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Diskursive Validierung durch die Experten

4. Anlage der empirischen Untersuchung

4.4 Diskursive Validierung durch die Experten

Bei der diskursiven Validierung analysieren Experten die Facharbeitstexte und versuchen, die in den Texten enthaltenen Deutungsmuster zu identifi-zieren. Für diese Methode formulieren Kleemann, Kränke und Matuschek Leitfragen, die für diese Arbeit in modifizierter Form übernommen werden (vgl. Kleemann et al., 2009, S. 128 ff.):

 Mit welcher (Grund-)Haltung geht der Verfasser der Facharbeit in den pä-dagogischen Prozess?

 Auf welchen Überzeugungen beruht das pädagogische Handeln?

 Welche Sichtweisen steuern die pädagogischen Handlungsoptionen?

 Welche Werthaltungen liegen dem pädagogischen Handeln zugrunde?

 Welche Einschätzungen nimmt der Verfasser der Facharbeit in bestimm-ten Situationen vor?

Reichertz wie auch Aeppli betonen, dass sich das Prinzip der Gruppenintpretation für die Validitätsfeststellung der Deutungsvarianten als günstig er-wiesen hat. Das heißt, dass „mehrere ‚geradezu streitsüchtige‘ Interpreten gemeinsam einen Text analysieren“ (Reichertz, 2011, S. 11). „Dieses Inter-pretationssetting nutzt systematisch die Perspektivenvielfalt von Arbeits-teams – setzt also auf den konkreten Diskurs und auf dessen überzeugungs-festigende und überzeugungsübertragende Kraft“ (ebd., S. 13). Aeppli ist ebenfalls der Auffassung, dass es sich als weitere Absicherung empfiehlt,

„die Analysearbeiten in einer Gruppe vorzunehmen“ (Aeppli et al., 2016, S.

244). Lamnek (1988, S. 151 ff.) hat die verschiedenen Typen der Validitäts-feststellung in der qualitativen Sozialforschung wie folgt zusammengefasst:

1) Ökologische Validierung, das heißt Herstellung von Gültigkeit im natür-lichen Lebensraum der Untersuchten bzw. einer Gruppe.

2) Kommunikative Validierung, das heißt der Versuch, sich seiner Interpre-tationsergebnisse zu vergewissern durch erneutes Befragen der Interview-ten.

3) Argumentative Validierung; das bedeutet, dass der Interpret seine Voran-nahmen offenlegt und seine Interpretationen durch die Verankerung in dem gemeinsam geteilten (Vor-)Wissen von Textinterpret und Leser der Interpretation offenbart.

4) Kumulative Validierung. Dieser Typ beinhaltet einen sukzessiven Pro-zess, in dem eine Verbindung von mehreren, als richtig anerkannten Er-gebnissen anderer Untersuchungen hergestellt wird.

5) Diskursive Validierung. Dieser Typ ist eine Interpretationsform in Grup-pen. Sie dient der Herstellung von Intersubjektivität und Nachvollziehbar-keit durch den expliziten Umgang mit Daten und deren Interpretationen.

Diese Form der Validierung wird auch in dieser Arbeit verwendet. Die Validierung wird in einer Gruppe von drei Experten durchgeführt, sodass die Interpretation der Facharbeitstexte mehrperspektivisch erfolgen kann.

Zum Expertenbegriff

Experten werden gewöhnlich als Sachverständige, Fachleute oder Kenner charakterisiert. Für Gläser und Laudel (2004) handelt es sich bei Experten um Menschen, „die ein besonderes Wissen über soziale Sachverhalte besit-zen“ (ebd., S. 10). Sie stellen in diesem Zusammenhang die Frage, ob der Experte ein Konstrukt des Forschers ist. Experte zu sein ist für die Autoren keine persönliche Eigenschaft, sondern man erlangt den Expertenstatus auf-grund von Zuschreibungen. Das kann in der Forschungspraxis zum Beispiel in Interviewsituationen dazu führen, dass die gewählten Experten angeregt werden, sich als Experte zu präsentieren und sich zu inszenieren (vgl. Pfa-denhauer, 2003).

Bogner, Litting und Menz (2014) weisen allerdings darauf hin, dass der Experte nicht ausschließlich ein Geschöpf des Forschers sein kann, weil wir bei der Expertenauswahl in der Regel auf Personen zurückgreifen, die ge-meinhin als Experten gelten; wir rekurrieren also immer auch auf gesell-schaftliche Konventionen. Das heißt, für die Auswahl eines Experten sind zwei Dinge konstitutiv:

1) das spezifische Forschungsinteresse (Wissensaspekt) 2) die soziale Repräsentativität des Experten (Machtaspekt).

Unscharf bleibt aus Sicht der Autoren die Beziehung dieser beiden Aspekte, und zwar im Hinblick auf eine konkrete Expertendefinition. Sie stellen des-halb die Frage, worin denn die Besonderheit des Expertenwissens besteht, und begründen ihre Frage damit, dass Experten nicht allein deshalb inter-viewt werden, weil sie über ein bestimmtes Wissen verfügen, sondern weil

dieses Wissen vielmehr in einem besonderen Ausmaß praxiswirksam wird.

Das heißt, wir befragen Experten vor allem in der qualitativen Forschung deshalb, weil uns ihre Handlungsorientierungen, ihr Wissen, ihre Einschät-zungen, Einstellungen, Sichtweisen und ihre Deutungsmuster interessieren, die im Übrigen die Handlungsbedingungen anderer Akteure in entscheiden-der Weise (mit-)strukturieren. Insofern erhält das Expertenwissen seine Be-deutung über seine soziale Wirkmächtigkeit. Diese Überlegungen führen Bogner, Litting und Menz zu folgender Definition:

Experten lassen sich als Personen verstehen, die sich – ausgehend von einem spezifischen Praxis- oder Erfahrungswissen, das sich auf einen klar begrenz-baren Problemkreis bezieht – die Möglichkeit geschaffen haben, mit ihren Deutungen das konkrete Handlungsfeld sinnhaft und handlungsleitend für An-dere zu strukturieren. (Bogner et al., 2014, S. 13)

Konkretisiert man diesen Expertenbegriff in Bezug auf diese Arbeit, dann lässt sich das Folgende feststellen: Das zentrale Forschungsanliegen bezieht sich auf die Erforschung der Deutungsmuster, die Studierende in Bezug auf ihre pädagogischen Handlungsorientierungen in der stationären Jugendhilfe entwickeln und im pädagogischen Umgang anwenden. Diese Untersuchung kann aber nur gelingen, wenn sie von Experten geleistet wird, die aufgrund ihres spezifischen Praxis- und Erfahrungswissens über zwei Formen der Ex-pertise verfügen:

1) hermeneutische Kompetenz, das heißt die Expertise, aus den Facharbeits-texten die Deutungsmuster zu generieren und sie in Relation zu den päda-gogischen Handlungsorientierungen zu stellen;

2) didaktisch-methodische Kompetenz, das heißt die Expertise, Handlungs-empfehlungen für die didaktisch-methodische Unterrichtsgestaltung zu formulieren.

Die Gruppe, die die Facharbeitstexte der Studierenden ausgewertet hat, be-stand aus drei gleichberechtigten, mit der entsprechenden fachlichen Exper-tise ausgestatteten Experten:

1. Diplom-Pädagogin mit langjähriger Erfahrung in der stationären Jugend-hilfe, insbesondere im Umgang mit verhaltensauffälligen Jugendlichen 2. Berufsschullehrerin mit Erfahrungen mit sozialen Freiwilligendiensten in

der stationären Jugendhilfe (Freiwilliges Soziales Jahr)

3. Berufsschullehrer mit ebenfalls langjähriger Erfahrung in der stationären Jugendhilfe.

Die beruflichen Biografien der drei Experten, die in das Forschungsvorhaben einbezogen waren (darunter der Verfasser dieser Arbeit), unterstreichen de-ren Expertenstatus sowohl in Bezug auf die hermeneutische Kompetenz als auch die methodisch-didaktischen Kompetenzen. Die Auswahl erfolgte vor dem Hintergrund, dass die Experten aufgrund ihrer Erfahrung Zugang zu der Lebenswelt der Heimerziehung haben. Darüber hinaus sollten sie über hin-reichende Kompetenzen im pädagogischen Umgang mit gebrochenen Bio-grafien sowie Verhaltensauffälligkeiten verfügen. Ihr Status im empirischen Teil (diskursive Validierung) bestand vor allem darin zu gewährleisten, dass die Interpretation und Identifizierung der Deutungsmuster nicht allein auf-grund der subjektiven Entscheidung eines Experten erfolgt. Durch die exper-tengestützte Validierung wurde es möglich, die Daten weiter empirisch in der Tiefe abzusichern und intersubjektiv überprüfbar zu machen. Dies er-folgte in drei Schritten:

1. Paraphrasierung von jeder einzelnen Sequenz

Daten diskursiv zu interpretieren, setzt voraus, dass die Interpreten auf ei-ner gemeinsamen Informationsbasis agieren. Sie wurden deshalb aufge-fordert, die einzelnen Sequenzen für sich zu paraphrasieren.

2. Diskursive Validierung jeder Sequenz als Gruppe

Die diskursive Validierung in dieser Arbeit bestand vor allem darin, dass die drei Experten möglichst zu einer einvernehmlichen Interpretation der Sequenzen gelangten, weshalb die Interrater-Reliabilität nicht weiter the-matisiert wurde. Allerdings wurden einzelne Sequenzen von den Experten unterschiedlichen Suchkriterien zugeordnet.

3. Interpretation in Bezug auf Deutungsmuster und Handlungsoptionen In diesem Schritt erfolgte, ebenfalls diskursiv, die Identifizierung der Deu-tungsmuster und Handlungsoptionen.

Auf dieser Basis erfolgte auch der fallübergreifende Vergleich. Hingewiesen sei zudem darauf, dass das Expertenteam nicht in eine begleitende kollegiale Supervision eingebunden war.

Bei der beruflichen Biografie des Verfassers der Dissertation ist anzumer-ken, dass dessen Expertenstatus zwei spezifische Aspekte aufweist:

Der Verfasser war als Leiter des Fachbereichs Sozialpädagogik an der Bundeswehrfachschule Hamburg unter anderem in die Beratung, Betreuung und Bewertung der Facharbeiten der Studierenden involviert, die jetzt von ihm untersucht werden. Zudem waren ihm die Studierenden persönlich be-kannt. Die Frage war, wie es sich realisieren ließ, in dieser Konstellation eine reflexiv-forschende Haltung einzunehmen, mit der alltägliche Handlungs-routinen unterbrochen und die Perspektive des Wissenschaftlers übernom-men werden konnte. Helsper (2001, S. 12) spricht in diesem Zusamübernom-menhang von einer wissenschaftlichen Reflexionskompetenz, die er als eine „reflexi-ve, methodisierte, wissenschaftliche Erkenntniskompetenz“ bezeichnet. Re-alisiert wurde das in dieser Arbeit anhand folgender Schritte, die in wesent-lichen Punkten den Handlungsschritten von Guardiera, Podlich und Reimer (2018) entsprechen. Auch ihr Vermittlungsansatz sieht die Arbeit anhand von pädagogischen Fällen bzw. Fallarbeit vor. Nach Meinung der Autorin-nen unterstützt sie den Aufbau von Reflexionskompetenz insofern, als sie dabei hilft, das eigene Deutungsrepertoire anhand von Fällen systematisch zu erweitern und eine reflexiv-forschende Grundhaltung zu katalysieren (vgl. Guardiera et al., 2018, S. 23).

 Aufbau von Distanz

Es wurden nur solche Facharbeiten ausgewählt, die der Verfasser weder als Erst- noch als Zweitprüfer betreut hat.

 Entwicklung einer forschenden Grundhaltung

Dies konnte durch einen Perspektivwechsel erfolgen, das heißt die Abkehr von der Bewertung der Facharbeiten als Prüfungsleistung hin zu einer Sichtweise als wissenschaftlicher Forschungsgegenstand. Er beinhaltete das Verlassen des Bewertungsschemas und die Hinwendung zu den For-schungsfragen. Unterstützt wurde dieser Prozess vor allem durch die Vor-stellung des Forschungsvorhabens im Promotionskolloquium, die Betreu-ungs- und Reflexionsgespräche und die Erstellung des Exposés in Kom-bination mit neuen Wissensbeständen bzw. theoretischen Erkenntnissen.

 Erweiterung des Deutungsrepertoires

Dadurch war es möglich, das auf Notengebung beruhende Punkteschema zu modifizieren und zu einem Deutungsmuster zu gelangen, das anstelle der Bewertungsskala die Einstellungen, Sichtweisen und Überzeugungen der Verfasser der Facharbeiten in den Blick nahm.

Hinzuweisen ist in diesem Zusammenhang darauf, dass der Verfasser dieser Studie im Rahmen seiner Funktion als unterrichtender Lehrer mit der Tatsa-che konfrontiert war, dass in einer bildungsgangdidaktisch geprägten Aus-bildung zwangsläufig die unterschiedlichen Facetten der pädagogischen Hal-tungen, Einstellungen und Sichtweisen von angehenden Erziehern – gerade im fallbasierten Unterricht – zutage getreten sind und dabei deutlich wurde, welchen Einfluss sie auf das pädagogische Handeln gegenüber jungen Men-schen, die in stationären Jugendhilfeeinrichtungen leben, ausübten. Auch im Kollegenkreis des Verfassers am Fachbereich für Sozialpädagogik an der Bundeswehrfachschule Hamburg stellte sich nicht nur einmal die Frage, wie die Relationen zwischen den Deutungsmustern und den Handlungsoptionen didaktisch-methodisch so in den Unterricht eingebunden werden können, ohne dass schützenswerte Persönlichkeitsrechte der Schüler tangiert worden wären. Die im Kollegenkreis zu dieser Problematik geführten Diskussionen in den Fachkonferenzen lieferten die Begründung für die Konzipierung des Handlungsmodells zur didaktisch-methodischen Strukturierung des fallba-sierten Unterrichtens (vgl. Kap. 6). Dort finden sich Antworten auf die Frage, wie in Zukunft die Reflexion von Deutungsmustern didaktisch-methodisch in den Unterricht an der Fachschule für Sozialpädagogik eingebunden wer-den kann.