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Das Problem bei der Beurteilung der Tiergerechtheit einer Haltung besteht darin, Befindlichkeiten bei Tieren wissenschaftlich exakt und repräsentativ nachzuweisen.

Aus diesem Grunde wurden verschiedene ethologische Konzepte erarbeitet, die anhand von Indikatoren Befindlichkeiten wie Schmerzen, Leiden und Schäden bei Tieren, die durch nicht tiergerechte Haltung oder Behandlung verursacht wurden, zu benennen und ihre Erheblichkeit festzustellen (SCHMITZ 1994).

Analogieschluss nach Sambraus

Der Analogieschluss vom Menschen auf das Tier ist für das Erkennen von Befind-lichkeiten bei Tieren unumgänglich, denn diese können nur vom betroffenen Indivi-duum selbst wahrgenommen werden und sind nicht beweisbar (SAMBRAUS 1981, 1994). Die Analogie gilt zumindest für warmblütige Säugetiere, denn diese zeigen „im grundsätzlichen eine außerordentlich große Übereinstimmung in Morphologie, Histologie, Physiologie und der neuralen Organisation mit dem Menschen. Das gleiche gilt für die Verhaltensorganisation“ (SAMBRAUS 1981).

Menschliche Empfindungen werden von objektiv wahrnehmbaren Erscheinungen begleitet. In bestimmten Situationen treten auch beim Tier Abweichungen von der morphologischen, physiologischen und ethologischen Norm auf. Daraus schließt man darauf, dass auch beim Tier Empfindungen existieren (SAMBRAUS 1994).

Situationen, die beim Menschen Angst auslösen, rufen beim Tier vergleichbare Reaktionen hervor (SAMBRAUS 1981).

Wichtig für eine exakte Einschätzung ist umfangreiches ethologisches Fachwissen, denn nur so können Abweichungen von der Norm auch erkannt werden.

Bedarfsdeckungs- und Schadensvermeidungskonzept, Befindlichkeitskonzept nach Tschanz

Die im Tierschutzgesetz geforderte artgemäße Ernährung und Pflege und verhal-tensgerechte Unterbringung ist nach dem Konzept der Bedarfsdeckung und Scha-densvermeidung dann erfüllt, wenn die Haltungsbedingungen so gestaltet sind, dass

das Tier seinen Bedarf aufgrund biologischer Normen decken und Schaden vermei-den kann. Bedarfsdeckung und Schavermei-densvermeidung sind dabei grundlegende Funktionen des Verhaltens zur erfolgreichen Auseinandersetzung eines Individuums mit sich selbst und der Umwelt (TSCHANZ 1984).

Alle Lebewesen sind fähig zu Selbstaufbau, Selbsterhaltung und Fortpflanzung.

Daraus entsteht ein Bedarf an Stoffen und Reizen und ein Streben nach Deckung des Bedarfs. TSCHANZ (1984) weist mit Nachdruck darauf hin, dass artgemäße Reize notwendig sind, damit das Individuum sich seiner Anlage gemäß selbst aufbauen, selbst erhalten und selbst reproduzieren kann.

Dies erfordert die aktive Auseinandersetzung mit der Umwelt, die bewertet und entsprechend genutzt werden muss. Da Umwelteinflüsse auch schädigen können, muss das Individuum zur Schadensvermeidung fähig sein. Dieses Konzept der Bedarfsdeckung und Schadensvermeidung ermöglicht naturwissenschaftlich gesi-cherte Aussagen über den Bedarf eines Tieres anhand seines Verhaltens. Auf Befindlichkeiten wird dabei nicht eingegangen, aber auch sie beeinflussen das Verhalten. Deshalb wird das Bedarfsdeckungs- und Schadensvermeidungskonzept zum Befindlichkeitskonzept erweitert (TSCHANZ et al. 1997).

Tiere bewerten im psychischen Bereich auftretende qualitative Zustände emotional als angenehm oder unangenehm (TSCHANZ 1994). Der als angenehm bewertete Zustand wird bevorzugt aufgesucht und genutzt und begünstigt die Bedarfsdeckung.

Unangenehm bewertete Zustände dagegen werden gemieden und dienen der Schadensvermeidung (TSCHANZ 1994). Auch die gefühlsmäßige Wertung der inneren Zustände Sicherheit und Unsicherheit trägt zur erfolgreichen Auseinander-setzung mit der Umwelt bei. Die Bestätigung der Bewältigungsfähigkeit einer Situati-on führt zu einem sicheren Gefühl, mangelnde Bewältigungsfähigkeit dagegen resultiert in einem Unsicherheitsgefühl (TSCHANZ et al. 1997).

Die Bewertung von Erlebtem durch das Tier äußert sich in einem bestimmten Verhalten (TSCHANZ et al. 2001). Dabei begünstigt emotional gesteuertes Verhalten die Überlebensmöglichkeiten des Individuums (TSCHANZ et al. 1997).

Anhand des Verhaltens ist es nun möglich, Rückschlüsse auf psychische Vorgänge beim Tier zu ziehen und für die Beurteilung von Haltungsbedingungen zu nutzen.

Zeigt das Individuum eine Zuwendung zu einer Reizquelle, ist dies mit erwünschtem Erleben und mit Lust verbunden. Die Abwendung von der Reizquelle ist mit uner-wünschtem Erleben und Unlust verbunden.

Der Nachweis von Leiden stützt sich dabei „auf die Feststellung,

1. dass sich das Tier Umwelteinflüssen durch Meiden, Abwehr oder Nichtverhal-ten zu entziehen versucht, ihm das aber nicht gelingt, weil es mit seinem art-typischen Verhalten die Situation nicht bewältigen kann, oder

2. dass das Tier nach Objekten und Situationen sucht, die zu erwünschtem Erle-ben führen, ihm das aber nicht gelingt, weil es mit seinem arttypischen Verhal-ten die dazu erforderlichen Bedingungen nicht zu schaffen vermag“

(TSCHANZ et al. 2001).

Ist eine Situation nicht zu bewältigen, reagiert das Individuum mit Rückzug, Nichtver-halten oder inadäquatem VerNichtver-halten, wie z. B. VerNichtver-haltensstereotypien (TSCHANZ 2000).

Somit sind nachvollziehbare Aussagen über die Beziehung von körperlichen und psychischen Vorgängen anhand der Ethologie möglich (TSCHANZ et al. 2001).

Handlungsbereitschaftsmodell nach Buchholtz

Das Handlungsbereitschaftsmodell soll als verhaltensphysiologisches Gesamtkon-zept der Beurteilung und Bewertung von Verhaltensweisen innerhalb verschiedener Haltungssysteme dienen (BUCHHOLTZ 1993). Dabei sollen die Grenzen der Anpassungsfähigkeit von Tieren in Bezug auf Zucht und Haltung erkennbar gemacht werden.

Zahlreiche endogene und exogene Faktoren beeinflussen die Handlungsbereitschaft und ermöglichen so die Anpassung an wechselnde Umweltbedingungen (BUCHHOLTZ 1993). Anpassungsfähigkeit schließt dabei Befindlichkeiten im Sinne von Wohlbefinden und Nicht-Wohlbefinden mit ein, deren wissenschaftliche Aner-kennung Voraussetzung für dieses Konzept ist (SAMBRAUS 1997b). Grundlage dafür ist nach BUCHHOLTZ (1993) der stammesgeschichtliche Vergleich neuronaler und hormoneller Systeme und die Übertragung des morphologisch-physiologischen Homologie-Prinzips auch auf Verhalten und auf Befindlichkeiten.

Aussagen über das Wohlbefinden werden anhand von Verhaltensindikatoren gemacht. So sollen schon zu einem frühen Zeitpunkt ungeeignete Haltungsbedin-gungen erkannt werden (SAMBRAUS 1997b).

Das Handlungsbereitschaftssystem ist die zentralnervöse Verarbeitungsinstanz, die im Limbischen System lokalisiert ist. Sowohl Befindlichkeiten als auch das Verhalten stehen damit in Verbindung (SCHMITZ 1994). Dieses System ist gegenüber der Umwelt offen und wird kontinuierlich durch unspezifische Reize und zahlreiche endogene Faktoren beeinflusst. Die unspezifischen Reize sind von besonderer Bedeutung, denn sie beeinflussen den Schwellenwert für spezifische Reize. Ohne ein Mindestmaß an unspezifischen Reizen treten Verhaltensstörungen auf.

Im Handlungsbereitschaftssystem werden nun alle eingegangenen Faktoren ver-rechnet und über die jeweilige Aktivierung eines zugeordneten Auslösemechanismus entschieden. Die Handlungsbereitschaften sind jeweils für verschiedene Funktions-kreise zuständig. Ergebnis dieser Verarbeitung ist ein Verhalten, das zur Verände-rung des Organismus in der Umwelt führt. Die ausgelösten Reaktionen sind dabei

spezifisch. Über Feedback-Prozesse nehmen die Reaktionen wiederum Einfluss auf die zentralnervöse Verarbeitungsinstanz. Auch Lernprozesse werden mittels eines ständigen Informationsaustausches zwischen kortikaler Ebene und Limbischem System berücksichtigt (BUCHHOLTZ 1993). Die Verrechnungsergebnisse werden nun mit Gedächtnisinhalten verglichen und bewertet. Diese Bewertung ist befindlich-keitsgetönt, d. h. mit Wohlbefinden oder Nicht-Wohlbefinden korreliert. (SCHMITZ 1994).

Verhaltensstörungen sind hochempfindliche Indikatoren für die Beeinträchtigung der Verhaltensregulation des Tieres in seiner Umwelt (SCHMITZ 1994).

Nach BUCHHOLTZ (1993) treten vor allem unter restriktiven Haltungsbedingungen Störungen des Verhaltens als Zeichen von Nicht-Wohlbefinden auf. Diese werden gekennzeichnet durch Verhaltenselemente bzw. Verhaltenssequenzen, die sich in Dauer und Häufigkeit sowie in räumlicher und zeitlicher Einstellung vom Normalver-halten unterscheiden. Die zentrale VerNormalver-haltensregulation ist gestört.

BUCHHOLTZ (1993) unterscheidet zwischen Ethopathien, Neurosen und post-psychosomatischen Verhaltensstörungen.

Ethopathien sind genetisch oder exogen bedingte Verhaltensstörungen, die durch organpathologische Veränderungen verursacht werden.

Neurosen sind erworben und treten im Gegensatz zu Ethopathien vor allem bei restriktiven Haltungsbedingungen auf. Das Handlungsbereitschaftssystem ist dabei infolge fehlender Umweltreize beeinträchtigt. Vor allem der Mangel an unspezifi-schen Reizen (z. B. Zwingerhaltung), aber auch fehlende spezifische Reize (z. B.

fehlender Sozialpartner) führen zu Deprivationsschäden. Fehlprägungen oder versäumte Prägungen durch den Mangel adäquater Reize in der sensiblen Phase der Ontogenese zählen ebenfalls zu den Neurosen.

Aktualgenetisch erworbene Verhaltensstörungen dagegen entstehen kurzfristig unabhängig vom Entwicklungsstadium. Dazu zählen Aktionen am Ersatzobjekt, die Verselbständigung von Übersprungverhaltensweisen als Folgen wiederholter Konfliktsituationen und traumatische Verhaltensstörungen nach Lernprozessen.

Letzteres resultiert aus der Nichterfüllung von Erwartungshaltungen, die gleichzeitig mit Lernprozessen einhergehen.

Post-psychosomatische Verhaltensstörungen entstehen sekundär nach organischer Schädigung infolge einer primären Verhaltensstörung.

Das Handlungsbereitschaftsmodell stellt die Wechselbeziehungen zwischen Verhal-tensstörungen und Befindlichkeiten dar, denn das Limbische System ist sowohl der Ort der Motivation als auch Ort der Befindlichkeiten. Das heißt, Befindlichkeiten und Verhalten sind eng miteinander verknüpft (SAMBRAUS 1997b).

Messbarkeit des Wohlbefindens von Nutztieren nach van Putten

Grundlage dieses Konzeptes ist die Definition des Begriffes Wohlbefinden mit dem Ziel der Beurteilung des Verhaltens von Nutztieren. Nach van PUTTEN (1982) befindet sich ein Tier wohl, wenn es in angemessener Harmonie mit sich und der Umwelt lebt und die Anpassungsfähigkeit nicht überschritten wird. Da Nutztiere im Gegensatz zu Wildtieren in einer vom Menschen geschaffenen Umgebung leben, der sie sich nicht entziehen können, sind Fragen der Adaptation dabei von besonderer Bedeutung (MILITZER 1986a).

Während der Domestikation konnten sich die Haustiere und deren Haltungssysteme in wechselseitiger Abhängigkeit entwickeln und beeinflussen. Dies gilt auch für die kleinen Labortiere mit ihren schnellen Generationswechseln. Diese Entwicklung verlief langfristig, so dass sich das Verhaltensrepertoire über Generationen entspre-chend anpassen konnte. Probleme entstehen bei plötzlichen Haltungsänderungen, bei denen dann eine schnelle Verhaltensanpassung nicht möglich ist und die Tiere mit Abweichungen vom Normalverhalten reagieren. Dies ist als Zeichen gestörten Wohlbefindens zu werten (MILITZER 1986a).

„Maßgebend für das Wohlbefinden sind das normale Funktionieren vom Körper und vom artspezifischen Verhalten“ (van PUTTEN 1982).

Wohlbefinden ist wissenschaftlich erfassbar, wenn Abweichungen vom artspezifi-schen Verhalten oder der Physiologie in Frequenz und Dauer aufgezeichnet und mit einem Referenzsystem verglichen werden (van PUTTEN 1982).

Das Konzept legt dabei zugrunde, dass jedes Tier zu jedem Zeitpunkt nach optimaler Bedürfnisbefriedigung sucht. Diese Bedürfnisse können endogener oder exogener Natur sein. Für die Ausführung normalen Verhaltens sind dabei spezifische Reize notwendig, nach denen das Tier in Form von Appetenzverhalten sucht. Wie spezi-fisch der Reiz sein muss, hängt dabei vom Adaptationsvermögen des Tieres ab.

Werden so die Bedürfnisse befriedigt, befindet sich das Tier in einer harmonischen Situation mit der Umwelt.

Ist kein spezifischer Reiz vorhanden bzw. ist der Reiz nur wenig spezifisch, so gerät das Tier bei essentiellen Verhaltensweisen wie z. B. dem Fressverhalten in den Konflikt, mit dem Appetenzverhalten fortzufahren oder etwas ganz anderes zu tun.

Wenn der Reiz dem gesuchten einigermaßen ähnlich ist, reagiert das Tier mit Konfliktverhalten auf diesen „Ersatzreiz“. Konfliktverhalten tritt bei Nutztieren meist infolge reizarmer Haltungsbedingungen auf. Van PUTTEN (1982) unterscheidet beim Konfliktverhalten zwischen:

1. Intentionsbewegungen: Andeutung eines Verhaltens, ohne dieses tatsäch-lich durchzuführen oder durchführen zu können.

2. Alternativbewegungen: Abwechslung von Verhaltensweisen aufgrund wech-selnder Neigungen.

3. Ambivalentes Verhalten: Mischung von Komponenten zweier Verhaltens-muster.

4. Kompromissbewegungen: Entscheidung weder für die eine noch für die an-dere Verhaltensweise, sondern „Mittelweg“.

5. Autonome Reaktionen: Spontanes Auftreten von normalerweise kontrollier-ten Funktionen bei Stress (z. B. spontane Miktion oder Defäkation).

6. Übersprungsverhalten: Verhaltensweise, die vom Tier in einer belastenden Situation ausgeführt wird, ohne dabei zur Problemlösung bedeutsam zu sein (z. B. Putzen).

7. Handlungen am Ersatzobjekt: Ausführung ursprünglich gewünschten Verhal-tens am Ersatzreiz, der dem Originalreiz ähnlich, aber weniger spezifisch ist.

8. Sexuelle Inversion: Homophiles Verhalten mit der Verschiebung von männli-chen bzw. weiblimännli-chen Verhaltensweisen in Richtung des jeweils anderen Geschlechts.

9. Regressives Verhalten: Zurückfallen in Verhaltensmuster der früheren Onto-genese unter belastenden Situationen.

10. Aggressives Verhalten: Extremfall, bei dem aggressives Verhalten aufgrund von Frustrationen o. ä. ausgeführt wird und von „normaler“ Aggression zu unterscheiden ist.

11. Immobilität: „Sich tot stellen“ in bedrängender Situation.

Allen Konfliktverhaltensweisen ist gemeinsam, dass der spezifische Reiz zwar fehlt, aber ein Ersatzreiz gefunden wird, an dem die Bedürfnisse befriedigt werden sollen.

Bedürfnisse, die anhand von spezifischen Reizen befriedigt werden, können stärker oder besser befriedigt werden als durch weniger spezifische oder fehlende Reize.

Handelt es sich nun um für das Tier derart essentielle Bedürfnisse, dass das Tier alles unternimmt und das Verhalten sogar ohne spezifische oder ersetzende Reize durchführt, kommt es zu Leerlaufverhalten. Beispiele dafür sind das Leerkauen bei Mast- und Zuchtschweinen und die Futtersuche von Mastschweinen auf Betonspal-tenböden.

Konflikt- oder Leerlaufverhalten tritt immer dann auf, wenn die empfundenen Bedürf-nisse eine hohe Priorität für das Tier besitzen, aber das geeignete Objekt zur Bedürfnisbefriedigung nicht zur Verfügung steht. Ist die Häufigkeit von Konflikt- oder Leerlaufverhalten in einem Haltungssystem größer als in einem Referenzsystem, kann von einer Beeinträchtigung des Wohlbefindens ausgegangen werden und so das Haltungssystem beurteilt werden. Durch langfristige Registrierung dieser Verhal-tensweisen kann nicht nur das Wohlbefinden der Tiere beurteilt werden, sondern auch die Art der unbefriedigten Bedürfnisse erfasst werden. Somit sind Verbesse-rungsmöglichkeiten des Haltungssystems gegeben (van PUTTEN 1982).