• Keine Ergebnisse gefunden

Exemplarische Auswertung einer Facharbeit

4. Anlage der empirischen Untersuchung

4.1 Pretest

4.1.2 Exemplarische Auswertung einer Facharbeit

Im Rahmen des Pretests wurde probehalber eine Facharbeit von mir sequen-ziert und anschließend im Expertenkreis diskursiv validiert.16 Dazu erhielten die Experten den folgenden Arbeitsauftrag:

Arbeitsauftrag

Interpretiert die Sequenzen auf dort enthaltene Deutungsmuster: Welche Hal-tungen, Überzeugungen, Sichtweisen, Einschätzungen, Werthaltungen und Einstellungen könnt ihr in den Deutungsmustern in Bezug auf die Handlungs-orientierungen der Studierenden identifizieren? Diskutiert eure Interpretatio-nen und versucht daraus Deutungsmuster aufzuspüren.

Aus den Sequenzen der probehalber analysierten Facharbeit wurden fol-gende Deutungsmuster von den Experten im Rahmen einer diskursiven Va-lidierung rekonstruiert:

1) Deutungsmuster in Bezug auf die Veränderung des Blicks auf Störungs-bilder

Am Beginn seiner Facharbeit entwickelt der Verfasser ein Deutungsmus-ter in Bezug auf das Störungsbild ADHS bei den von ihm betreuten Ju-gendlichen, das er in erster Linie als ein Krankheitsgeschehen betrachtet.

Gespeist wird dieses Deutungsmuster durch die Implikationen des medi-zinischen Modells, wobei der soziale Kontext als Verursacher weitgehend ausgeblendet wird (vgl. Belschner, 1973, S. 38). Geprägt durch das medi-zinische Modell sind die pädagogischen Handlungsorientierungen, die der Verfasser in seiner Facharbeit darlegt, vor allem darauf angelegt, bei Prob-lemanlässen nach individuellen Lösungsmöglichkeiten außerhalb des so-zialen Kontextes zu suchen. Im Verlauf der Arbeit verändert der Verfasser seine Einstellung. Durch die Reflexion seiner während des Praktikums ge-machten Erfahrungen erkennt er an, dass die Einbeziehung des sozialen Umfeldes für die pädagogische Arbeit eine wesentliche Voraussetzung

16 Siehe Facharbeit 5.

darstellt. Dadurch kommt es zu einer Modifikation seiner am medizini-schen Modell orientierten Sichtweise auf das pädagogische Handeln. Er verlässt die engen Parameter dieses Modells zugunsten des biopsychoso-zialen Modells. Als Folge davon verändert sich auch seine Handlungsori-entierung, die sich nunmehr auf die Einbeziehung psychologischer und sozialer Aspekte fokussiert.

2) Deutungsmuster in Bezug auf die Professionalisierung

Inspiriert durch seine praktischen Erfahrungen, beginnt der Verfasser ein Deutungsmuster für den professionellen Umgang mit dem Thema ADHS in einer Einrichtung der stationären Jugendhilfe zu entwickeln, das sich auf vier Elemente bezieht:

- Lesen der entsprechenden Fachliteratur - Erwerb von Erfahrungen

- Fort- und Weiterbildung - Praxiserfahrungen.

Von diesen Elementen erwartet er, dass sie ihn in seinem pädagogischen Handeln unterstützen.

3) Deutungsmuster in Bezug auf das Theorie-Praxis-Problem in der Pädago-gik

Der Verfasser erläutert zu Beginn seiner Facharbeit, dass er sich durch den Schulunterricht theoretisch gut auf den Praxiseinsatz vorbereitet fühlt.

Diese Einschätzung beruht auf seiner Überzeugung, dass die Vermittlung vonseiten der Schule auf Fachwissen beruht, das ihn befähigt, in der Praxis pädagogisch fundiert zu handeln. Bedingt durch die Erfahrungen in der praktischen Arbeit, vor allem mit dem von ihm betreuten Jugendlichen, entwickelt er schrittweise ein praxisorientiertes Theorieverständnis und erkennt, dass die Mannigfaltigkeit des Erziehungsgeschehens vor allem durch die Einmaligkeit und die konkrete Situation, in der sich das Erzie-hungsgeschehen abspielt, geprägt wird.

4) Deutungsmuster in Bezug auf die „Rezeptologie“ in der pädagogischen Arbeit

Als Studierender, der sich bereits in einem früheren Praktikum mit dem Thema ADHS beschäftigt hat, wird ihm bewusst, dass von allgemeingül-tigen theoretischen Erkenntnissen keine Rezepte oder gar Musterlösungen zu erwarten sind. Er gelangt zu der realistischen Einschätzung, dass diese

allenfalls als Orientierungshilfen für den individuellen Umgang betrachtet werden können. Für die Gestaltung des pädagogischen Umgangs bedarf es der Reflexion und der kontinuierlichen Fort- und Weiterbildung.

5) Deutungsmuster in Bezug auf die berufliche Tätigkeit nach der Ausbil-dung

Der Studierende absolviert ein Praktikum im Rahmen seiner Ausbildung zum staatlich anerkannten Erzieher an der Fachschule für Sozialpädago-gik, in der Praktika ein Teilbereich der Ausbildung sind, die den theoreti-schen Unterricht in den Lernfeldern ergänzen. Ihre Funktion besteht darin, Theorie und Praxis miteinander zu verzahnen. In seiner Facharbeit betont der Verfasser, dass er dieses Praktikum dazu nutzen will, um sich mit dem Thema ADHS auseinanderzusetzen. Im Verlauf des Praktikums erhält er vonseiten der Praxiseinrichtung die Rückmeldung, dass er dort als kom-petent eingeschätzt wird. Dieses Feedback deutet er als Chance, um sich als zukünftiger Mitarbeiter zu empfehlen. Er schlägt vor, die Individual-pädagogin in den normalen Gruppendienst einzubinden und bietet sich als Bezugserzieher für den von ihm betreuten Jugendlichen an.

Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass sich in den fünf beschriebenen Deutungsmustern typische elementare, immer wiederkehrende pädagogi-sche Fragestellungen widerspiegeln, die erfahrungsgemäß auftreten, wenn die Studierenden mit ihrer Klientel interagieren und aufgefordert sind, päda-gogisch zu handeln. Die von den Studierenden vorgefundene Erziehungs-wirklichkeit ist geprägt von Fragen nach der „Rezeptologie“, dem Theorie-Praxis-Transfer, der Professionalisierung, der Genese bzw. Entstehung von Störungsbildern und anderem mehr. In der Erziehungswirklichkeit, mit der die Studierenden in dem Praxisfeld der stationären Jugendhilfe konfrontiert sind, spiegelt sich die biografische Entwicklung ihrer Klientel wider. Das bedeutet in Bezug auf das pädagogische Handeln, dass die Studierenden ein Bewusstsein dafür entwickeln (müssen), welche Auswirkungen bzw. Ein-flüsse die eigenen Deutungsmuster auf ihre persönlichen Einstellungen und Sichtweisen und ihre pädagogischen Handlungsorientierungen haben. Hier wird ein wesentlicher Beitrag des Deutungsmusteransatzes sichtbar, weil da-mit der (professionelle) Schritt von der intentionalen zur funktionalen Erzie-hung unterstützt wird.