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Befunde zur Lebenswelt- und Gegenwartsrelevanz von Ausstellungsbesuchen Ausstellungsbesuchen

Ausstellungen: Zum Stand der empirischen Forschung

5.3 Befunde ausgewählter Studien

5.3.6 Befunde zur Lebenswelt- und Gegenwartsrelevanz von Ausstellungsbesuchen Ausstellungsbesuchen

Mit meiner Studie ziele ich schwerpunktmässig darauf, festzustellen, inwiefern Besuchende beim Besuch einer historischen Ausstellung Bezüge zu ihrer eigenen Person und Lebenswelt sowie Gegenwart herstellen. In einem weiteren Sinn ge-hören zur Lebensweltrelevanz viele der bereits geschilderten Befunde, etwa zu den emotionalen Dimensionen und Auswirkungen eines Museumsbesuchs. In einem engeren Sinn wende ich mich nun jedoch noch Studien zu, die Auskünfte über explizite Bezugnahme der Besuchenden auf ihre eigene Lebenswelt und Gegen-wart in den Blick nehmen. Hierzu gibt es bislang einen überschaubaren Kreis von empirischen Studien, die relevante Referenzpunkte bereitstellen.

Zu nennen ist erneut die bereits mehrfach zitierte Studie von Bert Pampel zu Besuchenden von Gedenkstätten.841 Pampel erhob in einer retrospektiven Befra-gung von Besuchenden unter anderem, «welche konkreten Verbindungen zwi-schen Vergangenheit und Gegenwart» die Besuchenden sahen,842 und stellt so-wohl von den Besuchenden genannte Themenbereiche wie beispielsweise

«Sterbehilfe», «Todesstrafe», «Rechtsextremismus» vor843 als auch die Struktur der Bezüge zwischen den Zeitebenen. So würden «[w]eit überwiegend […] Parallelen bzw. Kontinuitäten gesehen und Unterschiede nivelliert»844 – ein Befund, der den

839 Schuster/Ameln-Haffke 2006, S. 280 f., direkte Zitate: S. 281.

840 Schuster/Ameln-Haffke 2006, S. 287 f.

841 Pampel 2007.

842 Pampel 2007, S. 312.

843 Pampel 2007, S. 312 ff.

844 Pampel 2007, S. 319, dazu ausserdem S. 312 ff., S. 358.

meinigen ähnelt, wie ich später noch zeigen werde. Pampel kommt zu dem Schluss, und auch darin ähneln sich die Befunde, «dass viele Gesprächspartner den histo-rischen Ereignissen durchaus Bedeutung für die Gegenwart beimassen. Gegen-wartsbezüge gingen allerdings nur selten mit gründlichen Reflexionen oder gar persönlichen Schlussfolgerungen einher, sondern trugen oftmals den Charakter von flüchtigen Assoziationen, die nicht systematisch durchdacht werden».845

An Bezügen zur Gegenwart der Besuchenden stellt Pampel weiter fest, dass der Gedenkstättenbesuch in unterschiedlichem Mass «Interesse am Thema bzw.

an einer weiteren Beschäftigung» wecke und von den Besuchenden tendenziell als Anlass zur «Bestätigung des eigenen Geschichtsbildes» und nicht als Anlass von dessen Hinterfragung gedeutet werde.846 Unter der Überschrift «Bekräftigung und Veränderung von historischen und politischen Einstellungen» schildert Pam-pel, die meisten der von ihm beforschten Personen hätten

«sich durch den Besuch im Grossen und Ganzen in ihrer Deutung bzw. Be-wertung des historischen Geschehens bestätigt [gezeigt]. […] Informationen, die den eigenen Deutungsmustern widersprachen, wurden ignoriert, passend gemacht oder als nicht der Wahrheit entsprechend kritisiert, führten aber nicht zu einer grundsätzlichen Veränderung der eigenen Haltung. […] Vereinzelt wiesen Gesprächspartner aber auch auf Korrekturen an ihrem Bild von der Vergangenheit hin.»847

Auch auf die hier angesprochenen Aspekte, mögliche Bestätigungen oder Differen-zierungen von Geschichtsbildern, werde ich im Rahmen meiner eigenen Datenana-lyse noch zu sprechen kommen, dort allerdings die Befunde Pampels differenzieren.

5.3.7 Befunde zu Sinnbildung und historischem Denken in einer Ausstellung: Die Studie «Visitors encounter the dust. How People think with objects in a History Museum Exhibition»

von Susie Wise

Die engste Verwandtschaft zu meiner eigenen Untersuchung weist die Dissertati-onsschrift von Susie Wise aus dem Jahr 2011 auf.848 Wise’ Studie liegt in ihren

845 Pampel 2007, S. 319.

846 Pampel 2007, S. 323, S. 348.

847 Pampel 2007, S. 328 ff., direkte Zitate S. 328 u. 330.

848 Wise 2011.

thematischen Bezugspunkten quer zu einer Reihe der bislang in meinem For-schungsüberblick berücksichtigten Bereiche, behandelt etwa körperliche Prakti-ken im Raum, Formen der Objektbegegnung, Vorstellungen von der Manifesta-tion Museum/Ausstellung und ihren Elementen, auftretende EmoManifesta-tionen und Bezüge zur eigenen Person, weshalb ich sie an den Schluss der Darstellung stelle und ihr einen gesonderten Abschnitt widme. Dies bietet sich zweitens auch des-halb an, weil Wise mit ihrer Studie noch einen weiteren Aspekt berücksichtigt, der bislang nicht Gegenstand des Forschungsüberblicks war, nämlich die Frage, wie und auf welche Weisen im Prozess eines Ausstellungsbesuchs durch die Besuchen-den Sinn gebildet und historisch gedacht wird. Bei der Studie von Wise handelt es sich um die einzige mir bislang bekannte, die wie die meinige Elemente des historischen Denkens und Sinnbildens bei Einzelpersonen im Verlauf des Besuchs einer historischen Ausstellung in den Blick nimmt.849

Unter dem Titel «Visitors encounter the dust. How People think with objects in a History Museum Exhibition» untersucht Wise, welche Gedanken der Besuch einer historischen Ausstellung, insbesondere der Kontakt mit den darin befindli-chen Objekten auslöst.850 Ort ihrer Untersuchung ist eine Ausstellung in New York. Diese zeigt einerseits das sogenannte Chelsea Jeans Memorial, Teile eines Jeansgeschäfts, das beim Einsturz des World Trade Center im September 2001 verstaubte und in diesem Zustand in die genannte Ausstellung transferiert wurde, wo neben dem Memorial Fotografien der Ereignisse rund um den 11. September gezeigt werden.851

Wise interessiert sich nun für «sense-making processes»,852 die bei Besuchen-den während ihres Gangs durch diese Ausstellung auftreten, und für die Rolle, die dabei die körperliche Bewegung im Raum spielt: «I show how visitors embody their interpretations as they move through the exhibition space.»853 Als Erhe-bungsmethode verwendet Wise das Prozessbegleitende Laute Denken während

849 Nachträglich mittels Stimulated Recall fragen danach Lenz/Talsnes 2014, im Kontext eines museumspädagogischen Programms ausserdem Schreiber et al. 2015.

850 Wise 2011, S. iv. Anzumerken ist, dass Wise einen breiteren Objektbegriff verwendet, als er in der deutschsprachigen Museumstheorie gebräuchlich ist. So fasst sie darunter kategorial auch Ausstellungstexte (Wise 2011, S. 92). In der Ergebnisdarstellung selbst (ebd., S. 37 ff.) geht sie dann allerdings nicht auf Texte, sondern konkret auf den Umgang mit den ausge-stellten Fotografien sowie dem Chelsea Jeans Memorial ein, das zuvor von ihr eingeführte weite Objektsverständnis macht sich also in der Auswertung selbst nicht bemerkbar.

851 Wise 2011, S. 1 ff.

852 Wise 2011, S. 32.

853 Wise 2011, S. 9.

des Ausstellungsbesuchs und ergänzt dieses um Videoaufzeichnungen mittels Ka-meras, an den Köpfen der Probandinnen und Probanden befestigt.854

Wise arbeitet insgesamt vier verschiedene Strategien des sense-making heraus.

Drei davon gewinnt sie mehrheitlich aus einer Analyse des gesprochenen Wortes des Besuchenden («interpreting», «emoting», «remembering»), eine vierte über den ergänzenden Einbezug der Laufwege und Körperhaltungen («embodied in-terpretative practices»), wobei sie gleichzeitig deutlich macht, dass alle vier For-men überhaupt erst durch die Bewegung im Raum, den Gang durch die Ausstel-lung möglich werden:855 «The space shapes their interaction.»856

Als grundlegende Form des sense-making führt Wise das «Interpreting» ein, verstanden als «fundamental building block of the exhibition experience», das sie am häufigsten in ihren Daten identifiziert.857 Leider liefert Wise keine prägnante Definition der Kategorie, aber sie fasst darunter «Identifying and describing»,

« Offering an opinion», «Employing gallery-based resources», «Requesting more information» und «Adding an interpretative layer», also eine Bandbreite von Ak-tivitäten, die von einem nah an das einzelne Objekt gebundenen Identifizieren und Beschreiben des Gesehenen über das Äussern von Meinungen bis hin zu weitreichenderen, übergreifenden Deutungen und Einordnungen reichen.858

Sofern Annäherungen an das Gesehene ganz unmittelbar in Zusammenhang mit körperlichem Verhalten gebracht werden, spricht Wise von «Embodied inter-pretative practices» und unterscheidet dabei «Leaning in to look closely», «Juxta-posing», «Walking a path of understanding» und «Changing vantage point».859 Alternative Sinnbildungsstrategien neben interpreting stellen Wise zufolge einer-seits das «Remembering» dar, wobei Besuchende «use remembering for sense-making in real time during their visit»860, sowie andererseits «Emoting», also das Äussern von Emotionen.861

Quer liegend zu diesen vier Formen der Sinnbildung analysiert Wise, auf welchen Fokus die Besuchenden ihre Aufmerksamkeit richten. Sie identifiziert auch hier vier Varianten: «Object», «Exhibition», also die Ausstellung als Ganzes,

854 Wise 2011, S. 10, S. 21, S. 27.

855 Wise 2011, S. 89.

856 Wise 2011, S. 142.

857 Wise 2011, S. 95, S. 97 ff., direkte Zitate: S. 98.

858 Wise 2011, S. 98 f.

859 Wise 2011, S. 74 ff.

860 Wise 2011, S. 113 ff., direkte Zitate: S. 113.

861 Wise 2011, S. 123 ff., direktes Zitat: S. 123.

die darin befindlichen Elemente und ihre Beziehungen, «Self», also die eigene Person der Besuchenden, sowie «Outside», alle ausserhalb der Ausstellung liegen-den Dinge, Ereignisse und Erfahrungen.862 Sie kommt zu dem Ergebnis, dass ein Grossteil des Besuchs aus Objektfokussierung besteht, wobei sie einen breiten Objektbegriff verwendet und dazu etwa auch ein «text panel» zählt.863

Wise zeigt im Verlauf ihrer Ergebnisdarstellung anhand von zahlreichen Bei-spielen, wie bestimmte Objekte unterschiedliche Sinnbildungsstrategien auslösen können.864 Dabei stellt sie beispielsweise fest, dass «Emoting» vor allem durch einen bestimmten Objekttyp, nämlich Fotografien, ausgelöst wird.865 Eine syste-matische Übersicht darüber, welche Typen von Objekten zusammen mit welchen Typen von Sinnbildungen auftreten, bleibt Wise allerdings – trotz Ankündigung866 – schuldig.

Bei Wise handelt es sich mit dem 11. September um ein Thema der unmittel-baren Zeitgeschichte, an das alle Teilnehmenden, mindestens vermittelt durch Medien, eine persönliche Erinnerung haben, bei dem sie zum Teil auch selbst unmittelbar von den Ereignissen betroffen waren.867 Dort kann der Besuch der Ausstellung potenziell autobiografische Erinnerungen anregen und Emotionen hervorrufen und tut dies auch, wie Wise feststellt.868 Ausgehend von Wise’ Befun-den stellt sich die Frage, wie sich die Situation demgegenüber bei BesuchenBefun-den der Ausstellung «14/18» darstellt. Die dort behandelte Periode, die Zeit des Ersten Weltkriegs, liegt sehr viel weiter zurück. Persönliche Erinnerungen an diese Zeit haben die Besuchenden keine. Gerade deshalb ist die Frage interessant, ob Besu-chende dem Gesehenen dennoch Bedeutung für ihre eigene Gegenwart beimessen.

Das Verdienst von Wise besteht vor allem darin, anhand von prozessbezoge-nen empirischen Daten unterschiedliche Strategien des sense-making bei Ausstel-lungsbesuchenden herausgearbeitet zu haben. Zu aufschlussreichen Befunden kommt Wise weiter aufgrund der Zusammensetzung ihres Samples. Wise achtete auf theoretisch kontrastierende Fälle und suchte gezielt nach Novizinnen und Novizen, Expertinnen und Experten im Hinblick auf das dargestellte Thema, den 11. September, und im Hinblick auf den Umgang mit Objekten und

Ausstellun-862 Wise 2011, S. 92.

863 Wise 2011, S. 92 f., direktes Zitat: S. 92.

864 Wise 2011, S. 90 ff.

865 Wise 2011, S. 125.

866 Wise 2011, S. 94.

867 Wise 2011, S. 34.

868 Wise 2011, S. 113 ff.

gen, wobei jeder der Typen von jeweils zwei bis drei der insgesamt sieben unter-suchten Personen repräsentiert wird.869

Das gewählte vergleichende Setting erwies sich als durchaus fruchtbar. So kommt Wise unter anderem zu dem Ergebnis, dass sich die Formen der Interpre-tation zwischen den an der Studie beteiligten Touristen und einer Historikerin auffällig unterscheiden.

«Whereas the tourists interpreted in order to understand what they were see-ing in the first place, the historians, who were no more familiar with the exhibition’s specific content, interpreted to create wider reaching narratives about what was happening either at the level of the object or the exhibition.»870 So beschränkte sich etwa ein Tourist im Umgang mit Objekten auf das Identifi-zieren des Gesehenen und versuchte zu verstehen, «what the museum wanted him to see».871 Einer Historikerin war stattdessen daran gelegen, die Bedeutung des Objekts und seinen Symbolgehalt zu erschliessen, sie habe die Ausstellung be-trachtet als «constructed space filled with objects that were chosen» und «revealed her knowledge that curators and designers created the exhibition and placed the objects, and that in so doing they also created potential meanings», das heisst, «she understood that curatorial choices have shaped the interpretations she has made».872 Diese Form des Umgangs mit Objekten und der Ausstellung als konstruiertem Raum bezeichnet Wise als «object-based historical thinking», angelehnt an das Konzept des Historical Thinking bei Sam Wineburg.873 Für Wise ist historisches Denken damit ein normatives Konzept, über das manche Besuchende als Exper-tinnen und Experten verfügen, andere hingegen nicht.874