• Keine Ergebnisse gefunden

Farbe und Stofflichkeitseindruck

Im Dokument Film Farbe Fläche (Seite 35-40)

Farbe und Stofflichkeitseindruck

Die ersten erhaltenen filmischen Aufnahmen von Serpentinentänzen zei-gen Annabelle Whitford (auch bekannt als Annabelle Moore), eine Nach-ahmerin von Loïe Fuller. Sie gehört mit ihren skirt dances zu den frühesten Artistinnen der Filmgeschichte. Whitford debütierte 1893 auf der Weltaus-stellung (World’s Columbian Exposition) in Chicago und begann bereits ein Jahr später, für den Film zu arbeiten. Zwischen 1894 und 1898 produ-zierte Edison zahlreiche Filme mit ihr (vgl. Yumibe 2012, 52). Die Anna-belle-Filme der Edison Company zeigen die Tänzerin auf der Bühne, vor einem schwarzen Hintergrund, frontal zur Kamera positioniert, wobei der ganze Körper im Bildrahmen enthalten ist. Die Filme bestehen aus einer einzelnen Einstellung, innerhalb welcher sich die Farben des Kleides mit den Bewegungen der Tänzerin abwechseln.

Die Handkolorierung der Filme sollte die aufwändige Lichtgestal-tung der Serpentinentänze auf der Bühne nachahmen, so wie dies bei Ful-lers Auftritten geschah. Unterschiedliche Prinzipen der Einfärbung lassen sich in diesen kurzen Filmen beobachten. Es sind sowohl mehrere Farben in einem einzelnen Bild vorhanden, oder es wird mithilfe der Handvirage das ganze Bild in einer Farbe koloriert (Abb. 1). Vorhanden ist auch die Kombination von Handvirage und Teilkolorierung. So erscheint in einem Moment von Annabelle Serpentine Dance das ganze Bild lila viragiert, während das Kleid zusätzlich in einem rötlicheren Ton koloriert wurde (Abb. 2). Ein ungleichmäßiger Auftrag erzeugt den Eindruck der Eigen-körperlichkeit von Farbe (Abb. 3–4). Es fallen unterschiedliche Qualitä-ten auf, von dichteren und pastöseren zu transparenteren FarbschichQualitä-ten.

Somit wird das Verwandlungspotenzial des abgebildeten Körpers und

1 Annabelle Serpentine Dance (Edison, USA 1894–

1897), Serpentinentanz:

Monochrome Kolorierung des ganzen Bildes mittels Handvirage

Kleides der Tänzerin durch die Formbarkeit der auf dem Bild aufgetrage-nen Farbe maßgeblich beeinflusst.

Die Beziehung zwischen dem Stofflichkeitseindruck des abgebilde-ten Körpers oder Gegenstandes und der Farbe ist eine ausgeprägt dyna-mische im kolorierten Stummfilm. Das Changieren der Farben erschwert nicht selten einen Eindruck der realen Textur des Gewandes und in die-sem Sinne auch den Eindruck eines physischen Zusammenhangs von Stoff und Farbe. Die Intensität der Farbe und die häufig vorkommende Pasto-sität des Auftrags sind für diese Minderung des Stofflichkeitseindrucks wesentlich. Gleichzeitig gilt diese mindernde Wirkung nicht nur der Ober-fläche der abgebildeten Körper und Stoffe, sondern auch dem Volumen und grundlegend der plastischen Qualität des Bildes. Yumibe berichtet hingegen über eine Art Zugewinn an Dreidimensionalität des Bildes in den kolorierten Filmen:

Color is described as providing the people in these images with a three-di-mensionality that seemingly emerges from the screen and pushes toward the viewer […] the sensational impression of stereoscopy. (Yumibe 2012, 55 f.) Jedoch handelt es sich hier, meiner Ansicht nach, nicht um eine Stereos-kopie im herkömmlichen Sinne, sondern um eine Eigenkörperlichkeit des

2 Kombination von Handvirage und Teilkolorierung

3–4 Eindruck der Eigenkörperlichkeit der Farbe durch ungleichmäßigen Auftrag

35 Farbe und Stofflichkeitseindruck

Farbauftrags. Die Farbe dient nicht der Erzeugung einer kohärenten, ein-heitlichen Farbraum-Diegese. Vielmehr wirkt sie als ein materieller Über-schuss, als ein Aufgetragenes. Die Kombination von farbig und nicht-farbig sowie die fehlende räumliche Dimension der Farbe verhindern raumillusionistische Plastizität und eine eigentliche Stereoskopie.

Die Materialität der Farbe ist besonders augenscheinlich, wenn es im Bild zu einer Kombination von farbigen und schwarzweißen Stellen kommt. In diesen Fällen ist der Zusammenhang von Farbe und Stoff ein ostentativ-medialer. Die Farbe ist nämlich bei der Kombination von chro-matischen und achrochro-matischen Flächen nicht nur der Verdichtungspunkt der Aufmerksamkeit im Kontrast zu den weniger prominenten Partien des Bildes. Auch dient sie nicht lediglich einer Hierarchisierung innerhalb der Darstellung, sondern verweist vielmehr in der Art ihrer Koppelung mit dem physischen Filmträger auf ihre eigene Materialität. In anderen Worten tritt sie nicht nur als Farbe der abgebildeten Körper auf, sondern zugleich als die Farbe des Mediums. Das ostentative Moment, in dem die Farbigkeit des Kleides vorgeführt wird, ist nicht vom Herausstellen der Farbigkeit des Mediums zu trennen. Dies wird besonders deutlich in solchen Film-bildern (siehe Abb. 5), deren Kolorierung keineswegs mehr den Kontu-ren der im Bild abgebildeten Körper und ihKontu-ren realen physischen Flächen folgt. Dieses außerordentlich prägnante Beispiel einer ostentativen Far-bigkeit der applizierten Kolorierung ist bedingt durch die Eigenschaft der aufgetragenen Farbe, ein anderes visuelles Register zu besetzen, als dies das schwarzweiße Bild tut. Da sie nicht als eine Komponente der indexi-kalischen Einschreibung von abgebildeten Körpern entsteht, unterstützt die Farbe nicht ihre stoffliche Dinghaftigkeit, sondern erscheint von die-sen Körpern abgekoppelt. Sie bricht die Homogenität der indexikalischen

5 Eigenständigkeit des Farbauftrags gegenüber den Körperkonturen

Bildflächen auf und führt eine hybride Dimension ein, die auf ein Jenseits der indexikalischen Homogenität und der Diegese des Bildes verweist.

Auch in den ästhetischen Theorien um 1900 ist Farbe ein Thema. Über den Zusammenhang von Farbe und Stofflichkeitseindruck in den bilden-den Künsten liest man bei Kunsthistoriker August Schmarsow:

Wo die Farbe als Körperfarbe oder Lokalfarbe fungiert, da wirkt gerade sie überzeugender, zwingender als manches andere Merkmal auf unser Wirklichkeitsgefühl. Es ist das Stoffliche, das uns bei dieser sinnlichen Wir-kung in den Bannkreis körperlicher Existenz hineinzieht.

(Schmarsow 1905, 122) Jene Auffassung über die Relation, ja physische Verbundenheit von Stoff-lichkeit und Farbe, die hier einem mit dem frühen Kino zeitgenössischen Text entstammt, bleibt in den Wahrnehmungstheorien ein Gemeinplatz.

So schreibt Maurice Merleau-Ponty über diesen Zusammenhang: «Eine Farbe ist niemals einfach nur Farbe, sondern immer Farbe eines bestimm-ten Gegenstandes; das Blau eines Teppichs wäre nicht dieses Blau, wäre es kein wolliges Blau» (1974, 362).

Wenn man diese Beobachtungen über die untrennbare Verknüpfung der Farbe und des Gegenstandes, dem sie anhaftet, auf die kolorierten Filmbilder bezieht, wird deutlich, dass die Wahrnehmung des physischen Zusammenhangs der Farbe und des abgebildeten Motivs in den Serpen-tinentänzen keine an sich evidente Gegebenheit ist. Das Publikum glaubt nicht unbedingt, die eigentlichen Farben des Bühnentanzes und Kleides zu sehen, während es – im Gegenteil – die eigentliche Tänzerin auf der Bühne abgebildet zu sehen glaubt.5 Im Unterschied zu den applizierten Farben zeichnen sich die fotochemischen Farbverfahren jedoch ontologisch durch eine Art von Indexikalität und Transparenz aus, so wie diese auch für das schwarzweiße Bild gelten: Die Farben, die im Bild sichtbar sind, entstehen bei den fotochemischen, indexikalischen Verfahren im Moment der Auf-nahme, bedingt durch die realen Farben der abgebildeten Gegenstände.

Über eine solche Unterscheidung zwischen der fotografischen Trans-parenz und malerischer Opazität hinaus erweist es sich als informativ, eine Unterscheidung zwischen den Oberflächen und Flächenfarben zu nennen, so wie diese bei Merleau-Ponty Erwähnung finden. Die kolorierten Filme

5 Vgl. an dieser Stelle Kendall L. Waltons Überblick über die theoretischen Ansätze zum fotografischen Realismus. Walton beschreibt die Fotografie in dieser Hinsicht als

«transparent», da durch das Foto die Welt gesehen wird, während er den Darstellungs-modus der Malerei «fiktional» nennt. Weiterhin stellt er in seinem Aufsatz Überlegun-gen über unterschiedliche Grade der Transparenz an (vgl. 1984). Im folÜberlegun-genden Kapitel wird auf die Fragen der Transparenz der fotografischen Medien näher eingegangen.

37 Farbe und Stofflichkeitseindruck

besetzen nämlich eine spezifische Sonderposition zwischen Transparenz und Opazität, zwischen den Farben, die im Bild als an die Gegenstände gebunden erscheinen, und jenen, die von der konkreten physischen Gegen-ständlichkeit losgelöst sind. Merleau-Ponty weist in der Phänomenologie der Wahrnehmung darauf hin, dass die Oberflächenfarben den realen plasti-schen Gegenständen im Raum anhaften und ihre Wahrnehmung untrenn-bar von der Wahrnehmung des Gegenstandes sei, dem die Farbe anhaf-tet. Die Flächenfarben erscheinen dagegen, wird der (Wahrnehmungs-) Psychologe David Katz zitiert, «nicht als einem Außending angehörig, sondern nur als ein unabhängig von einem bestimmten Träger für sich bestehendes ebenes oder raumfüllendes quale»6 (Katz, zitiert nach Mer-leau-Ponty 1974, 354). Der Unterschied zwischen diesen zwei Existenzfor-men der Farbe wird von Merleau-Ponty folgendermaßen präzisiert:

Flächenfarben sind in einem gewissen Abstand lokalisiert, doch in ungenau-er Weise; sie sehen porös aus, indessen Obungenau-erflächenfarben dicht sind und den Blick auf ihrer Oberfläche anhalten; Flächenfarben sind stets der Fron-talebene parallel, indessen Oberflächenfarben sich in allen Orientierungen darbieten können; Flächenfarben sind endlich auf vage Weise eben und ver-mögen keine besondere Form anzunehmen, nicht als gekrümmt oder auf ei-ner Oberfläche ausgebreitet zu erscheinen, ohne ihren Charakter als

Flächen-farben einzubüßen. (Merleau-Ponty 1974, 354 f.)

Die Charakterisierung dieser zwei oppositionellen Auffassungen der Erscheinungsformen der Farbe kann nur teils für eine genauere Verortung der Filmfarbe und ihre spezifische Wahrnehmungsproblematik nutzbar gemacht werden, denn jenes Begriffspaar erlaubt keine konforme Über-tragung auf das Phänomen der applizierten Filmfarben. Die Farben im kolorierten Film können nicht einfach als die Oberflächenfarbe der abge-bildeten Gegenstände verstanden werden. Der Eindruck des Zusammen-fallens der Farbe und der Oberfläche des Gegenstandes geht nie ganz auf. Zugleich sind die applizierten Filmfarben – selbst wenn sie als mit einer Frontalebene ebenflächig erscheinen – auch nicht als Flächenfarben im genannten Sinne zu verstehen. Zwar erscheinen sie weder gekrümmt noch einer plastischen Oberfläche zugehörig, sie haften dennoch einem konkreten Gegenstand an (zugegebenermaßen einem flachen), nämlich dem Filmstreifen.

Die Bildspannung, die sich zwischen Schwarzweiß und Farbe, zwi-schen der fotografizwi-schen Basis und der aufgetragenen Farbschicht ergibt, ist ein Bestandteil des visuellen Konflikts zwischen der

zweidimensiona-6 Als ein Beispiel nennt Merleau-Ponty die Spektralfarben (vgl. 1974, 354).

len Ebene und dem plastischen Eindruck des Bildes, aber auch zwischen dem fotografischen und nicht-fotografischen Bildregister. Die applizierte Farbe unterstützt deutlich mehr die Flächigkeit des Bildes, als dass sie den Plastizitätseindruck der Körper im Bild begünstigen würde. Durch die Transparenz des Bildes und das Hindurchscheinen der Schwarzweiß-Basis täuscht manche Kolorierung jedoch bis zu einem gewissen Grad vor, die Oberflächenfarbe des abgebildeten Gegenstandes zu sein. Es fehlen der applizierten Farbe dennoch die Qualitäten, die mit den Raumwerten der Körper korrespondieren und die Farbe somit enger mit dem plasti-schen Körper verbinden würden: Die Farben sind nicht dem Volumen, der Oberflächenbeschaffenheit und der Beleuchtung des Körpers (Licht- und Schatteneffekte) entsprechend gradiert. Darüber hinaus sind die Farben der abgebildeten Körper und Flächen nicht nach ihrer Entfernung von der Kamera (entsprechend vom Auge) modifiziert: Die Flächen, die sich näher an der Kamera befinden, müssten eine intensivere Farbigkeit aufweisen, als diejenigen, die weiter von ihr entfernt sind (hinzu kommt noch die ent-fernungsbedingte Änderung des Farbtons usw.).

All dies ist im kolorierten Film konstitutiv für das Erschaffen einer Bildlichkeit, die durch eine ausgeprägte Spannung unterschiedlicher Ebe-nen der Bildfläche gekennzeichnet ist. Es kommt in diesen Filmen zu einer fast plakativen Manifestation der Bildspannung zwischen der Darstel-lung und dem Darstellenden, so wie dies als ein grundlegendes Unter-suchungsgebiet in der Bildwissenschaft behandelt und im folgenden Abschnitt näher in Bezug auf den kolorierten Film analysiert wird.

Die Bildspannung und der doppelte Charakter des

Im Dokument Film Farbe Fläche (Seite 35-40)