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Die Farbe als formgebende Instanz

Im Dokument Film Farbe Fläche (Seite 188-193)

In den bisher besprochenen Beispielen dieses Kapitels erfüllt die Pochoir-Technik im Film vorwiegend eine illustrative Funktion im Sinne der «Kolo-rierung», wie jene Unterscheidung im ersten Kapitel diskutiert wurde. In dieser Hinsicht richtet sich die polychrome Kolorierung maßgeblich nach den in der schwarzweißen fotografischen Basis gegebenen Umrisslinien und Flächen. Die Konturen-Untreue erscheint dabei in den meisten Fällen als Konsequenz des technischen Verfahrens und weniger als eine inten-dierte Eigenschaft. Dennoch gibt es auch Gegenbeispiele zum Einsatz der Kolorierung für das Füllen einer durch die Fotografie vorgegebenen

Flä-130–131 Mode le matin au bois (F 1924), sorgfältig kolorierte Nahaufnahmen ornamentaler Details in Kino-Moderevuen der 1920er Jahre

132–133 Pour le soir (F ca. 1920) und Modèles de printemps, ensembles d’après-midi création Philippe et Gaston (F 1926)

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che, wenn nämlich die Farbe eigene und von der Fotografie unabhängige Konturen definiert. Als Beispiele hierfür sollen einige Filme ab den 1910er-Jahren dienen.

Während auch bereits in einigen früheren Filmen Farbe eigene Bild-konturen bestimmte, finden sich in den späteren Beispielen von Schablo-nenkolorierung und Handschiegl Instanzen, in denen die Farbe in gewis-ser Hinsicht mit mehr Absicht eine fotografisch gegebene Basis redefiniert.

Handschiegl ist im Vergleich zur Schablonenkolorierung interessant als ein deutlich späteres Verfahren, das auf dem nachträglichen Kolorieren des schwarzweißen Films basiert. Die Debatten um diesen Prozess machen deutlich, dass nach langer Zeit der Versuche, indexikalische Farbverfahren für den Film zu entwickeln, eine nachträgliche Kolorierung des Bildes von manchen als gelungenere Option erachtet wurde.

Das Handschiegl-Farbverfahren und die Schablonenkolorierung für den Film sind vergleichbar, weil sie einerseits ähnliche Ergebnisse liefer-ten und andererseits, weil in beiden Fällen die Farben auf das schwarz-weiße Material mithilfe von handgefertigten Matrizen angebracht wur-den. Im Falle von Schablonenkolorierung ist die Matrize (die Schablone) aus dem schwarzweißen Filmmaterial herausgeschnitten, während sie beim Handschiegl-Farbverfahren mithilfe chemischer Eigenschaften der fotografischen Schicht selbst produziert ist. Somit stellt dieses Verfahren eine Adaptierung der polychromen lithografischen Techniken für den Film dar.41 Wie Roderick T. Ryan präzisiert, wurde die Farbe beim Hand-schiegl-Verfahren von der Matrize einer Farbplatte auf die ausgewähl-ten Bereiche des schwarzweißen Filmmaterials übertragen. Vergleichbar mit der Schablonenkolorierung benötigte jede Farbe eine separate Mat-rize, die auf das schwarzweiße Filmmaterial angewandt wurde. Inso-fern basieren die Filme, die mit Schablonenkolorierung und Handschiegl koloriert sind, sowohl auf mechanisierten als auch auf manuellen Pro-zessen.

So wie die Pochoir-Technik in den bisherigen Kontextualisierungen im Bereich einer kunstgewerblichen Praxis verortet wurde, kann auch das Handschiegl-Farbverfahren als eine kunstgewerbliche Technik aufgefasst werden. Dieser Prozess verdankt seine Existenz seinem Entwickler Max Handschiegl, einem US-amerikanischen Fachmann für Lithografie und

41 Vgl. William V. D. Kelley: «There is a great similarity in the finished product of Hand-schiegl and that of Pathéchrome [Schablonenkolorierung]. Both produce tints applied to positive black-and-white silver prints and both call for hand work in the preparation of the matrices. Both, also, can use the trained experience of lithographers, artists, etc., as many of the colors are produced by overlapping the colors and securing blends»

(1931, 233).

Fotogravüre. Handschiegl leitete und überblickte persönlich alle Phasen der Kolorierung jedes einzelnen Films. Keiner der Mitarbeiter konnte sich die notwendige umfassende Expertise aneignen, sodass der Prozess nach seinem Tod nie mehr zum Einsatz kam.

Paolo Cherchi Usai beschreibt das Verfahren als «by far the most com-plex system of direct colouring ever devised during the silent era» (2000, 31). Als Folge konnten nur vereinzelte Kopien für den Filmvertrieb erstellt und somit in einem industriellen Ausmaß ausgewertet werden. Die Kom-plexität des Prozesses ist auch der Grund, weshalb er nur für kurze Seg-mente eines Films eingesetzt wurde. Die Entscheidung, in welchem Ver-fahren welche Bildmotive oder Szenen koloriert werden sollten, wurde nicht zuletzt aufgrund des unterschiedlich ausgeprägten Charakters der resultierenden Komposite getroffen. In Hinsicht auf die Filmszenen, die ausgewählt wurden, um mit Handschiegl koloriert zu werden, schreibt Cherchi Usai:

The Handschiegl image has the look of the early films, but its pastel colours have a much greater transparency and subtler structure, which gives an at-mospheric quality to the scene. While direct colouring appears as imposed upon objects represented, like lacquer overlay altering contrast values and drastically weakening detail, this system seems to coexist well with the pho-tographic image, and to endow it with a liquid softness that is almost tactile.

(Ebd., 32 f.) Wie Cherchi Usai weiter erläutert, bevorzugten der Regisseur Cecil B.

DeMille und Handschiegl das Verfahren explizit für jene Szenen, die von unbeständigen Elementen wie Feuer und Wasser dominiert wurden.

Auf die Vorteile der Applizierung von Farbe auf das schwarzweiße Filmmaterial gegenüber indexikalischen Farbverfahren wies 1927 William V. D. Kelley am Beispiel des Handschiegl-Verfahrens hin:

As a result of working for many years with the subtractive form of natural color photography it was decided that this purely chemical process is inca-pable of giving satisfactory results under all conditions imposed in practice.

Accordingly the idea sprouted forth that if a black and white record made in silver could be used as the base for a color picture that the tints could be applied by mechanical means. This would have the advantage that the

‹drawing›, so requisite in all photography would always be assured. In other words, first obtain a good photograph with all the quality possible as is found in good cinema work and as required in present day pictures, and to this

picture add the colors. (Kelly 1927, 239)

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Das Ergebnis eines solchen Prozesses ist, wie Kelley betont, «pure, grain-less color or colors applied to the grey projection print» (ebd., 240). Kel-leys Bemerkungen zeugen von einer Akzeptanz – sogar einer Präfe-renz – eines kompositen Bildes, das seinen dualen Status – mit je einer separaten Schwarzweiß- und Farbschicht – aufrechterhält und konsoli-diert. Als Konsequenz sind solche farbigen Bilder besonders zugunsten ihres kompositen Charakters konzipiert, einer schwarzweißen Basis, die die sogenannte Zeichnung bereitstellt und der Farbe, die den speziellen Effekt der Körperhaftigkeit liefert. Die referenzielle Kontingenz der Farbe in Bezug auf die schwarzweiße Basis ermöglicht daher, dass Farbe nicht nur als eine illustrative, sondern auch als eine formgebende Instanz ein-gesetzt wird. In Pathés schablonenkoloriertem Film Mode le matin au bois (1924) nimmt die Farbe eine solche die Kontur definierende Funk-tion an, wie sie ansonsten von der Zeichnung im Bild übernommen wird (Abb. 134–135). So hat in diesem hybriden Bild die Farbe nicht nur eine

134–135 Mode le matin au bois (F 1924), Farbe als zusätzliche Markierung der Konturen im schwarzweißen Bild

illustrative Funktion in Bezug auf die fotografische Basis, sondern wird auch als formatives Element des Bildes verwendet. In weiteren vergleich-baren Beispielen liefert die Farbe zusätzliche Konturen-Markierungen zum schwarzweißen Bild, so etwa in Lonesome (Paul Fejos, USA 1928), der partiell schablonenkoloriert wurde, oder in Joan the Woman (Cecil B. DeMille, USA 1916), der mit dem Handschiegl-Prozess kolorierte Sequenzen enthält. Beide Spielfilme sind größtenteils in Schwarzweiß belassen. Jene Szenen, in denen Farbe eingesetzt wurde, haben jeweils unterschiedliche Lichtquellen zum Anlass der Kolorierung. Im Falle von szenischen Lichtquellen sind die physischen Grenzen nicht fest, vielmehr lösen sie sich auf. Da es keinen strikten Konturen zu folgen gilt, verein-facht dieser Umstand die nachträgliche Applikation von Farbe. So wird in Lonesome Gelb eingesetzt, um eine dreieckige Stelle auf dem sandi-gen Strandboden abzugrenzen und damit zu suggerieren, dass es sich um Mondlicht handle (Abb. 136). Die Farbe – und nicht das schwarzweiße Bild – dient hier als die endgültige Instanz, die die Konturen-Markierung der Lichtfläche bestimmt.42 In Joan the Woman schafft eine besondere Art des Farbauftrags einen Spotlight-Effekt über toten Körpern auf einem Schlachtfeld (Abb. 137–138). Wenn auch in ähnlicher Weise eingesetzt wie in Lonesome, verweist doch die Farbe in diesem Fall auf eine Lichtquelle außerhalb der im Bild indizierten Lichtfläche.43 Die Gleichzeitigkeit von Transparenz und sichtbarer Materialität der applizierten Farbe versieht

42 Kelley schreibt in diesem Sinne über «spotting effects», für die das Handschiegl-Ver-fahren verwendet wurde, wie etwa in Feuerszenen (vgl. 1931, 230).

43 Vgl. hier die Ausführungen in diesem Kapitel zum Einsatz des Pochoir-Farbauftrags für entweder das Motiv oder den Hintergrund des Bildes.

136 Lonesome (Paul Fejos, USA 1928), der Farbauftrag bestimmt die Lichtfläche

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das Bild mit einer neuen Qualität: Die Details sind abgeschwächt, wäh-rend die grafische Grundlage des Bildes beibehalten bleibt. Hier, wie in Lonesome, ergänzt die Farbe nicht lediglich das schwarzweiße Bild, son-dern sie gestaltet es neu.

Schablonenkolorierung und Warenfetisch

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