• Keine Ergebnisse gefunden

Entwicklung seit dem Zweiten Weltkrieg

2 Dynamiken der Einwanderungs gesellschaft

2.2 Historische Entwicklung von Migration, Integration und darauf bezogenen

2.2.1 Entwicklung seit dem Zweiten Weltkrieg

Nach absoluten Zahlen hat sich Deutschland seit dem Zweiten Weltkrieg zu dem Land mit der zweitstärksten Einwanderung in der OECD entwickelt (nach den USA).

Auch bezogen auf die Bevölkerung ist die Einwanderung überdurchschnittlich hoch (UN Population Division 2019a).

Dabei ist sie nicht allein durch Deutschlands wirtschaft-liche Attraktivität bedingt, sondern stärker als in vielen anderen OECD-Ländern auch durch verschiedene politi-sche und historipoliti-sche Umbrüche. Zu nennen sind hier die Vertreibungen nach dem Zweiten Weltkrieg, der Fall des Eisernen Vorhangs und die Fluchtmigration im Zuge der Kriege im ehemaligen Jugoslawien oder jüngst im Mittle-ren Osten, in Afghanistan und am Horn von Afrika.

Die historische Entwicklung bis zum Bau der Berliner Mauer

Vom 17. bis zum 19. Jahrhundert gehörten Deutsch-land bzw. die einzelnen deutschen Staaten noch zu den wichtigsten Auswanderungsgebieten Europas: Zunächst wanderten viele Menschen nach Russland und Südost-europa aus, ab Mitte des 18. Jahrhunderts dann in die USA. Zugleich gab es auch immer wieder Phasen stärkerer Einwanderung, wie die der Hugenotten nach Preußen und in andere Teile Deutschlands. Ab dem späten 19. Jahrhun-dert zog die Industrialisierung Arbeitskräfte vor allem aus Polen in die neu entstehenden Industrieregionen.

Das nationalsozialistische Deutschland zwang Teile der Gesellschaft zur Emigration und holte in großer Zahl Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter ins Land. So wurde Deutschland im und nach dem Zweiten Weltkrieg zu einer „Drehscheibe gewaltiger transnationaler und interner Migration“ mit rund 40 Millionen geflohenen, kriegsgefan-genen, vertriebenen oder staatenlosen Menschen (Bade 2000, S. 299). Drei große Migrationsbewegungen charakterisierten diese Entwicklung: erstens die Flucht vor der Roten Armee am Ende des Krieges, zweitens Flucht und Vertreibung aus den ehemaligen Ostgebieten des Deutschen Reichs und der Tschechoslowakei nach Kriegsende und drittens die politisch und wirtschaftlich motivierte Flucht aus der sowjetischen Besatzungszone und später der DDR nach Westdeutschland, die erst mit dem Mauerbau am 13. August 1961 zum Erliegen kam. Diese Migrationsbewegungen gingen weit über das heutige Maß hinaus. Allein die Zahl der Vertriebenen in bei-den deutschen Staaten schätzt das Statistische Bundesamt für 1950 auf 12 Millionen Menschen (vgl. Faulenbach 2002).

Abbildung 1: Wanderungen über die Grenzen der Bundesrepublik Deutschland, 1950 –1990

–300.000 –100.000 +100.000 0 +300.000 +500.000 +700.000 +900.000 +1.100.000 +1.300.000

195019521954195619581960196219641966196819701972197419761978198019821984198619881990

Wanderungssaldo Zuzüge Fortzüge

Erstes Anwerbeabkommen

mit Italien 1955 Anwerbestopp

1973

Quelle: DESTATIS 2019b, eigene Darstellung.

Die Integration der Vertriebenen und der aus den heuti-gen neuen Bundesländern übergesiedelten Personen in Arbeitsmarkt, Bildungssystem und alle anderen gesell-schaftlichen Bereiche kann aus heutiger Sicht als gelungen betrachtet werden (vgl. Bauerkämper 2007; Heidemeyer 2007). Diese Gruppen haben wesentlich zum westdeut-schen „Wirtschaftswunder“ beigetragen. Sie profitierten zum Teil von Integrationsmaßnahmen, die ausländischen Staatsangehörigen bis zum Jahr 2005 verschlossen blieben, vor allem den „Gastarbeitern“. Durch die gemeinsame Sprache und die vergleichbaren Ausbildungssysteme brachten sie jedoch auch ganz andere Voraussetzungen mit. In der DDR wiederum haben die Abwanderung und der damit verbundene Verlust von Arbeitskräften, ins-besondere von Hochqualifizierten, zur wirtschaftlichen und politischen Destabilisierung des Landes beigetragen.

Sie waren einer der ausschlaggebenden Gründe für die Errichtung der Berliner Mauer und des Eisernen Vorhangs in den Ländern des ehemaligen Ostblocks.

Anwerbung von „Gastarbeitern“ und Anwerbestopp Ab Mitte der 1950er-Jahre war in der Bundesrepublik Deutschland Vollbeschäftigung erreicht und in vielen Industrien traten Arbeitsengpässe auf. Deutschland be-gann daraufhin wie auch andere westeuropäische Staaten, gezielt im Ausland Arbeitskräfte vor allem für das produ-zierende Gewerbe anzuwerben (vgl. Bade 2000, S. 335;

Herbert 2001, S. 212 und 226 f.; Luft 2010a, S. 8; Oltmer 2012a, S. 110 ff.). Die Anwerbung konzentrierte sich auf

Italien, die Türkei, das damalige Jugoslawien und Grie-chenland, in geringerem Umfang auch auf Spanien und Portugal. Beim Anwerbestopp 1973 stellten Arbeitskräfte aus der Türkei mit einem Drittel der ausländischen Bevölke-rung die stärkste EinwandeBevölke-rungsgruppe in der Bundes-republik, gefolgt vom damaligen Jugoslawien und Italien.

Insgesamt wurden in Europa rund 120 bilaterale Anwerbe-abkommen geschlossen; diese wurden zum zentralen mi grationspolitischen Instrument der ersten drei Nach-kriegsjahrzehnte (vgl. Oltmer 2012b, S. 12; Berlinghoff 2012).

Bei diesen „Gastarbeiterabkommen“ gingen sowohl die deutsche Regierung als auch die Sendeländer davon aus, dass die Arbeitskräfte nur für eine begrenzte Zeit in Deutschland bleiben und dann zurückkehren würden. Die ursprüngliche Aufenthaltsbefristung und das Rotations-system wurden aber zunehmend aufgegeben, nicht zuletzt, weil die deutschen Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber kein Interesse daran hatten, immer wieder neue Arbeitskräfte anzulernen. Die angeworbenen Arbeitskräfte waren zu-nächst vollbeschäftigt, infolge der Rezession von 1966/67 und des ersten Ölpreisschocks von 1973 wurden sie aber überdurchschnittlich häufig entlassen. Dadurch stieg die Rückwanderung; in den Jahren 1967 und 1974 bis 1976 waren die Wanderungssalden sogar negativ (Abb. 1).

Zudem traf der Strukturwandel insbesondere jene Indus-trien und Tätigkeitsbereiche, in denen überdurchschnitt-lich viele Migrantinnen und Migranten beschäftigt waren.

2 Dynamiken der Einwanderungs gesellschaft | 21 Nach dem Anwerbestopp ging der Wanderungssaldo in der

Bundesrepublik im Vergleich zu den 1960er- und frühen 1970er-Jahren zurück. Dennoch nahm die Bevölkerung aus den Herkunftsländern der ausländischen Arbeitskräfte in Deutschland weiter zu: Zwischen 1961 und 1975 wuchs die ausländische Wohnbevölkerung in Westdeutschland um 3,2 Millionen auf 3,9 Millionen Personen, von 1975 bis 1985 stieg sie nochmals um 1,1 Millionen. So umfasste sie 1989 beim Fall der Berliner Mauer rund 5 Millionen Per-sonen (DESTATIS 2019c).4 Von den 3,4 Millionen ausländi-schen Staatsangehörigen, die zwiausländi-schen 1973 und 1980 in die Bundesrepublik eingereist sind, waren mit 3,1 Millio-nen der weitaus größte Teil Familienangehörige von Aus-länderinnen und Ausländern, die bereits in Deutschland lebten (Lederer 1997, S. 211). Hinzu kamen vor allem in den späteren Jahren auch Schutzsuchende, etwa nach dem Militärputsch in der Türkei im Jahr 1980.

Die Politik der „Gastarbeiteranwerbung“ und der spätere Anwerbestopp hatten drei wesentliche Folgen, die die soziale und wirtschaftliche Struktur der (Migrations-) Be-völkerung langfristig, zum Teil bis in die Gegenwart ge-prägt haben: Erstens warben vor allem Unternehmen des produzierenden Gewerbes gezielt manuelle Arbeitskräfte an, die überwiegend geringer qualifizierte Tätigkeiten ausüben sollten. Entsprechend waren dies häufig Per-sonen aus ländlichen und strukturschwachen Regionen der Herkunftsländer, wo in der Regel auch die Bildungs-einrichtungen schlecht entwickelt waren. Gerade die Industrien und Tätigkeiten, auf denen der Schwerpunkt der Anwerbung lag, waren jedoch ab den 1970er-Jahren besonders stark von den Wirtschaftskrisen wie auch von der Rationalisierung und dem Strukturwandel in West-deutschland betroffen. Darüber hinaus wurden die aus-ländischen Beschäftigten gezielt auf bestimmte Regionen konzentriert, teilweise auch durch Wohnsitzauflagen. Das hat die steigende Arbeitslosigkeit und die ökonomischen und sozialen Probleme dieser Gruppen weiter verschärft.

Zweitens wurden diese soziostrukturellen Probleme durch den Anwerbestopp verfestigt, weil die prosperierenden Bereiche des Arbeitsmarktes neu eingewanderten Personen verschlos-sen blieben. Außerdem beschränkten sich die Zuzugsmög-lichkeiten weitgehend auf den Familiennachzug und den Weg über den Asylantrag. Dies hatte zur Folge, dass sich die Qualifikationsstruktur der neu Eingewanderten und damit ihre Chancen auf Teilhabe am Arbeitsmarkt weiter verschlech-terten. Im Ergebnis fielen sowohl die Qualifikationsstruktur als auch die Beschäftigungsquoten der ausländischen Bevölke-rung in Deutschland deutlich unter den OECD-Durchschnitt.

4 Zu diesem Zeitpunkt lagen noch keine Angaben zur „Bevölkerung mit Migrationshintergrund“ (vgl. Kap. 5.8) vor. Sie umfasst auch Personen mit deutscher Staatsangehörigkeit, bei denen eigene oder familiäre Migrationserfahrungen vorliegen.

Drittens schließlich war schon im Begriff der „Gastarbei-teranwerbung“ von vornherein die Vorstellung angelegt, dass die zugezogenen Arbeitskräfte und ihre Familien-angehörigen nach einer gewissen Zeit in ihre Herkunfts-länder zurückkehren würden (s. o.). Entsprechend wurde angenommen, dass auf eine umfassende Integration der Zugewanderten und eine entsprechende (aktive) Poli-tik verzichtet werden könne (vgl. zur Entwicklung der Integrationspolitik Bendel/Borkowski 2016, S. 99–116).

So formulierte die Bundesregierung in den 1970er-Jahren in ihren „Grundsätzen zur Eingliederung ausländischer Arbeitnehmer“ die beiden Ziele, ausländische Arbeitskräfte in den Arbeitsmarkt zu integrieren und zugleich den Aus-länderanteil zu senken. Auf weiterreichende Ansätze wie eine gezielte Sprach- und Bildungsförderung wurde weit-gehend verzichtet. Zwar kehrte ein Teil der im Zuge der

„Gastarbeiteranwerbung“ zugezogenen Personen tatsäch-lich in ihre Heimatländer zurück, aber die Bevölkerung aus diesen Ländern und die durchschnittliche Dauer des Aufenthalts in Deutschland stiegen kontinuierlich an.

Das Zusammenwirken dieser drei Faktoren – die gezielte Anwerbung manueller Arbeitskräfte in Industrien, die der Strukturwandel überdurchschnittlich stark traf, der Anwerbestopp, der weitgehend ausschloss, ausländische Arbeitskräfte für die prosperierenden Industrien zu rekru-tieren, und der Verzicht auf eine aktive Integrationspoli-tik – hat wesentlich zu den sozialen und ökonomischen Problemen beigetragen, vor denen die in Deutschland lebende Bevölkerung aus den Ländern der „Gastarbeiter-anwerbung“ und ihre Nachkommen bis heute stehen.

Der daraus entstehende Handlungsdruck veranlasste die damalige sozialliberale Bundesregierung unter Kanzler Helmut Schmidt im Jahr 1978, einen Beauftragten der Bundesregierung für Ausländerfragen zu ernennen. Ein im Folgejahr veröffentlichtes Memorandum (Kühn 1979), das nach dem ersten Amtsinhaber Heinz Kühn benannt wur-de, erkannte Deutschland als Ziel von Migration an und forderte bessere Integrationsmaßnahmen, um Eingewan-derten den Zugang zu Bildung und Arbeit zu erleichtern.

Die darin enthaltenen Vorschläge gingen für diese Zeit recht weit. Allerdings wurde das Memorandum von der damaligen Bundesregierung nicht geteilt. Die Bundesmi-nisterien für Arbeit sowie für Bildung und Wissenschaft legten eigene, weniger ambitionierte Vorschläge vor, zu-mal die Politik sich wegen der Meinung der Bevölkerung sorgte, die Migration und häufig auch den Eingewander-ten selbst kritisch oder ablehnend gegenüberstand (Ber-linghoff 2015, S. 931; Schönwälder 2001, S. 499 ff.). Zudem hatten Bund und Länder bereits 1977 in den gemeinsam

vereinbarten Einbürgerungsrichtlinien5 die Formulierung

„Deutschland ist kein Einwanderungsland“ niedergelegt, die die deutsche Migrations- und Integrationspolitik viele Jahre prägen sollte.

Die Entwicklung unter der christlich-liberalen Bundes-regierung in den 1980er-Jahren

Die 1982 ins Amt gekommene christlich-liberale Bundes-regierung unter Kanzler Helmut Kohl griff die Aussage

„Deutschland ist kein Einwanderungsland“ in ihrer Koali-tionsvereinbarung auf (CDU/CSU/FDP 1982, S. 6) und ver-suchte in der Folge verstärkt, den Zuzug zu begrenzen und die Rückkehr zu fördern. Allerdings zeigten die Maßnah-men zur Rückkehrförderung wenig Wirkung, auch wenn der Wanderungssaldo in der ersten Hälfte der 1980er-Jahre negativ war (vgl. Abb. 1).6 Zugleich versuchte die Bundes-regierung, durch Informationen zum Arbeitsmarkt und erste Maßnahmen der Sprachförderung vor allem die Ein-gewanderten mit längerfristigen Aufenthaltstiteln besser in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Auf eine umfassende Integrationspolitik wurde allerdings verzichtet. Zugleich war zu beobachten, dass etwa bei der Teilhabe am Arbeits-markt die Schere zwischen deutschen und ausländischen Staatsangehörigen immer weiter auseinanderging. So war bei der ausländischen Bevölkerung, die damals noch fast ausschließlich aus Staatsangehörigen der Anwerbeländer der „Gastarbeitermigration“ bestand, die Arbeitslosigkeit Ende der 1980er-Jahre rund dreimal so hoch wie in der deutschen Bevölkerung. Die Integrationspolitik dieser Dekade wurde deshalb von vielen Beobachterinnen und Beobachtern kritisch bewertet (vgl. Bade 1992, S. 51).

Migration in der Deutschen Demokratischen Republik Die Entwicklung in der DDR war bis zum Bau der Mauer 1961 dadurch geprägt, dass viele (zumeist qualifizierte) Arbeitskräfte nach Westdeutschland abwanderten. Rund 2,7 Millionen Menschen verließen bis zu diesem Zeitpunkt das Land; danach kam die innerdeutsche Migration prak-tisch zum Erliegen. Die Volkswirtschaft in der DDR war – ähnlich wie die Planwirtschaften in den anderen Ländern des Warschauer Pakts – neben einem geringeren Wachs-tum der Produktivität geprägt von einem chronischen Mangel an Arbeitskräften.7 Entsprechend wurde auch dort versucht, Arbeitskräfte aus dem Ausland zu rekrutieren, wenn auch in sehr viel geringerem Umfang als in

West-5 Einbürgerungsrichtlinien vom 15. Dezember 1977 (Gemeinsames Ministerialblatt 1978, S. 16), Nr. 2.3.

6 In einer parlamentarischen Anfrage aus dem Jahr 1984 wird die Zahl der Migrantinnen und Migranten inklusive Familienangehörigen, die auf Grundlage des „Gesetzes zur Förderung der Rückkehrbereitschaft von Ausländern“ zurückgekehrt sind, mit 300.000 angegeben

(siehe http://dipbt.bundestag.de/doc/btd/10/020/1002071.pdf, S. 3 [10.08.2020]).

7 Zur Analyse dieses chronischen Mangels in den Planwirtschaften und insbesondere des Mangels an Arbeitskräften vgl. Kornai 1980.

deutschland. Dem waren aus politischen, aber auch aus wirtschaftlichen Gründen enge Grenzen gesetzt. Migra-tion wurde in der DDR sehr viel stärker als ein politisches Instrument verstanden, nicht als ein ökonomisches wie in der Bundesrepublik (Weiss 2009, S. 132). Infolgedessen wurden fast ausschließlich Menschen ins Land gelassen, die entweder aus „sozialistischen Bruderstaaten“ stamm-ten oder sozialistischen Strömungen in anderen Ländern zugerechnet werden konnten (so z. B. nach dem Militär-putsch 1973 aus Chile geflüchtete Personen). Im Wesent-lichen lassen sich die Eingewanderten in drei Gruppen einteilen: Studierende und Auszubildende, sogenannte Vertragsarbeitnehmerinnen und -arbeitnehmer sowie (in kleiner Zahl) politische Flüchtlinge, die neben dem bereits genannten Chile u. a. aus Nicaragua, Griechenland und Spanien kamen.

Nach Weiss (2009, S. 132) hatten bis 1988/89 rund 42.000 aus dem Ausland gekommene Menschen in der DDR studiert und 29.000 dort eine Ausbildung absolviert.

Zahlenmäßig bedeutsam war jedoch vor allem die Arbeits-migration im Rahmen von Staatsverträgen mit Vietnam, Kuba, Algerien, Angola und Mosambik, die ab Anfang der 1980er-Jahre eine erhebliche Größenordnung erreichte (Bade/Oltmer 2007, S. 162; Weiss 2009, S. 133). Wie in der Bundesrepublik war auch hier Arbeitskräftemangel eine wesentliche Triebkraft dieser zwischenstaatlichen Verein-barungen und die ausländischen Arbeitskräfte wurden ebenfalls überwiegend in körperlich belastenden Tätig-keiten in der Industrieproduktion eingesetzt, häufig auch im Schichtbetrieb. Ende 1989 lebten in der DDR noch über 90.000 der sogenannten Vertragsarbeitnehmerinnen und -arbeitnehmer, die meisten aus Vietnam (59.000), Mosam-bik (15.100) und Kuba (8.300). Die Gesamtzahl der Auslän-derinnen und Ausländer lag zum Ende der DDR bei rund 190.000; viele verließen jedoch in der Folgezeit das Land.

Die DDR setzte in der Ausländerpolitik auf ein striktes Ro-tationsprinzip und eine weitgehende soziale Isolation der

„ausländischen Werktätigen“, für die viele Einschränkun-gen galten (Bade/Oltmer 2007, S. 161 f.). So wurden sie zu-meist in Gemeinschaftsunterkünften einquartiert, waren an den jeweiligen Betrieb gebunden und hatten ein stark eingeschränktes Kündigungsrecht. Zudem ging ein Teil ihres Verdienstes an die Regierungen der Herkunftsländer.

Ein längerer Verbleib dieser Menschen war grundsätzlich nicht vorgesehen; entsprechend gab es auch keinerlei

öf-2 Dynamiken der Einwanderungs gesellschaft | 23 fentliche Diskussion über Integration. Rassistische Vorfälle

wurden totgeschwiegen, da sie dem Bild der „entwickelten sozialistischen Gesellschaft“ widersprachen (Elsner/Elsner 1994; Plamper 2019). Durch diese Informationspolitik und den weitgehend fehlenden persönlichen Kontakt nahmen die Menschen in der DDR Migration überwiegend negativ wahr: „So blieben für die Mehrheit der Bevölkerung die Gründe der Zuwanderung im Dunkeln, ebenso wie die Re-gelungen und Einzelheiten der Staatsverträge. […] Dieses Unwissen selbst über die grundlegenden Fakten führte zu einer Perzeption der Zuwanderung als Zumutung, als Aus-nutzen der Erfolge der DDR-Wirtschaft, als – ungewollte und ungeliebte – Sozialleistung für andere. Die Arbeits-zuwanderung war begleitet von Konkurrenzgefühlen, Ablehnung und Unverständnis“ (Weiss 2009, S. 133).

Die Entwicklung nach den Umwälzungen in Osteuropa und dem Fall der Berliner Mauer

Mit den politischen Umwälzungen in Mittel- und Osteuro-pa und dem Fall der Berliner Mauer im Jahr 1989 verän-derten sich auch die Bedingungen für die Migration nach und innerhalb Deutschlands grundlegend. Die Migration nach dem Mauerfall setzte sich vor allem aus vier Gruppen zusammen:

8 Die Schreibweise „(Spät-)Aussiedlerinnen und (Spät-)Aussiedler“ soll deutlich machen, dass damit sowohl Personen gemeint sind, die vor dem 1. Januar 1993 auf Grundlage des Vertriebenenrechts nach Deutschland kamen und als Aussiedlerinnen und Aussiedler bezeichnet wurden, als auch die danach ge-kommenen Spätaussiedlerinnen und -aussiedler. Wenn sich die Ausführungen eindeutig auf die Zeit vor oder nach diesem Datum beziehen, wird in diesem Bericht entsprechend die eine oder die andere Bezeichnung verwendet.

(1) den innerdeutschen Wanderungsbewegungen von Ost- nach Westdeutschland und in geringerem Umfang auch in umgekehrter Richtung;

(2) dem Zuzug von (Spät-)Aussiedlerinnen und (Spät-)Aus-siedlern8 sowie jüdischen Kontingentflüchtlingen aus der früheren Sowjetunion. Andere Aussiedlerstaaten wie Polen und Rumänien spielten ab den 1990er-Jahren quantitativ nur noch eine geringe Rolle (vgl. Worbs u. a.

2013);

(3) Asylsuchenden, die in den 1990er-Jahren nach Aus-bruch der Kriege und gewaltsamen Konflikte aus dem damaligen Jugoslawien und seinen Nachfolgestaaten nach Deutschland kamen und daneben in erheblichem Umfang auch aus Osteuropa (insbesondere Rumänien), der Türkei und dem Nahen Osten, und schließlich (4) der Arbeitsmigration vor allem aus den späteren

Mit-gliedsstaaten der EU in Ost- und Mitteleuropa.

Abbildung 2: Wanderungen über die Grenzen der Bundesrepublik Deutschland, 1991–2019

–100.000 +100.000 0 +500.000 +900.000 +1.300.000 +1.700.000 +2.100.000

19921991 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 20172018 2019

Wanderungssaldo Zuzüge Fortzüge

Quelle: DESTATIS 2019b und GENESIS-Online (Daten für 2019), eigene Darstellung.

Insgesamt belief sich der positive Wanderungssaldo in Deutschland in den Jahren 1989 bis 2000 auf rund 4,6 Mil-lionen Personen; mehr als die Hälfte davon entfiel auf (Spät-)Aussiedlerinnen und (Spät-)Aussiedler. Das war seit Gründung der Bundesrepublik die bis dahin stärkste Ein-wanderung innerhalb eines Jahrzehnts. Übertroffen wurde sie nur von den großen Wanderungsbewegungen nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und vor Gründung der beiden deutschen Staaten.

Auf diese Entwicklungen reagierte die bis 1998 amtierende christlich-liberale Bundesregierung, häufig aufgrund einer Verständigung mit der sozialdemokratischen Opposition, im Wesentlichen mit drei Maßnahmen:

Erstens blieb Deutschland auch unter den neuen Bedin-gungen weiter offen für den Zuzug von (Spät-)Aus sied-lerinnen und (Spät-)Aussiedlern und jüdischen Kon-tingentflüchtlingen. Das führte zu einer erheblichen Ein wanderung, auch wenn zugleich das neu gefasste Bundesvertriebenengesetz einen geografischen Fokus auf die Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion legte und eine Stichtagsregelung sicherstellte, dass dieser Zu wanderungskanal schrittweise an Bedeutung verlieren würde.9 Von 1989 bis zur Jahrtausendwende kamen rund 2,5 Millionen (Spät-)Aussiedlerinnen und (Spät-)Aussiedler und (ab 1993) rund 129.000 jüdische Kontingentflüchtlinge nach Deutschland (vgl. Worbs u. a. 2013; BMI/BAMF 2020).

Diese Gruppen erhielten auch Zugang zu Integrations-maßnahmen, etwa Bildungs- und Sprachangeboten sowie Arbeitsmarktprogrammen. Sie wurden bzw. werden bis heute nach der Einreise gemäß dem Königsteiner Schlüs-sel zentral verteilt.10 Für (Spät-) Aussiedlerinnen und (Spät-) Aussiedler galt zudem von 1989 bis 2009 eine zeitlich befristete Wohnsitzregelung, das sogenannte Wohnort-zuweisungsgesetz.

Zweitens schuf der Europäische Rat auf dem Gipfeltref-fen von Kopenhagen 1993 die Voraussetzungen für die EU-Osterweiterung. In der Folge wurden mit den Kan-didatenländern völkerrechtliche Assoziierungsverträge geschlossen, die schon im Vorfeld die Arbeitsmobilität von deren Staatsangehörigen erleichterten. Aufgrund der Beitrittsverträge wurde in den Jahren 2004, 2007 und 2011

9 Gesetz zur Bereinigung von Kriegsfolgengesetzen vom 21. Dezember 1992 (Kriegsfolgenbereinigungsgesetz; BGBl. 1992 I 2094).

10 Der Königsteiner Schlüssel ist ein gewichtetes Verteilungsmaß, das sich nach Steueraufkommen und Bevölkerung der Gebietskörperschaften (im Regelfall der Bundesländer) richtet. Er wird auch bei Asylbewerberinnen und Asylbewerbern angewandt; vgl. dazu Kapitel 2.3 und 4.9.1.

11 Die Kommunen und Bundesländer übten seinerzeit erheblichen politischen Druck aus; vgl. Münch 1993. Zu den politischen Hintergründen insgesamt siehe Wirsching 2006, S. 303–306.

12 Die Anerkennungsquoten waren auch deshalb gering, weil damals noch nicht zwischen politischem Asyl nach Artikel 16a des Grundgesetzes und ande-ren Schutzansprüchen, etwa nach der Genfer Flüchtlingskonvention oder auf subsidiäande-ren Schutz, unterschieden wurde. Entsprechend wurden z. B. die meisten Asylanträge von Bürgerkriegsflüchtlingen aus dem damaligen Jugoslawien und seinen Nachfolgestaaten abgelehnt, weil die Antragstellenden keinen Anspruch auf politisches Asyl hatten.

zudem die Arbeitnehmer- und Personenfreizügigkeit auf diese Länder ausgeweitet. Damit wurde der gemeinsame Binnenmarkt um rund 105 Millionen Personen erweitert.

Allerdings wurde vereinbart, dass die Mitgliedsstaaten für die Arbeitnehmerfreizügigkeit Übergangsfristen von bis zu sieben Jahren in Anspruch nehmen konnten, die Deutsch-land mit Ausnahme Kroatiens auch ausschöpfte. Erst nach dem Auslaufen der Übergangsfristen (1. Mai 2011 für die acht Staaten der ersten Erweiterungsrunde, 1. Januar 2014 für Rumänien und Bulgarien und 1. Juli 2015 für Kroatien) spiegelten sich diese Entscheidungen darin wider, dass die Migration aus den neuen Mitgliedsstaaten erheblich anstieg. Das wurde gefördert durch den wirtschaftlichen Aufschwung in Deutschland nach dem Ende der Finanz-krise (vgl. Kap. 2.2.2).

Drittens schränkte die Regierungskoalition im Jahr 1993

Drittens schränkte die Regierungskoalition im Jahr 1993