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Die Sequenzanalyse als Methode der Identifizierung von

2. Theoretische Grundlagen

2.5 Die Sequenzanalyse als Methode der Identifizierung von

Die Methode der Sequenzanalyse wurde in den 1970er-Jahren von Ulrich Oevermann als Instrument zur Textinterpretation entwickelt. Sie basiert auf der Grundannahme, dass die Texte, die wir in der sozialen Realität vorfin-den, einen Sinn enthalten. Dieser Annahme liegt ein erweitertes Textver-ständnis zugrunde, das nicht nur schriftsprachliche Äußerungen, sondern alle Ausdrucksformen menschlichen Lebens, die in Sprache übertragen werden können, prinzipiell als Text betrachtet. Weiter wird davon ausgegangen, dass sich der vermutete Sinn in den Texten wiederfinden und interpretieren lässt.

Reichertz (2011) weist darauf hin, dass die Sequenzanalyse heute vor allem von hermeneutisch orientierten Interpretengruppen verwendet wird, die aber teils eigene Ziele, Begründungen und Praktiken für diese Methode entwi-ckelt haben. Folglich findet man in der Fachliteratur unterschiedlich ausge-staltete Vorgehensweisen bei der Sequenzanalyse.

Das vorrangige Ziel der Sequenzanalyse in dieser Arbeit besteht darin, die in den Facharbeitstexten der Studierenden enthaltenen sozialen Bedeutungen und deren steuernde Wirkung auf die (pädagogischen) Handlungsorientie-rungen zu rekonstruieren. Dabei wird davon ausgegangen, dass die sozialen Bedeutungen, die den Handlungen zugrunde liegen, den Verfassern selbst meist verborgen bleiben und nur begrenzt zugänglich sind, die aber dennoch, weil ihnen Sinnhaftigkeit unterstellt werden kann, einen Zugang für das Ver-stehen einer Handlung liefern. Wegen dieser „Tiefendimension“ ist die Se-quenzanalyse immer dann gefordert, wenn es um das tiefere Verstehen und

Erklären des Handelns von menschlichen Akteuren geht, also in der Regel bei Prozessen, die jenseits der bewussten Selbstdeutung vermutet werden.

Der Sequenzanalyse geht es also um das des sukzessiven Finden einer Sinn-figur oder der (latenten) Struktur, mit deren Hilfe soziales Handeln verstan-den und erklärt werverstan-den kann und in der alle Dateninterpretationen in einer Erklärungsfigur integriert sind. Die Einheit der Gestalt ist bei genauer Be-trachtung das zentrale Argument, nicht die Wirklichkeitsnähe oder die logi-sche Strenge. Wenn in einer Deutung alle Daten zu einer einfachen, meist eleganten Figur verdichtet werden kann, dann überzeugt sie Forscher wie spä-tere Leser. (Reichertz, 2011, S. 4)

Die Sequenzanalyse wird in der Regel, so Reichertz, mit einer interaktionis-tischen Strukturtheorie begründet. Dahinter verbirgt sich die Vorstellung von einer Lebenspraxis, die unabweisbar zu Handlungen, das heißt zu Entschei-dungen und BegrünEntschei-dungen zwingt (vgl. Reichertz, 2011, S. 16). Das Han-deln in der Lebenspraxis wird dabei als ein HanHan-deln interpretiert, das nicht determiniert ist, sondern in einzelnen Handlungssystemen produziert wird.

Diese Systeme enthalten in der Regel widersprüchliche Einheiten von Ent-scheidungs- und Begründungszwängen und produzieren permanent neue Handlungsoptionen, sodass sich auch die Produktion des Neuen in sozial vorgedeuteten Bahnen und regelgeleitet vollzieht, das heißt, „sie ist rekon-struierbar“ (Reichertz, 2011, S. 17). Mit der Methode der Sequenzanalyse lässt sich ex post analysieren, dass sich die historische Aktualisierung und Kombination sozialer Regeln und historischer Normen nicht willkürlich vollzieht, „sondern in Mustern, in Strukturen, in Sinnfiguren, die selbst wie-der teils von wie-der Gattung, teils von wie-der historischen Interaktionsgemeinschaft zur Verfügung gestellt werden“ (Reichertz, 2011, S. 17).

Weiter geht Reichertz davon aus, dass das Zusammenspiel von sozialen Regeln, Normen und Sinnfiguren den handelnden Subjekten in der Regel weitgehend verborgen bleibt, sich aber im lebenspraktischen Handeln der Subjekte reproduziert (vgl. Reichertz, 2011, S. 17). Oevermann, Allert, Ko-nau und Krambeck schreiben dazu: „Die Struktur individuierter Handlungs-systeme realisiert sich in der sequenziellen Anordnung ihrer Äußerungen, und erst die Methodologie einer strengen Sequenzanalyse vermag individu-ierte Strukturen aufzudecken“ (Oevermann et al., 1979, S. 415). Danach ist es für die Sequenzanalyse geboten, die konkreten Interaktionstexte Zug um Zug, Äußerung um Äußerung in der Reihenfolge ihres Auftretens zu deuten.

Denn erst „die streng sequenziell arbeitende, Interakt für Interakt interpre-tierende Rekonstruktion des latenten Sinns einer Szene [macht] die fallspe-zifische Struktur und damit die Struktur, in der die Besonderheit des Falles sich objektiviert, sichtbar“ (ebd., S. 414). Das bezeichnen Oevermann et al.

als Prinzip der Sequenzialität.

Damit lässt sich begründen, dass „die Reproduktion einer Struktur selbst ein sequentiell geordneter Prozeß ist“ (Oevermann, 1981, S. 50) und dass die Sequenzanalyse die zunächst verborgene Struktur zum Vorschein zu bringen vermag. Forschungspraktisch bedeutet das Folgendes:

Bei der Interpretation eines einzelnen kommunikativen Aktes an einer be-stimmten Stelle in der Interaktionssequenz darf das Wissen vom Inhalt und der Bedeutung nächstfolgender kommunikativer Akte auf gar keinen Fall be-rücksichtigt werden und das Wissen um den äußeren Kontext, in den die Szene eingebettet ist, also Informationen über die einzelnen Interaktanten, die institutionellen Rahmenbedingungen, die physischen Randbedingungen usf.

darf erst benutzt werden, wenn die zuvor unabhängig von diesem Wissen zur Explikation gebrachten Lesarten des Handlungstextes daraufhin gefiltert wer-den sollen, welche davon in der konkreten Situation zutreffen könnten. (Oe-vermann, 1980, S. 24, zitiert nach Reichertz, 2011, S. 18 f.)

Oevermann schreibt weiter zum Einsatz von Kontextwissen:

Würden wir in unseren Analysen von vornherein berechtigte Vermutungen, die wir zum Zeitpunkt der Analyse einer Szene schon über den Fall anstellen können, jeweils schon vorhandene Kontextwissen über die Persönlichkeits-strukturen der Beteiligten dazu benutzen, vom Interaktionstext selbst her ge-dachte Bedeutungsmöglichkeiten von vornherein als mit dem Fall nicht kom-patibel auszuschließen, dann wäre unsere Interpretation in der Tat zirkulär und zugleich unsoziologisch. Sie würde über das Vorgehen hinaus keine un-abhängige empirische Evidenz liefern und wäre daher bloßes ornamentales Beiwerk oder bestenfalls Illustration. (Oevermann, 1980, S. 25, zitiert nach Reichertz, 2011, S. 19)

Das bezeichnet Oevermann als Prinzip der Kontextfreiheit. Reichertz findet es hilfreich, mindestens zwischen den folgenden vier Arten von Kontextwis-sen zu unterscheiden (vgl. Reichertz, 2011, S. 20):

1) dem Wissen um die Welt, in der man (Forscher und Gegenstand) lebt, 2) dem Wissen um den äußeren Kontext,

3) dem Wissen um den inneren Kontext, also dem Wissen, was sich in und durch die Analyse aufgebaut hat,

4) dem Wissen um eine wissenschaftliche Erklärung des untersuchten Phä-nomens, also das Wissen, was bereits in der wissenschaftlichen Literatur vorzufinden ist und das vorgibt, das in Frage stehende Phänomen bereits zu erklären.

Reichertz vertritt die Ansicht, dass auch für eine Sequenzanalyse Vorwissen notwendig ist, das heißt,

man muss das Ganze kennen, um dann angeben zu können, was in der Ana-lyse der Fall sein soll. Das ist kein Unglück, weil hermeneutische Zirkel keine Kreise, sondern Spiralen sind, die sich auf ein Zentrum verdichten, also sich nicht leer immer nur um sich selbst drehen. Hermeneutik ist immer ein ge-richteter Prozess und keine Kreisbewegung. (Reichertz, 2011, S. 21)

Nach Reichertz wurden für die objektiv-hermeneutische Textinterpretation im Lauf der Zeit unterschiedliche Vorgehensweisen entwickelt. Die sequen-zielle Analyse und Rekonstruktion der objektiven Bedeutung der einzelnen Interakte eines Interaktionsprozesses sei jedoch das am häufigsten angewen-dete Interpretationsvorgehen. Dabei erfolge die Interpretation zunächst ohne eine Bezugnahme auf die konkreten Kontextbedingungen, in denen die In-teraktion stattgefunden hat (vgl. Reichertz, 2004, zit. nach Petrucci, 2008).

In dieser Arbeit wird von diesem Verfahren abgerückt, weil bereits im ersten Schritt des Auswertungsalgorithmus eine Fallbestimmung erfolgt und dabei der Kontext, in den der Fall eingebettet ist, benannt und beschrieben wird.

Hinzu kommt, dass parallel zu der jeweiligen Sequenz eine Kontextualisie-rung in Bezug auf das Arbeitsfeld der stationären Jugendhilfe erfolgt. Von dem Forschungsvorhaben werden Hinweise auf die Deutungsmuster der Stu-dierenden erwartet, aus denen wiederum Handlungsempfehlungen für den pädagogischen Umgang mit Kindern und Jugendlichen in der stationären Ju-gendhilfe generiert werden. Insoweit erscheint es sinnvoll, die Sequenzie-rung in den pädagogischen Diskurs der stationären Jugendhilfe einzubinden.

Die methodische Umsetzung der objektiv-hermeneutischen Textinterpreta-tion orientiert sich an fünf Prinzipien, deren folgende Darstellung hier unter Bezugnahme auf Wernet (2009) erfolgt.

1) Kontextfreiheit

Das Prinzip der Kontextfreiheit meint nicht, dass der Kontext einer Äuße-rung keine Bedeutung mehr hat. Um die Unabhängigkeit der kontextfreien Interpretation zu gewährleisten, wird der Text erst als ein „eigenständiges

Wirklichkeitsgebilde“ (Wernet, 2009, S. 22) behandelt und kann so un-voreingenommen betrachtet werden, bevor die Kontextuierung erfolgt.

Durch dieses Vorgehen können Interpretation und Kontextuierung analy-tisch getrennt werden. Dazu werden zuerst gedankenexperimentell Kon-texte gesucht, die nach dem Plausibilitätsprinzip mit der zu analysierenden Äußerung im Text kompatibel sind. Erst nach dieser kontextfreien Inter-pretation wird der tatsächliche Kontext der Äußerung als methodisch kon-trollierter nächster Schritt herangezogen (vgl. Wernet, 2009, S. 22).

2) Wörtlichkeit

Wernet betrachtet Texte als „Protokolle der Wirklichkeit“ (Wernet, 2009, S. 12), das heißt, der zu interpretierende Text „wird nicht als Beschreibung von Phänomenen behandelt, sondern als das zu erklärende Phänomen“

(Reichertz, 2011, S. 14). „Die zu interpretierende soziale Realität ist also immer schon textförmig“ (ebd.).

3) Sequenzialität

Sequenzialität bei der Interpretation beinhaltet, genau dem Ablauf des protokollierten Textes zu folgen, ihm dabei „in seiner Sequentiertheit in-terpretatorisch gerecht“ (Wernet, 2009, S. 28) zu werden. Dem Prinzip der vollumfänglichen Sequenzierung der Texte wird in dieser Arbeit beson-dere Beachtung geschenkt, um zu verhindern, dass „Textelemente als Pro-dukte des Zufalls angesehen werden, die sich später als zentrale Interpre-tationslinien herausstellen“ (Oevermann et al., 1979, S. 394).

4) Extensivität

Das Prinzip der Extensivität bedeutet, dass es nicht zwingend notwendig ist, das gesamte Datenmaterial vollständig auszuwerten. Vielmehr geht es darum, dass die Interpretation sinnlogisch erschöpfend ist (vgl. Wernet, 2009). Methodische Gründlichkeit bedeutet nicht vollständige Interpreta-tion der Datensätze, sondern die für relevant erachteten Teile ausführlich zu interpretieren. Das Datensample in dieser Arbeit basiert auf drei Fach-arbeiten, die in Bezug auf eine erwartete Varianzmaximierung bewusst ausgewählt worden sind. Bei einer vorab erfolgten Reduzierung auf Teile der Arbeiten, die von den Interpreten als relevant eingestuft worden wä-ren, hätte nicht ausgeschlossen werden können, dass der fallübergreifende Vergleich möglicherweise nicht zu realisieren gewesen wäre. Insofern ha-ben sich die Experten dafür entschieden, die Facharbeiten vollständig zu sequenzieren und jede Sequenz Suchkriterien zuzuordnen.

5) Sparsamkeit

Bei der Lesartenbildung gilt der Grundsatz, sich auf die Geschichten zu beschränken, die tatsächlich einen Bezug zum Text haben bzw. sich aus diesen begründen lassen. Diese Begrenzung verhindert, dass in den Text Aspekte hineininterpretiert werden, die sich nicht aus ihm begründen las-sen und die die unterstellte Regelhaftigkeit verletzen würden. Dieses Prin-zip wird in dieser Arbeit nicht berücksichtigt, weil das Forschungsthema eindeutig dem Arbeitsfeld der stationären Jugendhilfe zugeordnet werden kann und sich die Arbeitsaufträge an die Experten auf die Paraphrasierung der Sequenzen und die Identifizierung der Deutungsmuster beziehen.

Bei der Frage, mit welcher Auswertungsmethode die Facharbeitstexte unter-sucht werden sollen, hat sich der Diskurs der auswertenden Experten vor al-lem darauf konzentriert, einen Konsens zu finden. Dieser beruht auf der An-wendung der Sequenzanalyse, die als anschlussfähige Methode angesehen wird. Sie liefert eine geeignete Struktur sowohl für einen inhaltsbezogenen Diskurs in Form der diskursiven Validierung als auch in Bezug auf die Iden-tifizierung von Deutungsmustern.

Reichertz weist darauf hin, dass vieles, was während der Sequenzanalyse bearbeitet wird, nicht beschrieben oder diskutiert werden kann und dass die Praxis der Sequenzanalyse daher einer „terra inkognita“ (Reichertz, 2011, S.

5) gleiche. Damit die Daten, die mithilfe der Sequenzanalyse erhoben wer-den, tatsächlich für die weitere Forschungsarbeit genutzt werden können, kommt es seiner Meinung nach entscheidend auf die Fragestellung an, mit der sie erhoben werden. In der qualitativen Forschung unterscheidet er ins-gesamt vier Großfragerichtungen (Reichertz, 2011, S. 9 f.):

a. Frage nach den subjektiven Sinnwelten von Handlungen: „Im Mittelpunkt dieser Forschungsperspektive steht das Subjekt, seine Sichtweisen, Weltbil-der, lebensgeschichtlichen (Leidens-)Erfahrungen, Hoffnungen und Hand-lungsmöglichkeiten“ (Lüders/Reichertz 1986, S. 92). Es geht um die Gewin-nung der Innensicht des Subjekts, also um Eindrücke, Wünsche, Ängste, Welt- und Fremddeutungen etc. […].

b. Deskription sozialen Handelns und sozialer Milieus: „Zu dieser hier sehr allgemein bezeichneten Forschungsperspektive gehören alle jene Ansätze, die – auf welchem Weg auch immer – letztlich beanspruchen, soziales Handeln – und damit ist unter dieser Perspektive immer gemeint: soziales Handeln in Milieus – zu beschreiben und zu verstehen“ (ebd. S. 93) […].

c. Rekonstruktion deutungs- und handlungsgenerierender Strukturen: „Ge-meinsam ist den Ansätzen dieser Forschungsperspektive der Anspruch, deu-tungs- und handlungsgenerierende Tiefenstrukturen rekonstruieren zu wollen“

(ebd. S. 95). Es sind vor allem die Objektive Hermeneutik, die Gattungsana-lyse und die KonversationsanaGattungsana-lyse, die dieser Fragerichtung nachgehen.

d. (Re)Konstruktion historisch und sozial vortypisierter Deutungsarbeit: Diese Forschungsrichtung versucht zu (re)konstruieren, aufgrund welcher Sinnbe-züge Menschen handeln, wie sie handeln. Gefragt wird, wie Subjekte, hinein-geboren in eine historisch und sozial vorgedeutete Welt, diese Welt permanent deuten und somit auch verändern […].

Vergleicht man die forschungsleitenden Fragestellungen, die dieser Arbeit zugrunde liegen, mit den oben genannten Großfragerichtungen, dann zeigt sich, dass eine eindeutige Zuordnung nicht möglich ist. Der Grund dafür ist, dass es bei den Forschungsfragen nicht nur um die Identifizierung von Deu-tungsmustern, das heißt, um die Gewinnung der Innensichten der Verfasser der Facharbeitstexte geht. Es wird auch untersucht, inwieweit die Innensich-ten der pädagogischen Akteure ihre pädagogischen Handlungsorientierun-gen beeinflussen, das heißt, es geht um die Deskription sozialen Handelns in dem Arbeitsfeld der stationären Jugendhilfe.

Reichertz betont, dass es sich bei der Sequenzanalyse um ein Werkzeug handelt, dessen Handhabung erst auf das zu bearbeitende Werkstück einge-stellt werden muss (vgl. Reichertz, 2011, S. 24). Forschungspraktisch bedeu-tet das, dass jede Sequenzanalyse erst dem zu untersuchenden Gegenstand und der jeweiligen Forschungsfragestellung angepasst werden muss – Rei-chertz bezeichnet diesen Schritt als Kalibrierung (vgl. ebd., S. 25). Bei der Kalibrierung werden die Fragestellung und die Größe der Analyseeinheiten aufeinander abgestimmt:

Geht es in der Frage um den grundsätzlichen Aufbau von Bedeutung oder gar um die Praktiken, wie Sozialität angezeigt und hergestellt wird, dann sind gewiss die kleinsten Kommunikations- und Interaktionseinheiten von Bedeu-tung für die Analyse. Geht es in der Frage jedoch um die soziale BedeuBedeu-tung bestimmter Handlungszüge in einer sozialen Interaktion, dann muss die Fein-analyse nicht so fein sein: Dann arbeitet die SequenzFein-analyse mit größeren Einheiten. (Reichertz, 2011, S. 25)

Die Kalibrierung setzt idealtypisch auf drei Ebenen an; in der Regel werden forschungspraktische Gründe die Beschränkung auf eine einzige Kalibrie-rung nahelegen – auf welche, hängt vor allem von der Fragestellung und dem Datenmaterial ab (vgl. Reichertz, 2011, S. 26 f.):

1) Auf der ersten Ebene wird nur die erste Bedeutungseinheit der Daten be-trachtet. Die Setzung erfolgt in diesem Fall auf der grammatischen Ebene, Gegenstand der Interpretation ist das erste Lexem, also die kleinste sinn-tragende Analyseeinheit. Dieses kleinschrittige Vorgehen eignet sich etwa für die Auswertung von Interviews. Für umfangreichere Textsorten (wie den Facharbeiten) wird diese Variante als zu aufwendig und in Bezug auf die Beantwortung der Forschungsfragen deshalb als nicht zielführend an-gesehen, weil mit den forschungsleitenden Fragestellungen schon von An-fang an der Blick auf größere Einheiten ausgerichtet wird.

2) Auf der zweiten Ebene wird mit größeren Bedeutungseinheiten gearbeitet (wie sie etwa in den Facharbeiten der Studierenden zu finden sind) und untersucht, wie sich einzelfallspezifische Bedeutungen, zum Beispiel in Bezug auf die pädagogische Betreuung bzw. das pädagogische Handeln, aufbauen. Auf dieser Ebene setzt die Sequenzanalyse in dieser Arbeit an.

3) Auf der dritten Ebene wird erneut die Reichweite der Bedeutungseinhei-ten vergrößert. Jetzt werden pragmatische HandlungseinheiBedeutungseinhei-ten zum Ge-genstand der Interpretation. Neben den einzelfallspezifischen Bedeutun-gen finden sich in den Facharbeitstexten zahlreiche BeschreibunBedeutun-gen von pragmatischen Handlungseinheiten. Dies ist darauf zurückzuführen, dass die Studierenden bei der Anfertigung der Facharbeiten aufgefordert sind, ihre pädagogischen Handlungsoptionen darzulegen.

Zum Vorgehen der Sequenzanalyse

Bei der Sequenzanalyse lassen sich in Anlehnung an Reichertz (2011) drei Phasen (oder Schritte) unterscheiden (vgl. ebd., S. 21 ff.):

1) Lesartenproduktion

Bei der Lesartenproduktion wird auf den Anfang der Interaktion fokussiert und versucht, gedankenexperimentell „möglichst viele Kontextbedingun-gen zu entwickeln und aufzulisten […], die diese Äußerung zu einer ver-ständlichen und pragmatisch sinnvollen machen könnten, ihre pragmati-schen Geltungsbedingungen erfüllen“ (Oevermann et al., 1979, S. 415, zi-tiert nach Reichertz, 2011, S. 22). Es geht in dieser Phase darum, Ge-schichten zu erfinden, in denen die im Text stehenden Äußerungen einen Sinn ergeben. „Von diesen sinnmachenden Geschichten – auch Lesarten genannt – gibt es eine große Fülle zu jeder Äußerung. Aber auch wenn die

Anzahl der Lesarten immens groß ist, so heißt das nicht, dass einer Äuße-rung alle Lesarten offenstünden“ (Reichertz, 2011, S. 22).

2) Explikation

Im zweiten Schritt geht es darum, die in den Lesarten enthaltenen Hand-lungsregeln bzw. latenten Sinnstrukturen zu identifizieren und zu erklä-ren. Mit diesen pragmatischen Implikaten lässt sich der gesamte mögliche Handlungsraum des Handlungssystems aufzeigen. Oevermann konstatiert in diesem Zusammenhang: „Je ausführlicher die latente Sinnstruktur des ersten Interakts bestimmt worden ist, desto deutlicher und konturierter läßt sich in der sequentiellen Analyse das den Fall abdeckende, spezifische In-teraktionsmuster herauskristallisieren“ (Oevermann et al., 1979, S. 420, zitiert nach Reichertz, 2011, S. 22).

3) Überprüfung

In der dritten Phase überprüft der Interpret, welche der in den Lesarten aufgeführten Handlungsoptionen im Text tatsächlich realisiert worden sind und welche nicht. Dazu wird auf den tatsächlichen Kontext zurück-gegriffen. Dabei kann das Problem entstehen, dass sich nicht alle Lesarten gegenseitig ausschließen, sodass die empirische Realisation zu mehreren Lesarten passt. In der Regel ist es so, dass einige der Lesarten mit dem tatsächlichen Kontext nicht kompatibel sind und daher ausgeschlossen werden können. Aufschlussreich sind nicht allein die gewählten Lesarten, sondern ebenso aussagekräftig für die Rekonstruktion der Fallstruktur ist die Abwahl von Handlungsmöglichkeiten (vgl. Reichertz, 2011, S. 23).

Reichertz weist außerdem in Anlehnung an Oevermann auf drei Haupthin-dernisse hin, die aus dem Weg geräumt sein sollten, bevor mit der Sequenz-analyse begonnen werde (vgl. Reichertz, 2011, S. 12 f.).

1) Handlungsdruck, weil für die Analyse zu wenig Zeit zur Verfügung steht.

2) Sicherzustellen ist, „dass neurotische und/oder ideologische Verblendun-gen bei den Interpreten nicht vorhanden sind“ (ebd., S. 13). Wie dies ge-schehen soll, wird allerdings nicht ausgeführt.

3) Die Interpreten sollten „kompetente Mitglieder der untersuchten Sprach- und Interaktionsgemeinschaft“ (ebd.) sein. Als günstig habe es sich erwie-sen, wenn nach dem Prinzip der Gruppeninterpretation mehrere „geradezu streitsüchtige“ (ebd.) Interpreten gemeinsam einen Text analysierten.