatz zu «informal learning» an Insti-tutionen erfolgt, diese institutionellen Angebote aber nicht, wie umgekehrt im Fall des

verbun-438 Hartung 2009, S. 158. Je nach Klassifikationssystem liessen sich Museen allerdings ebenso als Orte des non-formalen oder gar formalen Lernens begreifen, wie dies etwa Oliver Plessow tut (Plessow 2015, S. 26). So unterscheidet die «Classification of Learning Acti-vities» (CLA) der Europäischen Union nicht nur zweipolig in formales und informelles Lernen, sondern differenziert «formal education», «non-formal education» und «informal learning», wobei «non-formal education» im Gegensatz zu «informal learning» an Insti-tutionen erfolgt, diese institutionellen Angebote aber nicht, wie umgekehrt im Fall des