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Auswirkungen von diskriminierenden Praktiken und Stereotypen

4 Politikfelder der Einwanderungs gesellschaft

4.4 Einbürgerung, kulturelle Teilhabe und ehrenamtliches Engagement

4.5.4 Auswirkungen von diskriminierenden Praktiken und Stereotypen

Bildungserfolg

Im Bildungsbereich haben in den letzten Jahren zahlreiche Studien belegt, dass die Nachkommen von Eingewander-ten geringere Bildungserfolge erzielen als Schülerinnen und Schüler ohne familiäre Einwanderungsgeschichte. Der aktuelle Forschungsstand weist darauf hin, dass sich diese Bildungsungleichheiten zu einem hohen Anteil auf den sozioökonomischen Hintergrund der Familien zurückfüh-ren lassen (Diehl/Hunkler/Kristen 2016). In Deutschland ist die soziale Ungleichheit im Bildungserfolg insgesamt groß, wovon Kinder und Jugendliche aus eingewanderten Familien überproportional betroffen sind. Darüber hinaus spielen Faktoren eine Rolle, die die Bildungslaufbahn dieser Kinder und Jugendlichen zusätzlich beeinträch-tigen und zu einer doppelten Benachteiligung führen, wie etwa eingeschränkte Deutschkenntnisse oder der oft spätere Eintritt in eine Kindertageseinrichtung (Lokhande 2016; vgl. auch Kap. 4.2.2). Zu diesen Faktoren zählen auch diskriminierende Praktiken, worauf u. a. Anfragen von Betroffenen an die Antidiskriminierungsstelle des Bundes (2017) und andere Beratungsstellen wie z. B. das Antidis-kriminierungsnetzwerk Berlin des Türkischen Bundes in Berlin-Brandenburg (2020) hinweisen. Dabei sind die ver-fügbaren Daten unzureichend und einige Autorinnen und Autoren gehen davon aus, dass sie die tatsächlichen Fälle unterschätzen. So berichten El und Yekani (2017), dass die Beschwerdestrukturen unzureichend und die Handlungs-spielräume der Beratungsstellen gering sind und dass Be-troffene oft verschiedene Stellen aufsuchen müssen bzw.

4 Politikfelder der Einwanderungs gesellschaft | 161 von einer Stelle zur anderen verwiesen werden (vgl. auch

Yegane Arani 2020). Die Antidiskriminierungsbeauftragte des Berliner Bildungssenats hat exemplarisch für den Be-richtszeitraum von 2016 bis 2020 Fallzahlen zusammenge-stellt, die von knapp 150 Meldungen im Schuljahr 2016/17 bis etwa 270 im Schuljahr 2019/20 reichen (vgl. Abgeord-netenhaus Berlin 2020).

Diskriminierung kann auf der institutionellen und auf der individuellen Ebene stattfinden. Bei institutioneller Diskri-minierung handelt es sich um „Praktiken, die negative und differenzierende Wirkungen für ethnische Minderheiten (…) haben“, wobei diese Wirkungen in der Regel indirekt sind, da die ihnen zugrunde liegenden „organisatorisch vorgeschriebenen Normen oder Verfahren ohne unmittel-bare Vorurteile oder Schadensabsichten eingerichtet und ausgeführt wurden“ (Gomolla/Radtke 2009, S. 50). In einer qualitativen Interviewstudie fanden Gomolla und Radtke (2009) Hinweise auf solche Mechanismen bei der Einschu-lung, bei der Überweisung auf eine Sonderschule für Lern-behinderte und beim Übergang in die Sekundarstufe I. Bei individueller Diskriminierung hingegen werden Kinder und Jugendliche aus verschiedenen Gruppen unterschied-lich behandelt, wobei auch diese Ungleichbehandlung nicht zwangsläufig intendiert erfolgt (vgl. auch Diehl/Fick 2016). Beide Mechanismen führen letztlich zu Unterschie-den im Bildungserfolg, die spezifisch mit Unterschie-den untersuch-ten Gruppenmerkmalen verbunden sind.

Entsprechend gehen Untersuchungen zu Diskriminie-rung im Bildungsbereich der Frage nach, ob Kinder und Jugendliche anders behandelt oder beurteilt werden, wenn sie als einer bestimmten sozialen Gruppe (bzw. mehreren Gruppen) zugehörig wahrgenommen werden. So wurde beispielsweise mehrfach untersucht, ob Kinder mit Mi-grationsgeschichte bei gleichen Leistungen seltener eine Übergangsempfehlung für das Gymnasium erhalten als Kinder ohne Migrationsgeschichte. Wichtig ist dabei die Maßgabe „bei gleichen Leistungen“, denn Gruppenunter-schiede in der Gymnasialempfehlung, die auf Gruppen-unterschiede in den Leistungen zurückzuführen sind, können nicht als Diskriminierung interpretiert werden.

Dies schließt selbstverständlich nicht aus, dass Gruppen-unterschiede in den Leistungen, die am Übergang zur Sekundarstufe bestehen, auf diskriminierende Praktiken während der Grundschulzeit zurückgehen, etwa auf differenzielle Leistungserwartungen (s. u.).

Experimentelle Studien gehen in der Regel davon aus, dass diskriminierenden Handlungen Stereotype zugrun-de liegen. Stereotype assoziieren soziale Kategorien, die sich etwa auf den ethnisch-kulturellen Hintergrund von Personen beziehen, mit bestimmten Eigenschaften (für eine ausführlichere Darstellung siehe Kap. 4.2). So liegen

für Deutschland etwa Hinweise darauf vor, dass Türkei-stämmige als wenig leistungsorientiert angesehen werden (Froehlich u. a. 2016; Kahraman/Knoblich 2000). Ferner sind einer Befragung zufolge nur 61 Prozent der Lehr-kräfte der Meinung, Musliminnen und Muslime seien genauso bildungsorientiert wie Nichtmuslime und Nicht-musliminnen (Lorenz/Müller 2017), was den Ergebnissen von Studien zu Bildungsaspirationen widerspricht, die in türkeistämmigen Familien besonders hoch ausgeprägt sind (Salikutluk 2016). Stereotype Zuschreibungen werden bewusst oder unbewusst für Mitglieder der jeweiligen Gruppe generalisiert und können beeinflussen, wie diese wahrgenommen und beurteilt werden. In sozialen Inter-aktionen treten solche Effekte umso wahrscheinlicher auf, je weniger man – über die zugeschriebene Gruppenzuge-hörigkeit hinaus – über die andere Person weiß.

Dies zeigen experimentelle Studien im Bildungsbereich, bei denen Lehrkräfte gebeten werden, fiktive Schülerinnen und Schüler zu bewerten, zu denen sie Leistungsinfor-mationen und Hinweise auf ihre Gruppenzugehörig-keit erhalten. So legten Bonefeld und Dickhäuser (2018) in einer Studie Lehramtsstudierenden Diktate vor, die angeblich von Schülerinnen und Schülern geschrieben worden waren, und baten sie, sie zu benoten. Dabei wurde anhand von Namen und Fotos zufällig variiert, ob es sich um die Arbeit eines vermeintlich türkeistämmigen Kindes handelte oder um die eines Kindes ohne Einwanderungs-geschichte. Die Ergebnisse zeigen, dass bei der Notenver-gabe auch die Herkunft des Schülers bzw. der Schülerin eine Rolle spielte: Vermeintlich türkeistämmige Kinder erhielten bei gleichen Leistungen signifikant schlechtere Noten als die Kinder der Vergleichsgruppe. Ein ähnliches Ergebnis zeigt sich in einer Studie von Sprietsma (2013) für die Bewertung von Essays.

Auch zu erwarteten Übergängen von der Grundschule in die Sekundarstufe liegen Ergebnisse experimenteller Studien vor, die Hinweise auf Effekte von Stereotypen ergaben. In einer Studie von Glock u. a. (2013) sollten Lehr-kräfte anhand von Schülerbeschreibungen, die auch In-formationen über Noten beinhalteten, angeben, welchen Bildungsweg die betreffenden Schüler und Schülerinnen voraussichtlich einschlagen würden. Die Einschätzung fiel für Kinder mit Migrationshintergrund ungünstiger aus.

Insgesamt weisen experimentelle Studien darauf hin, dass bei Einschätzungen des Leistungspotenzials und der Leis-tungen von Schülerinnen und Schülern durch Lehrkräfte Stereotype diskriminierende Effekte haben können, zu-mindest wenn die Lehrkräfte ansonsten wenig über diese Kinder oder Jugendlichen wissen. Solche Experimente haben den Vorteil, dass sich ihre Ergebnisse gut inter-pretieren lassen: Wird ein Diktat in Abhängigkeit davon

unterschiedlich bewertet, ob z. B. ein türkisch klingender oder ein deutsch klingender Name daraufsteht, ohne dass der bewertenden Lehrkraft die Schülerinnen und Schüler bekannt sind, weist dies eindeutig auf Diskriminierungs-effekte hin. Allerdings kommt es im Bildungsbereich nur selten vor, dass Lehrkräfte Schülerinnen und Schüler bewerten müssen, die sie nicht kennen – anders als auf dem Arbeitsmarkt, wo in Bewerbungsverfahren meistens zunächst allein aufgrund schriftlicher Informationen eine Entscheidung zu treffen ist. Es ist also unklar, inwieweit sich die Ergebnisse aus solchen experimentellen Studien auf den realen Schulkontext übertragen lassen, in dem Lehrkräfte aufgrund der täglichen Interaktionen mit ihren Schülerinnen und Schülern fortlaufend vielfältige Infor-mationen über deren Leistungen und leistungsrelevante Merkmale sammeln. Daher sind zusätzlich auch Studien erforderlich, die auf Erhebungen im Feld basieren.

Eine Feldstudie, die in deutschen Schulen analysiert hat, wie Stereotype bei Lehrkräften die Leistungserwartungen für ihre Schülerinnen und Schüler beeinflussen, ist die sogenannte KuL-Studie („Kompetenzerwerb und Lern-voraussetzungen“). Hier zeigte sich, dass Lehrkräfte bei türkeistämmigen Kindern im Fach Deutsch geringere Lernzuwächse erwarteten als bei Kindern aus Familien ohne Einwanderungsgeschichte, und zwar auch dann, wenn ihre sprachlichen Leistungen, ihre allgemeinen kognitiven Fähigkeiten und ihre Motivation gleich hoch waren (Lorenz u. a. 2016). Die Daten verweisen zudem auf eine sich selbst erfüllende Prophezeiung: Wenn Lehrkräfte zu Beginn des ersten Schuljahrs die Leistungen der Kinder überschätzten, lernten diese im Verlauf des Schuljahrs tatsächlich mehr dazu und umgekehrt (Gentrup u. a. 2020).

Allerdings waren die Effekte auf die Leistungsentwicklung der Kinder nicht sehr groß (Lorenz 2018). Einschränkend ist ferner anzumerken, dass die Erhebung der Leistungs-erwartungen in der KuL-Studie zu Beginn der ersten Jahrgangsstufe erfolgte; somit bleibt offen, wie sich der Einfluss von Stereotypen auf die Leistungserwartungen und die erreichten Leistungen im Verlauf der Zeit weiter-entwickelt. Einerseits ist denkbar, dass sich die Effekte von Stereotypen abschwächen, wenn die Lehrkräfte ihre Schü-lerinnen und Schüler besser kennenlernen und sie damit stärker individuell wahrnehmen dürften (Fiske 1998).

Andererseits könnten sich die Effekte aufgrund der sich selbst erfüllenden Prophezeiungen im Laufe der Zeit aber auch weiter verstärken (geringere Erwartungen wirken sich ungünstig auf den Lernerfolg aus, was wiederum die geringeren Erwartungen bestätigt). Letztlich dürften beide Dynamiken eine Rolle spielen, wobei anzunehmen ist, dass sich die Effekte zwischen Lehrkräften unterscheiden, wie Ergebnisse internationaler Studien nahelegen (Timmer-mans u. a. 2016).

Weitere nicht experimentelle Studien untersuchen mög-liche Diskriminierung anhand von Daten großer Schul-leistungsstudien, die oft auf repräsentativen Stichproben basieren. Die Ergebnisse dieser Untersuchungen fallen gemischt aus: Einige Studien finden bei Berücksichtigung der objektiv gemessenen Leistungen und des sozialen Hin-tergrunds für Kinder aus Familien mit Einwanderungs-geschichte Nachteile in den Noten (Bonefeld u. a. 2017;

Kiss 2013) bzw. in den Übergangsempfehlungen am Ende der Grundschulzeit (Arnold u. a. 2007; Bos u. a. 2004), an-dere hingegen finden keine Nachteile und teilweise sogar leichte Vorteile (Ditton u. a. 2005; Gresch 2012; Kristen 2006; Kristen/Dollmann 2010; Becker/Beck 2012; Kristen 2006). Zudem zeigt sich übereinstimmend, dass die Über-gangsempfehlungen primär davon abhängen, welches fachliche Kompetenzniveau die Schülerinnen und Schüler bis zum Ende der Primarschulzeit erreicht haben und dass erhebliche soziale Disparitäten bestehen: Kindern aus so-zioökonomisch benachteiligten Familien wird bei gleicher Leistung seltener empfohlen, auf ein Gymnasium überzu-gehen, als Kindern aus sozial privilegierten Familien (vgl.

z. B. Dumont u. a. 2014). Davon sind alle Schülerinnen und Schüler betroffen, Kinder aus zugewanderten Familien jedoch besonders häufig.

Ferner konnte die sozialpsychologische Forschung zeigen, dass Menschen glauben, ihr Verhalten werde an einem bestehenden (z. B. kulturellen oder geschlechtsbezogenen) Stereotyp gemessen, z. B. „Jungen sind schlechter in Spra-chen, Mädchen können nicht rechnen“, und dass sich dies auf ihre gezeigten Leistungen auswirken kann. Solche Ef-fekte des sogenannten Stereotype Threat wurden für ethni-sche Stereotype bislang vor allem im angloamerikaniethni-schen Raum untersucht. In der klassischen Studie von Steele und Aronson (1995) beispielsweise absolvierten afroamerika-nische und weiße Studierende einen mündlichen Test. Im Ergebnis zeigte sich, dass die afroamerikanischen Teilneh-menden in signifikant höherem Maße Angst davor hatten, dass ihre Leistungen (negative) kulturelle Stereotype bestätigen. Dies führte dazu, dass sie in der Tat schlechtere Ergebnisse erzielten als die weißen Studierenden. Erste Untersuchungen dieser Art wurden auch in Deutschland mit Schülerinnen und Schülern durchgeführt (Froehlich u. a. 2018). Die Autorinnen und Autoren betonen, dass die Leistungsunterschiede zwischen den Gruppen (türkei-stämmigen und ethnisch deutschen Schülerinnen und Schülern) durch soziodemografische Unterschiede der Gruppen nicht vollständig erklärt werden können, und weisen darauf hin, dass unter bestimmten Umständen türkeistämmige Jugendliche von Effekten des Stereotype Threat betroffen sind.

Als Variablen, die diesen Zusammenhang beeinflussen, wurden in der Studie die Verbundenheit mit der eigenen

4 Politikfelder der Einwanderungs gesellschaft | 163 Gruppe (vertical collectivism) sowie die Annahme der

angeborenen Intelligenz identifiziert: Die Jugendlichen fühlen sich zum einen stark verbunden mit ihrer türki-schen Gruppe (was in der Psychologie wie in der Sozio-logie eigentlich positiv als eine Ressource bzw. als soziales Kapital betrachtet wird), wissen aber zugleich, dass von dieser (ihrer) Gruppe in der Gesellschaft eher negative Vorstellungen dominieren. Die Annahme, Intelligenz sei angeboren und damit unveränderlich, erweist sich in verschiedenen pädagogischen Kontexten (bei Schülern und Schülerinnen wie bei Lehrkräften) als ungünstig, etwa auch bei der Förderung von Begabungen, weil damit eine geringe Motivation einhergeht, an der gegenwärtigen Si-tuation etwas zu ändern (wobei dies natürlich für alle gilt, es ist keineswegs spezifisch für türkische Jugendliche oder generell jene mit Migrationsgeschichte).

Insgesamt weist der Forschungsstand also darauf hin, dass im deutschen Bildungssystem diskriminierende Praktiken auftreten, die den Bildungserfolg von Kindern und Jugendli-chen aus eingewanderten Familien beeinträchtigen. Anhand der vorliegenden Befunde lässt sich jedoch keine eindeutige Schlussfolgerung dazu ziehen, wie verbreitet dieses Problem ist und wie ausgeprägt die Effekte sind. Hierzu ist weitere Forschung erforderlich, die derzeit intensiviert wird. Un-abhängig davon sollten Pädagoginnen und Pädagogen für die beschriebenen Mechanismen und Effekte von Diskrimi-nierung stärker als bisher sensibilisiert werden, um ihnen entgegenzuwirken (vgl. auch Kap. 4.2.2).

4.5.5 Auswirkungen von Diskriminierung auf