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Figur-Grund-Wechselbeziehung und Pochoir-Technik

Im Dokument Film Farbe Fläche (Seite 152-158)

Eine der Eigenschaften der Pochoir-Technik ist, dass sie für die Einfärbung sowohl des Hintergrunds als auch des Motivs benutzt werden kann, d. h.

die ausgeschnittene Umrisslinie kann die Muster des Motivs auf zweifache

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Weise erschließen: Entweder man schneidet das Motiv in der Schablone so heraus, dass die Fläche des Hintergrunds die Schablone ausmacht, und innerhalb der Umrisslinien des Motivs die Farbe aufgetragen wird (Abb. 79);

oder umgekehrt, man schneidet die Schablone so aus, dass die Fläche des Motivs die Schablone konstituiert und die Farbe auf den Hintergrund, d. h.

außerhalb des Motivs aufgetragen wird (Abb. 80). Manche mit Schablonen erzeugte Muster haben daher eine dem Vexierbild ähnliche Qualität, da die Motive (im letztgenannten Fall) nicht mittels einer direkten Ausmalung

79 Die Hintergrundfläche konstituiert die Schablone, das Motiv wird eingefärbt

80 Die Motivfläche konstituiert die Schablone, der Hintergrund wird eingefärbt

des Motivs entstehen, sondern durch die Gestaltung des Hintergrunds. Die Umkehrbarkeit der Wahrnehmung einer Farbfläche als das Motiv oder den Hintergrund ausmachend ist daher dem Tatbestand zu verdanken, dass durch die Gestaltung des Hintergrunds in der Abbildung 80 eigentlich das Motiv hervorgebracht wird. In gewisser Hinsicht erscheint somit das Motiv als begleitend zu dem eigentlich Angemalten. Verneuil präzisiert, wie zwei solche unterschiedliche Weisen von Schablonenmotiven erzeugt werden:

Le caractère de ces deux dessins est différent, et voici pourquoi. Dans la fi-gure 140 [in Verneuil 1903, 100; hier: Abb. 79], c’est le fond qui est réservé.

Il doit donc passer partout, entourer et détailler le motif. Dans la figure 141 [in ebd., 101; hier: Abb. 80], c’est au contraire le motif qui est réservé. Toutes les parties de ce motif doivent donc se toucher, se rejoindre afin d’assurer la solidité du pochoir. Nous verrons ensuite que ces deux systèmes peuvent être réunis dans le cas de motifs à plusieurs pochoirs et à trait réservé.

(Verneuil 1903, 106 ff.) Diese Beschreibung von Verneuil funktioniert sinnbildlich als eine Figur der Verschränkung von Hintergrund und Motiv auf der Fläche als dem zweidimensionalen Raum. Wichtig ist auch die von ihm adressierte Mög-lichkeit, diese zwei Vorgehensweisen der Schablonenmalerei zu kombi-nieren, da es so zu einem noch dynamischeren wechselseitigen Verhält-nis von angemaltem Motiv mit dem angemalten Hintergrund kommt. Im Film wurde die Pochoir-Technik primär für die Kolorierung von Motiven benutzt, auch wenn interessante Gegenbeispiele existieren.

In vielen Beispielen der Féerien ist das kolorierte Motiv vor schwar-zem Hintergrund platziert. Zum einen erleichtert ein schwarzer Hinter-grund die Kolorierung (es ist wesentlich unkomplizierter, konturentreu zu bleiben, wenn der Hintergrund nicht einen über die Umrisslinie rei-chenden Farbanstrich augenfällig macht). Andererseits hat das Schwarz als Hintergrund auch einen eigenen (nicht-)chromatischen bzw. ästheti-schen Wert, indem es zugleich das Motiv klar hervorhebt, es aber auch in die Fläche integriert – ganz im Sinne eines Flächenraums. Es kommt entsprechend zu einer Einbeziehung des Grundes in ein Ganzes, das sich auf der zweidimensionalen Fläche erstreckt. Ornament als Motiv – so wie dies von Verneuil in den bereits genannten Beispielen der Pochoir-Technik beschrieben wird – eignet sich insbesondere für eine Zusammenführung des Grundes und des Motivs auf einer planimetrischen Ebene.

Kiriki, acrobates japonais (Segundo de Chomón, F 1907) bietet ein beson-ders auffälliges Beispiel des Zum-Ornament-Werdens der kolorierten Figuren vor einem schwarzen Hintergrund. Der Film ist aus der

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Perspektive aufgenommen und zeigt eine Truppe vorgeblich japanischer Akrobaten, die unterschiedliche, der Schwerkraft trotzende Nummern vorführen. Die meisten von ihnen basieren darauf, dass die Artisten aufei-nander klettern, sodass das Hauptgewicht auf derjenigen Person lastet, die als einzige auf dem Boden steht und alle anderen sich auf ihr befindenden Personen balancierend in der Luft hält. Die filmische Durchführbarkeit der ‹unmöglichen› akrobatischen Figuren ist dem Tatbestand zu verdan-ken, dass die Akteure – aufgrund der Top-Shot-Kameraperspektive – ihr Kunststück realiter auf dem Boden liegend vollführen,27 durch die Rah-mung im Bild aber suggeriert wird, der untere Rand des Bildes stelle den Bühnenboden dar. Die ‹unmögliche› Akrobatik der Truppe geht jedoch nie in das Fantastische über: Wie unwahrscheinlich die Durchführung ihrer Nummern auch erscheint, so wird die Glaubwürdigkeit dadurch gewähr-leistet, dass die Figuren immer einander halten bzw. in nachvollziehbarer Weise verbunden sind (Abb. 81–84). Es kommt zu einer höchst ornamenta-len Bildkomposition, in der die partiell aufgetragene Farbe nicht nur durch den schwarzen Hintergrund hervorgehoben wird, sondern auch Teil einer

27 Vgl. hierzu die Abbildung im zweiten Kapitel, die am Beispiel einer Sirene und einer Unter-wasserszene zeigt, wie ähnliche Top Shots auf schwarzem Stoff aufgenommen wurden.

81–84 Kiriki, acrobates japonais (Segundo de Chomón, F 1907), die kolorierten Figuren werden zum Ornament vor schwarzem Hintergrund

harmonischen, häufig symmetrischen Gestaltung ist. Die ornamentale Komposition der Figuren hat zudem eine Qualität, die man in den Tex-ten über die Schablonenkolorierung als Anspruch an das Ornament findet:

Alle Teile des Designs sind miteinander verbunden (vgl. Abb. 80) sodass es keine Lücken zwischen den einzelnen Elementen des Ornaments gibt.28 In den normativen Anleitungen zur Pochoir-Technik wird deutlich gemacht, dass ein lückenloses Ornament eine stabile Schablone zum Zweck hat. In Kiriki sind allerdings in der Kolorierung der Personen mehrere Schab-lonen zum Einsatz gekommen, und die lückenlose Verbindung der Figu-ren zu einer ornamentalen Struktur wurde nicht ausschließlich mit einer einzelnen stabilen Schablone geleistet, wie sie ansonsten für monochrome Motive notwendig wäre. Dennoch hat die Verbindung der Figuren weitrei-chende Implikationen für eine flächige Qualität des Bildes.

So wie die Verbindung aller Teile des Ornaments eine Voraussetzung für die Ornamentierung der Flächen durch die Schablonen war, so wurde diese Qualität der sich berührenden Teile des Bildes um 1900 auch in der Kunstgeschichte thematisiert. Antonia Lant verbindet den flächigen visuel-len Stil des frühen Kinos mit den kunstgeschichtlichen Debatten der Epoche, die die Qualitäten des Planaren und des Volumens in den Blick nehmen. In einem Vergleich bringt sie das frühe Kino (vor allem am Beispiel von Méliès) in die Nähe der Diskurse um den ägyptischen Stil in der Kunst, vornehm-lich wie dieser von Riegl besprochen wurde. Dabei hebt sie als für das frühe Kino relevant die Beobachtung Riegls hervor, die Flächigkeit des ägypti-schen Stils sei unter anderem auch dem Tatbestand zu verdanken, dass sich die Figuren berühren, d. h. auf der Fläche verbunden sind (1995, 51). Lant zeigt zudem eine bedeutende Reichweite des ägyptischen Stils auf, die sich auf die Diskurse und Ideen des späten 19. Jahrhunderts erstreckt, was etwa in Owen Jones’ wegweisendem und einflussreichem Werk The Grammar of Ornament von 1891 zum Ausdruck kommt.

Hinsichtlich der bisher analysierten Beispiele lässt sich nicht unbe-dingt von direkten Übernahmen oder Einflüssen der Ideen und Praktiken des pochoir auf den Film sprechen; und auch nicht von den Einflüssen des ägyptischen visuellen Stils, wie er von Riegl oder in den Diskursen um die angewandten und bildenden Künste besprochen wurde. Vielmehr hat es in diesem Fall mit den visuellen Tendenzen der Epoche zu tun – von den

28 Verneuil betont in seinem Buch die Notwendigkeit eines lückenlosen Ornaments:

«Mais, là est l’important, toutes ces parties réservées devront se tenir l’une à l’autre, sous peine d’une fragilité trop grande qui amènerait la destruction rapide du pochoir, alors que celui-ci n’aurait été que quelqefois seulement employé» (1903, 100). Des Wei-teren betont Verneuil hier wiederholt die Bedingungen, die ein solches Design diktie-ren, nämlich eine einfache und klare Komposition (vgl. ebd., 101). Zur ornamentalen Qualität von Kiriki, acrobates japonais vgl. auch Echle 2010.

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Praktiken des Kunstgewerbes über den Film hin zu den kunstgeschichtli-chen Diskursen. So wie man am Beispiel von Kiriki, acrobates japonais, eine die Kunstgattungen übergreifende Ähnlichkeit in der Betonung der Flächigkeit durch eine bestimmte Art von Ornament feststellen kann – vergleichbar dazu, wie diese Charakteristika in den Texten über Pochoir-Technik und Kunstgeschichte Erwähnung finden –, so bestehen in anderen schablonenkolorierten Filmen weitere intermediale Vergleichbarkeiten in der Weise, wie die Ideen der Ornamentierung und eines Flächenstils aus-geführt wurden. In La Danse du diable (Gaston Velle, F 1904) kommt es

85 La Danse du diable (Gaston Velle, F 1904), Doppelebene der Schablonenmalerei: Sowohl der Filmstreifen als auch das Dekor vor der Kamera werden mit dieser Technik bearbeitet (Foto: Barbara Flückiger, Timeline of Historical Film Colors / Collection Eye Filmmuseum, the Netherlands)

zu einer doppelten Anwendung der Pochoir-Technik, vor der Kamera und in der nachträglichen Bearbeitung des Filmmaterials. La Danse du diable ist ein kurzer Trickfilm, aufgenommen als Top Shot vor schwarzem Hinter-grund, auf dem sich unterschiedliche farbige Motive abwechseln: Frauen, Sterne und ein grüner Teufel, der einen skurrilen Tanz aufführt. Einen Teil der farbigen Motive in diesem schablonenkolorierten Film macht eine orna-mentale Dekoration aus, die mit vielen floralen und geometrischen Designs vergleichbar ist, welche im Kunstgewerbe für die Schablonenarbeit konzi-piert wurden (Abb. 85). Somit ist das Dekor vor der Kamera wohl vermut-lich durch Schablonen geschaffen, und es kommt zu einer Dopplung, wenn das mittels der Schablonen erzeugte Design vor der Kamera als Anlass für die Schablonenkolorierung des Films selbst genommen wird. Auch wenn der Körper des Teufels ein Element der räumlichen Dimension in das Bild bringt, ist der Tiefeneindruck des Bildes durch den flachen Hintergrund, der sich insbesondere als die Fläche für die Ornamentierung eignet, deut-lich verringert. In der Kombination der chromatischen und achromatischen Segmente des Bildes übernehmen die schwarzen Partien die Funktion der Schablonenstege. So gesehen ähneln das Dekor und die Gestaltung von La Danse du diable dem ersten hier besprochenen Pochoir-Beispiel von Ver-neuil (vgl. Abb. 79), in dem der Hintergrund eine stabile Schablone ergibt und die zu kolorierenden Motive ausgeschnittene Flächen sind.

Im Dokument Film Farbe Fläche (Seite 152-158)