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1. Verleihung der Staatsangehörigkeit und Unionsbürgerschaft

Wer über die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaates der Europäischen Union verfügt, be-sitzt in Ergänzung zur nationalen Staatsangehörigkeit die Unionsbürgerschaft (vgl. Art. 17 Abs. 1 EGV406). Sie ist nach Art. 18 ff EGV mit zahlreichen Rechten verbunden, insbesondere mit einem allgemeinen Recht auf Freizügigkeit und Aufenthalt in allen Mitgliedstaaten (Art. 18 Abs. 1 EGV); darüber hinaus besitzt ein Unionsbürger das aktive und passive Wahl-recht bei Kommunalwahlen und bei den Wahlen zum Europäischen Parlament (Art. 19 EGV), ein Petitionsrecht zum Europäischen Parlament und ein Beschwerderecht zum Europäischen Bürgerbeauftragten (Art. 21 EGV) sowie das Recht, bei Aufenthalt in einem Drittstaat den diplomatischen und konsularischen Schutz unter denselben Bedingungen in Anspruch zu neh-men wie ein Staatsangehöriger des ersuchten Mitgliedstaates (vgl. Art. 20 EGV). Mit der Tat-sache, daß die Verleihung der deutschen Staatsangehörigkeit gleichzeitig zum Erwerb der Unionsbürgerschaft führt, wurden vereinzelt gemeinschaftsrechtliche Einwände gegen die Einführung des Geburtsortsprinzips wie auch hinsichtlich der Erleichterung der Anspruchs-einbürgerung begründet407.

404 BVerwG a.a.O.

405 Vgl. hierzu Zimmermann, IPRax 2000, 180.

406 Vertrag der Europäischen Gemeinschaft, seit 1.2.2003 in der Fassung des Vertrages von Nizza zur Änderung des Vertrags über die Europäische Union, der Verträge zur Gründung der Europäischen Gemeinschaften sowie einiger damit zusammenhängender Rechtsakte (ABl. EG Nr. C 80 vom 10.3.2001, S. 1). - Vgl. zur Entwicklung der Unionsbürgerschaft Sauerwald, S. 54 ff; Scheffer, S. 182 ff; ausführlich zu Unionsbürgerschaft und Staatsan-gehörigkeit unten D.IX.

407 Vgl. etwa Scholz/Uhle, NJW 1999, 1510, 1515 Fn. 59.

Zur Regelung der Staatsangehörigkeit durch die Mitgliedstaaten der Europäischen Union führt der EuGH in der Micheletti-Entscheidung vom 7.7.1992408 aus, daß die Festlegung der Voraussetzungen für den Erwerb und den Verlust der Staatsangehörigkeit nach internationa-lem Recht der Zuständigkeit der einzelnen Mitgliedstaaten unterliegt, die diese Zuständigkeit unter Beachtung des Gemeinschaftsrechts auszuüben haben. Dem Hinweis auf die Beachtung der gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben kann allgemein entnommen werden, daß das Gemein-schaftsrecht für die nationalen Staatsangehörigkeitsregelungen der einzelnen Mitgliedstaaten nicht ohne Bedeutung ist. Teilweise wurde daraus weiterhin gefolgert, daß ein Mitgliedstaat möglicherweise die Pflicht zur Gemeinschaftstreue aus Art. 10 EGV verletzt, falls er einer sehr großen Gruppe von Drittstaatsangehörigen die eigene Staatsangehörigkeit verleiht, ohne zuvor Beratungen mit der Europäischen Gemeinschaft bzw. mit den anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft aufgenommen zu haben409.

Gegen diese Auffassung spricht jedoch, daß kaum eine Fallkonstellation vorstellbar ist, in der ein Mitgliedstaat auf dem Gebiet des Staatsangehörigkeitsrechts gegen die Pflicht zur Ge-meinschaftstreue aus Art. 10 EGV verstieße, ohne nicht auch gleichzeitig die völkerrecht-lichen Schranken in diesem Bereich zu mißachten, wie etwa das Erfordernis eines hinreichen-den Anknüpfungspunktes410. Des weiteren ist Art. 10 EGV seinerseits im Licht des EUV aus-zulegen, nach dessen Art. 6 Abs. 3 die Union die nationale Identität ihrer Mitgliedstaaten ach-tet. Die nationale Identität eines Staates umfaßt jedoch gerade auch die Bestimmung des Krei-ses seiner Staatsangehörigen411.

Die Reform des Staatsangehörigkeitsrechts vom 15.7.1999 hat nicht dazu geführt, daß einer größeren Zahl von Personen, die nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaates der Euro-päischen Gemeinschaft besitzen, die deutsche Staatsangehörigkeit ohne Rücksicht auf das Vorhandensein ausreichender Anknüpfungspunkte verliehen worden wäre. Insbesondere hat der Gesetzgeber den Staatsangehörigkeitserwerb kraft Geburt im Inland vom Vorliegen einer hinreichend engen Beziehung zur Bundesrepublik Deutschland abhängig gemacht412. Hinzu kommt, daß das ergänzende ius soli auch der überwiegenden staatsangehörigkeitsrechtlichen Praxis der anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union entspricht. Die Pflicht zur Be-rücksichtigung der Interessen der Gemeinschaft wird daher durch die Einführung des

408 Mario Vicente Micheletti u.a./Delegación del Gobierno en Cantabria, Rs. C-369/90, Slg. 1992, 4239, I-4262; vgl. weiterhin die Entscheidung des EuGH in der Rechtssache Belgischer Staat/Fatna Mesbah vom 11.11.1999, Slg. 1999, I-7955; ausführlich zur EuGH-Rspr. in Fällen mehrfacher Staatsangehörigkeit Graßhof, VBlBW 2002, 280, 286 ff, und unten D.IX.3.

409 De Groot, in: Festschrift für Bleckmann zum 60. Geburtstag, S. 87, 102, unter Hinweis auf eine Rede des niederländischen Ministerpräsidenten, worin als politische Möglichkeit erwähnt wurde, der gesamten Bevölke-rung der Republik Surinam die niederländische Staatsangehörigkeit zu verleihen.

410 Zimmermann, EuR 1995, 54, 63.

411 Zimmermann a.a.O.

412 Vgl. oben B.VI.1.a)cc).

ortsprinzips für die in Deutschland geborenen Ausländer der dritten Generation nicht ver-letzt413.

2. Mehrfache Staatsangehörigkeit

Wie der EuGH im Fall Micheletti414 weiterhin festgestellt hat, verwehren es die Bestimmun-gen des Gemeinschaftsrechts auf dem Gebiet der Niederlassungsfreiheit einem Mitgliedstaat, dem Staatsangehörigen eines anderen Mitgliedstaates, der zugleich die Staatsangehörigkeit eines Drittstaates besitzt, diese Freiheit deswegen zu versagen, weil der Betreffende nach den Rechtsvorschriften des Aufnahmestaates als Staatsangehöriger des Drittstaates gilt415. Die Mitgliedstaaten sind also verpflichtet, bei Doppelstaatern die von einem anderen Mitgliedstaat verliehene Staatsangehörigkeit anzuerkennen und Doppelstaater stets als Unionsbürger anzu-sehen, und zwar ohne Rücksicht darauf, welche Staatsangehörigkeit die effektive ist416. Insbe-sondere darf die Anerkennung der Staatsangehörigkeit eines anderen Mitgliedstaates im Hin-blick auf die Ausübung der im EGV vorgesehenen Grundfreiheiten nicht von einer zusätz-lichen Voraussetzung abhängig gemacht werden. Dies gilt um so mehr, als die Zulassung einer solchen Möglichkeit dazu führen würde, daß der persönliche Geltungsbereich der Ge-meinschaftsbestimmungen über die Niederlassungsfreiheit in den Mitgliedstaaten unterschied-lich sein könnte417.

Sofern eine doppelte Staatsangehörigkeit bestimmte Privilegierungen hinsichtlich der Aus-übung der Grundfreiheiten mit sich bringt, handelt es sich um eine schon bisher akzeptierte Folge mehrfacher Staatsangehörigkeit, die durch das neue deutsche Staatsangehörigkeitsrecht bereits vorgefunden und nicht erst herbeigeführt wird418. Bei der Wahl der Abgeordneten des Europäischen Parlaments wurde die Wahlrechtsgleichheit sichergestellt, indem durch entspre-chende Vorschriften dafür Sorge getragen wurde, daß das Wahlrecht von jedem Unionsbürger auch im Falle einer mehrfachen Wahlberechtigung nur einmal ausgeübt werden darf419. Der Umstand, daß Unionsbürger, die mehreren Mitgliedstaaten angehören, über die nationalen Wahlen auch mehrfachen Einfluß auf die Zusammensetzung des Rates nehmen können, ist demgegenüber von geringer Bedeutung, da es sich hier lediglich um eine mittelbare Legitima-tion der jeweiligen Regierungsvertreter handelt420.

413 Hailbronner, in: Hailbronner/Renner, Einl. F Rn. 86.

414 Rs. C-369/90 vom 7.7.1992, Slg. 1992, I-4239; Generalanwalt Tesauro nimmt in seinen Schlußanträgen Bezug auf die Entscheidungen des EuGH in der Rechtssache Auer (Rs. 136/78 vom 7.2.1979, Slg. 1979, 437) und in der Rechtssache Gullung (Rs. 292/86 vom 19.1.1988, Slg. 1988, 111).

415 EuGH a.a.O., I-4263.

416 Vgl. Hailbronner, ZAR 1999, 51, 53.

417 EuGH a.a.O., I-4262. Ausführlich zu doppelter Staatsangehörigkeit und Unionsbürgerschaft unten D.IX.3.

418 Weber, DVBl. 2000, 369, 375.

419 Vgl. Huber/Butzke, NJW 1999, 2769, 2772 f; ausführlich zu den Richtlinien und zu § 6 Abs. 4 EuWG unten D.VI.1.a).

420 Weber a.a.O.; skeptisch dagegen Huber/Butzke a.a.O., 2773.

3. Ergebnis

Die Neuregelung des Staatsangehörigkeitsrechts ist, soweit sie zu einer verstärkten Hinnahme von Mehrstaatigkeit führt, mit europäischem Gemeinschaftsrecht vereinbar. Dies gilt auch für den neu eingeführten Erwerb der Staatsangehörigkeit durch Geburt im Inland und die Erleich-terungen bei der Einbürgerung.

VIII. Rechtspolitische Fragen und Praktikabilität künftiger Regelungen zur