• Keine Ergebnisse gefunden

Da ein Übertrainingssyndrom als systemischer Erschöpfungszustand eine Folgeerscheinung dauerhafter Ermüdung ohne ausreichende Erholung darstellt, also Ausdruck einer „Summation von Ermüdungsresten“ (Höltke, 2003, S. 88) ist, stellt sich die Frage, welche physiologischen, bio-chemischen und psychologischen Mechanismen Ermüdung bedingen und infolgedessen sportliche Leistung limitieren. Die Darstellung dieser Faktoren erfolgt stark vereinfacht in Anlehnung an Noakes (2000), der mithilfe von sechs Modellen einen Überblick über diejenigen physiologischen und psychologischen Teilsysteme gibt, die allesamt auf unterschiedliche Art und Weise ermüdungsbedingte Anpassungserscheinungen zeigen und ursächlich an der Entstehung von Leistungsminderungen beteiligt sein könnten.

Von einer einzelnen Ursache für die Entstehung eines Übertrainingssyndroms auszugehen, wie dies viele vorherrschende Hypothesen tun, erscheint zweifelhaft (Vogel, 2001). Vielmehr ist zu erwarten, dass „die diversen Regelkreise […] der psychischen und physischen Systeme […] eng miteinander interagieren“ und nicht immer eindeutig ist, ob „einzelne Parameter innerhalb eines Regelkreises diesen in seiner Gesamtheit repräsentieren“ können (Vogel, 2001, S. 157).

Ermüdung entsteht nach intensiver und/oder lang anhaltender Arbeit, kommt in einem Absinken der Leistungsfähigkeit zum Ausdruck und ist als körperliche und psychische Prozesse umfassen-des komplexes Geschehen reversibler Natur. Ihre Entstehungsweise ist abhängig von der Art der Belastung und kann sowohl zentralnervöse als auch muskuläre Prozesse betreffen (vgl. de Marées, 2003). Dosierte Ermüdung durch entsprechende Belastung und Wiederherstellung im Sinne einer Superkompensation stellt, wie bereits erwähnt, eine Voraussetzung zur Anpassung und Leistungssteigerung dar.

2.3.1 Kardiovaskuläre Prozesse

Es wird angenommen, dass maximale sportliche Leistungen im Ausdauerbereich durch eine nicht mehr ausreichende Sauerstoffversorgung der arbeitenden Muskulatur limitiert werden (vgl.

Kasikcioglu, Oflaz, Oncul, Kayserilioglu, Umman & Nisanci, 2008). Dadurch kommt es zu einer Laktatanhäufung und durch eine Zunahme an Wasserstoffionen zu einer Übersäuerung im Muskel.

Die Glykolyse läuft verlangsamt ab, Calciumionen werden vom Troponin verdrängt und beeinträchtigen den Kontraktionsvorgang (Klinke, Pape & Silbernagl, 2005). Die maximale Sauer-stoffaufnahmefähigkeit (VO² max.) stellt möglicherweise den entscheidenden leistungslimitieren-den Faktor bei Ausdauerbelastungen dar. Sie setzt sich zusammen aus der Pumpleistung des Herzens, dem maximalen Herzzeitvolumen und der effektiven Nutzung des Sauerstoffs durch die Muskulatur. Auf beiden Ebenen kann es zu Anpassungserscheinungen kommen – am Herz durch eine Muskelhypertrophie, die ein erhöhtes Schlagvolumen generiert, auf Muskelebene durch strukturelle und biochemische Veränderungen. Eine ausdauertrainierte Muskulatur weist neben einer verbesserten Kapillarisierung eine gesteigerte Anzahl und Größe an Mitochondrien auf. Es zeigt sich eine erhöhte Aktivität der Enzyme, die an der aeroben Energiegewinnung beteiligt sind, ein erhöhtes Glykogendepot sowie ein erhöhter Myoglobingehalt (vgl. de Marées, 2003; Klinke et al., 2005).

Noakes (2000) sieht als ursächlich für den Abbruch einer Belastung jedoch nicht die muskuläre Sauerstoffschuld an, sondern einen zentralen Steuerungsmechanismus. Das Herz laufe bei einer maximalen Ausbelastung und einem damit einhergehenden Sauerstoffdefizit Gefahr, selbst nicht mehr genug Blut zur eigenen Versorgung zur Verfügung zu haben, und es bedürfe daher eines entsprechenden Schutzmechanismus, der die Pumpleistung des Herzens rechtzeitig reguliere und erniedrige, was letztendlich zu einer Übersäuerung der arbeitenden Muskulatur führe.

Der Autor widerspricht damit der weitläufigen Ansicht, dass die Übersäuerung im Muskel per se Ermüdung bewirkt, und weist darauf hin, dass Belastungen in Höhe auch dann erschöpfungs-bedingt abgebrochen werden müssen, wenn die entsprechenden Laktatwerte niedrig sind, eine Übersäuerung der Muskulatur also nicht vorliegt. Zudem sprechen die höchst unterschiedlichen pH-Werte in den Muskelzellen, die von Sportlern toleriert werden können, dafür, dass der Beitrag einer Azidose in Bezug auf Ermüdung lediglich indirekter Natur sein kann (Noakes, 2000). Noakes (ebenda) weist darauf hin, dass Sportler eine unterschiedliche Ermüdungswiderstandsfähigkeit aufweisen und trotz identischer maximaler Sauerstoffaufnahmefähigkeit konstante Belastungen mit vorgegebener Intensität unterschiedlich lange tolerieren können. Faktoren, die sich mit der maximalen Sauerstoffaufnahmefähigkeit nicht erklären lassen, müssen also zusätzlich eine leistungslimitierende Funktion besitzen.

Die von Noakes entworfene Hypothese einer zentralen Schutzhemmung deckt sich mit den bei Vogel (2001) dargelegten Ansichten von Mateeff (1957) und Wassiljewa (1955).

2.3.2 Energiebereitstellung

Eine nicht mehr ausreichende Bereitstellung energiereicher Substrate stellt einen weiteren möglichen leistungslimitierenden Faktor bei sportlicher Tätigkeit dar. Die Deckung des ATP (Adenosintriphosphat)-Bedarfs der kontrahierenden Muskulatur muss genügend schnell (bei hoch-intensiven Belastungen) und genügend lange (bei lang andauernden Belastungen) gewährleistet werden (vgl. Noakes, 2000). Somit könnten sowohl ein Mangel an ATP in der Muskelzelle als auch eine Ausschöpfung der Energiespeicher, die eine ausreichende Resynthese des ATPs verhindert, Ermüdung bedingen (vgl. Nimmo & Ekblom, 2007).

Durch Ausdauertraining kommt es zu einer Anpassung der Kapazität der einzelnen Energie-bereitstellungssysteme und zu erhöhten Glykogenspeichern. Es wird gemeinhin angenommen, dass bei länger als 2–3 Stunden andauernden Ausdauerbelastungen die Ausschöpfung der Glykogendepots direkt oder indirekt leistungslimitierend wirkt (de Marées, 2003).

Im Zusammenhang mit Extrembelastungen wird eine reduzierte Glykogenkonzentration in der Muskulatur als mögliches Symptom, teilweise auch als Ursache einer Überbelastung angesehen (Vogel, 2001) und vielfach als Erklärung für reduzierte maximale und submaximale Laktatwerte im Zusammenhang mit erschöpfungsbedingten Leistungsminderungen herangezogen (Gleeson, 1998; Halson & Jeukendrup, 2004; Urhausen & Kindermann, 2002b).

So wiesen Costill et al. (1988) bei Schwimmern, die eine erhöhte Trainingsbelastung nicht tolerieren konnten, deutlich niedrigere Glykogenspeicher nach als bei ihren widerstandsfähigeren Kollegen. Jedoch zeigten Untersuchungen von Snyder, Kuipers, Cheng, Servais und Fransen (1995), dass auch mit optimal gefüllten Glykogenspeichern Leistungsminderungen und Symptome eines Übertrainingssyndroms auftreten können. Ähnlich äußern sich Urhausen und Kindermann

19 (2000), die ein Übertrainingssyndrom explizit nicht mit einem Glykogendefizit in Verbindung bringen.

Studien von Rauch, Hawley, Noakes und Dennis (1998) sowie O'Brien, Viguie, Mazzeo und Brooks (1993) lassen vermuten, dass Ausdauerbelastungen von bis zu sechs Stunden die Glykogenspeicher in Leber und Muskulatur zu nahezu 100 % entleeren, sportliche Belastungen bei Ultralangstreckenläufen überschreiten dieses Zeitlimit jedoch häufig. Als mögliche Erklärung dafür, warum eine Ausschöpfung der Glykogenvorräte nicht zwangsläufig zum Abbruch einer sportlichen Betätigung führen muss, werden die Verstoffwechslung der Glykogenspeicher der inaktiven Muskelzellen sowie eine vermehrte Verstoffwechslung von Fettsäuren oder Aminosäuren genannt (Rauch et al., 1998; vgl. Noakes, 2000, O'Brien et al., 1993). Noakes (2000) verweist auf weitere, bisher möglicherweise unbekannte Faktoren, die unabhängig von der Verfügbarkeit von Glykogen ursächlich verantwortlich für die Entstehung von Ermüdung sein könnten.

2.3.3 Zentrale Steuerungsprozesse

Zentrale Ermüdung meint die vorübergehende Herabsetzung zentralnervöser Vorgänge, die durch die integrativen Zentren des zentralen Nervensystems (sensorischer Kortex, Rückenmark, Kleinhirn, Motoneurone, motorische Endplatte) moduliert werden. Die neuronalen Impulse zur arbeitenden Muskulatur werden reduziert, es kommt zu einer langsameren Aktivierung der Muskelfasern und zu einer Reduzierung der Anzahl aktivierter Fasern (Anish, 2005; Noakes, 2000).

Ausgelöst wird dies nach Noakes (ebenda) durch eine Veränderung der Konzentration von Serotonin (5-HT) und möglicherweise anderen Neurotransmittern wie Dopamin und Acetylcholin im Gehirn (vgl. Anish, 2005; Meeusen, 1999; Meeusen, Watson, Hasegawa, Roelands & Piacentini, 2007). Diese durch intensive Belastungen induzierten Veränderungen können sich systemisch auf das neuroendokrinologische Milieu auswirken (Anish, 2005) und somit weitere mit Überbelastun-gen in Verbindung gebrachte Symptome erklären (Budgett, 1998).

Noakes (2000) argumentiert, dass diese reduzierte zentrale Aktivierung notwendig sein könnte, um den Organismus unter spezifischen Bedingungen zu schützen, indem sie myokardiale Blutarmut sowie die Entleerung der ATP-Reserven verhindert. Ermüdung wird demnach zentral moduliert, um einer totalen Ausschöpfung der Energiereserven vorzubeugen.

Diskutiert wird in diesem Zusammenhang jedoch auch eine Rückmeldung hemmender Reflexe aus der Muskelzelle an das zentrale Nervensystem. Somit könnten auch periphere Prozesse ursächlich für die dann folgende Impulsänderung der elektrischen Signale sein (vgl. Noakes, ebenda).

2.3.4 Autonomes Nervensystem

Ähnlich wie Noakes (2000) ordnet Israel (1976) dem zentralen und autonomen Nervensystem eine Art Beschützerrolle für die peripheren Zellen zu.

Funktionsstörungen des Vegetativums sind nach Israel (ebenda) und Fry et al. (1991) in vielen Fällen der biologische Ausgangspunkt symptomatischer Veränderungen im Zusammenhang mit Übertrainingssyndromen (vgl. Kindermann, 1986; Krause & Weiß, 2002; Kuipers & Keizer, 1988).

Tritt eine Diskrepanz zwischen Leistungsbeanspruchung und Leistungsfähigkeit ein, so kommt es zu Störungen in der Neurodynamik, d. h. zu Störungen in der Koordination der Erregungs- und Hemmungsprozesse der Hirnrinde. Überwiegen Letztere, könne dies als Ausdruck einer Überlastungs- oder Schutzhemmung gewertet werden, Israel (1976, S. 6) spricht weiter von einer

„Zerrüttung der gesamten Nerventätigkeit“ bzw. einer „Neurose“ (vgl. Karvonen, 1992).

Auch Rietjens et al. (2005, S. 17) vermuten eine Beteiligung zentralnervöser und autonomer Prozesse bei der Entstehung von Übertrainingszuständen: “[…] severe depression and other negative mental feelings are clear indications of the involvement of the central nervous and autonomic system”. Ebenso argumentieren Kuipers (1998), Lehmann et al. (1991), Lehmann, Schnee et al. (1992), Meeusen (1999) und Steinacker et al. (2000), die mit Überbelastungen in Verbindung gebrachte Symptome psychologischer und hormoneller Art auf Veränderungen in der autonomen Regulation des vegetativen Nervensystems und in dessen übergeordneten Einheiten zurückführen.

Alle Organe des menschlichen Körpers, und somit auch das Herz, werden vom vegetativen oder autonomen Nervensystem innerviert. Dies geschieht zum einen über humorale, zum anderen über direktere, neuronale Mechanismen – Signalübertragungen an den jeweiligen Effektorganen über die sogenannten Überträgersubstanzen Acetylcholin bzw. Noradrenalin (vgl. Dickhuth, 2000; Horn, 2003; Klinke et al., 2005). Sympathikus und Parasympathikus als Teilsysteme des autonomen Nervensystems treten dabei häufig als Gegenspieler auf und entfalten beispielsweise bei der Innervierung des Herzens gegensätzliche Wirkungsweisen. Eine Zunahme der Aktivität des parasympathischen Nervensystems verlangsamt die Ruheherzfrequenz, während eine gesteigerte Aktivität des Sympathikus die Ruheherzfrequenz erhöht (Aubert, Seps & Beckers, 2003; Dickhuth, 2000; Klinke et al., 2005; Schandry, 2003).

Ein ganzes Netzwerk von Gehirnstrukturen, auch ’Central Autonomic Network’ genannt, ist an der Generierung und Weiterleitung efferenter sympathischer und vagaler Signale beteiligt (Esperer, 2004; Schandry, 2003; vgl. Aubert et al., 2003). Während die genauen Mechanismen der vegetativen Umstellung im Einzelnen unklar sind, werden dem Hypothalamus, dem limbischen System sowie der ‚Medulla oblongata‘ als Integrationsorgane vegetativer Funktionen eine über-geordnete Funktion zugeschrieben (Horn, 2003; Schandry, 2003). Im Zusammenhang mit Überbelastungen wird eine Dysregulation zentraler Steuerungsprozesse vermutet, die wiederum Befindlichkeitsverschlechterungen, gestörten Schlaf bzw. regenerative Prozesse sowie hormonelle Dysfunktionen verursachen könnten (vgl. Meeusen, 1999; Meeusen et al., 2007).

Abbildung 2 stellt vereinfacht die verschiedenen Ebenen im Zentralnervensystem dar, die an der Steuerung der Aktivität des vegetativen Nervensystems beteiligt sind und somit auch bei der Entstehung von Ermüdung eine ursächliche Rolle spielen könnten:

21 Abb. 2: Zentrale autonome Steuerungsprozesse (Klinke et al., 2005, S. 799)

Dennoch sind auch hier periphere und zentrale Prozesse nicht voneinander zu trennen. So könnten beispielsweise auch ein verändertes Substratangebot im Muskel, möglicherweise aber auch durch Muskelschäden hervorgerufene Entzündungsvorgänge auf zentrale Mechanismen zurückwirken. In diesem Zusammenhang geht die Zytokin-Hypothese (Lakier Smith, 2003; Smith, 2000; vgl. Main, Dawson, Heel, Grove, Landers & Goodman, 2010) davon aus, dass lokale mechanische Muskel- und Gelenkschäden systemische Auswirkungen haben und beispielsweise via Interleukine auf zentrale vegetative Funktionen wirken können.

2.3.5 Biomechanische Prozesse

Nach Noakes (2000) zeigen Ultramarathonläufer, die einen höheren Trainingsumfang absolvieren als ihre Kontrahenten, häufig aufgrund verbesserter koordinativer Fähigkeiten einen ökonomischeren Laufstil. Dies ermöglicht es ihnen, bei gleichem Sauerstoffbedarf schneller zu laufen.

Im Verlauf eines Wettkampfes kommt es bei lang andauernden Ausdauerbelastungen zu einer Ermüdung, die auch koordinative Aspekte beeinflusst. Biomechanische und koordinative Verän-derungen lassen sich bis zu sieben Tage nach einem Marathon nachweisen (Nicol & Komi, 1998).

Charakteristisch sind Veränderungen im Dehnungs-Verkürzungszyklus der Muskulatur, die eine zeitliche Verlängerung der Abbrems- und Beschleunigungsbewegung beim Laufen bedingen (Noakes, 2000). Diese Veränderungen könnten ursächlich verantwortlich für das Auftreten von Verletzungen im Zusammenhang mit lang andauernden Laufbelastungen und damit einher-gehender Ermüdung sein:

„Stretch shortening fatigue results usually in a reversible muscle damage process and has considerable influence on muscle mechanics, joint and muscle stiffness as well as on reflex intervention“ (Komi & Nicol, 2000).

2.3.6 Psychologische und motivationale Aspekte

Motivationale und psychologische Aspekte konkurrieren nach Ansicht von Noakes (2000) mit der Rolle des beschriebenen zentralen Schutzmechanismus, der ein Erschöpfungsgefühl vor Erreichen echter Ausbelastung generiert.

Dennoch tragen bewusste kognitive Prozesse zu einer Aufrechterhaltung körperlicher Belastung bei. Ihnen wird im Bereich des Ultralangstreckenlaufs eine besondere Bedeutung beigemessen.

Neben dem Einfluss motivationaler Prozesse auf die sportliche Leistungsfähigkeit ist der Zusammenhang zwischen verschiedenen Komponenten psychischer Befindlichkeit und der Toleranz von Trainings- und Wettkampfstressoren unbestritten.