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4 Politikfelder der Einwanderungs gesellschaft

4.4 Einbürgerung, kulturelle Teilhabe und ehrenamtliches Engagement

4.4.1 Einbürgerung und Teilhaberechte

Bislang ist eine eher geringe Bereitschaft festzustellen, von bestehenden Einbürgerungsmöglichkeiten tat-sächlich auch Gebrauch zu machen. Bei anerkannten Flüchtlingen und Menschen, die aus Staaten mit prekärer politischer oder wirtschaftlicher Lage stammen, ist die Bereitschaft für eine Einbürgerung jedoch schon heute hoch. Neu zugewanderte Fachkräfte und EU-Bürgerinnen und EU-Bürger sind Gruppen, auf die besonders zugegan-gen werden sollte. Zugleich muss darüber nachgedacht werden, wie ab einer bestimmten Dauerhaftigkeit des Aufenthalts politische Teilhabe für Eingewanderte erwei-tert werden kann und wie erreicht wird, dass bestehende Teilhabeoptionen wahrgenommen werden.

133 Eine Ermessenseinbürgerung ist nach § 8 StAG bereits nach sechs Jahren möglich.

134 Die Optionspflicht gilt überhaupt nicht für Personen, die mindestens sechs Jahre in Deutschland zur Schule gegangen sind oder hier einen Schulab-schluss gemacht haben.

135 Einzelheiten dazu finden sich in § 12 des Staatsangehörigkeitsgesetzes. Akzeptiert wird Mehrstaatigkeit für EU-Länder, die Schweiz und viele Nichtaus-bürgerungsländer.

136 „[T]rotz des Prinzips der Vermeidung von Mehrstaatigkeit“ erfolgte 2018 „in 59 Prozent der Fälle die Einbürgerung unter Fortbestand der bisherigen Staatsbürgerschaft. Auch in den Jahren zuvor – seit 2006 – lag diese Quote bei mehr als 50 Prozent (Sauer 2019, S. 8; vgl. auch Luft 2010b, S. 336).

Öffnung des Staatsangehörigkeitsrechts

Die Bundesrepublik hat sich vor mehreren Jahrzehnten von der alleinigen Geltung des früheren Abstammungs-prinzips (ius sanguinis) im Staatsangehörigkeitsrecht verabschiedet; so können heute auch zugewanderte Men-schen deutsche Staatsangehörige werden. Wie die Statistik zeigt, ist dies gelebte Praxis: Etwas mehr als die Hälfte der eingewanderten Bevölkerung und ihrer Nachkommen be-sitzt einen deutschen Pass (vgl. Kap. 2.4.1 sowie DESTATIS 2019a, S. 62 ff.). Bereits im Ausländergesetz von 1990 war ein Regelanspruch auf Einbürgerung niedergelegt worden, der 1992/93 im Rahmen des Asylkompromisses zu einem Er-teilungsanspruch aufgewertet wurde (vgl. die durch Gesetz vom 30.06.1993 (BGBl. 1993 I 1062) geänderten §§ 85f. AuslG 1990 (BGBl. 1990 I 1354)). Seither kann man eine Einbürge-rung im Zweifel gerichtlich einklagen. Die früher bestehen-den Ermessensbestimmungen wurbestehen-den aufgegeben. Insofern spiegelt sich auch im Staatsangehörigkeitsrecht die Einsicht, dass die Bundesrepublik ein Einwanderungsland ist (siehe Kap. 5.2). Mit der großen Reform im Jahr 1999 wurden die Erteilungsvoraussetzungen gesenkt. Seither besteht ein gerichtlich einklagbarer Anspruch regelmäßig nach acht Jahren, bei erfolgreicher Teilnahme an einem Integrations-kurs sogar nach sieben Jahren (§ 10 AufenthG).133

Vor allem jedoch wird seither bei Kindern, die kraft Geburt Deutsche werden (ius soli), die doppelte Staatsangehörig-keit hingenommen. Die sogenannte Optionsregelung, wo-nach sich junge Erwachsene für eine Staatsangehörigkeit entscheiden müssen, gilt seit 2014 nur noch für Personen, die vor Vollendung des 21. Lebensjahrs nicht mindestens acht Jahre in Deutschland gewohnt haben (§ 29 Abs. 1a StAG).134 Für jene, die ihre Jugend im Inland verbracht haben, gibt es heute keine Optionspflicht mehr. Sie dürfen die Staatsangehörigkeit des Landes ihrer Eltern auch dann behalten, wenn sie selbst nie dort gewohnt haben. Nur bei der Einbürgerung ist Mehrstaatigkeit grundsätzlich verboten. Allerdings gibt es auch hier viele Ausnahmen, die im Zweifel gerichtlich geprüft werden können, wenn ein Einbürgerungsantrag abgelehnt wird.135 Statistiken zufolge behält derzeit mehr als die Hälfte der eingebürger-ten Personen einen zweieingebürger-ten Pass.136 Der Sachverständigen-rat deutscher Stiftungen für IntegSachverständigen-ration und MigSachverständigen-ration (SVR 2014, S. 49–52) hat vorgeschlagen, den sogenannten

„Doppelpass“ durch einen Generationenschnitt auf die

ersten zwei oder drei Generationen von Eingewanderten und ihren Nachkommen zu beschränken. Das überzeugt in normativer Hinsicht vollauf, ist rechtlich aber schwer um-setzbar (vgl. Weinmann 2017, S. 144–147; Lämmermann 2017, S. 352–361). Dafür wären völkerrechtliche Verträge mit den wichtigsten Herkunftsländern von Einwanderung notwendig. Solange es solche nicht gibt, hat die Politik nur die Wahl zwischen zwei Optionen, die beide suboptimal sind: entweder eine doppelte Staatsangehörigkeit dauer-haft zuzulassen oder sie zu verbieten.

Doch nicht nur die Dauer des Voraufenthalts und die Regelungen zum Doppelpass haben sich geändert. Auch im Staatsangehörigkeitsrecht erlebte das Integrations-pa radigma in den letzten 20 Jahren einen Durchbruch, indem – ganz im Sinn von „Fördern und Fordern“ – einer-seits die Einbürgerungsvoraussetzungen gesenkt und diese andererseits an materiellen Integrationskriterien ausge-richtet wurden. Seit der großen Reform im Jahr 1999 wer-den für eine Einbürgerung Deutschkenntnisse und ein Be-kenntnis zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung verlangt. Seit 2007 gibt es ergänzend Einbürgerungstests.

Diese sind laut Statistik keine hohe Hürde, die allermeis-ten Personen bestehen sie.137 Gleichzeitig akzentuieren sie aber symbolisch die Integration. Diese Symbolik wird noch verstärkt durch eine Eidesformel bei der Verleihung der Staatsbürgerschaft, die bundesweit immer häufiger im Rahmen einer Einbürgerungsfeier erfolgt (vgl. § 16 StAG;

Weinmann u. a. 2012, S. 230–232). Zuletzt wurde dieses Integrationsparadigma noch gestärkt durch ein – politisch umstrittenes – Einbürgerungsverbot bei Mehrehe (vgl.

Gesetz vom 04.08.2019, BGBl. 2019 I 1124), wobei auch in einem solchen Fall die Einbürgerungsvoraussetzungen im Zweifel umfassend gerichtlich überprüft werden können (ausführlicher hierzu Thym 2019b). Die Behörden haben kein Ermessen. Wenn viele Personen sich nicht einbürgern lassen, obwohl sie darauf Anspruch haben, liegt das also nicht notwendigerweise am Recht.

Plädoyer für eine „Kultur der Einbürgerung“

Trotz der Reform des Staatsangehörigkeitsrechts von 1999/2000 ist die Quote der Einbürgerungen in Deutschland gering. Dietrich Thränhardt (2020) spricht bilanzie rend von

„vernachlässigter Einbürgerung trotz Integrationsrhetorik“.

Bevölkerung und Staatsbürgerschaft sind immer weniger deckungsgleich. „Die Zahl der Ausländer*innen stieg von 7,3 Millionen im Jahr 2005 auf fast 10 Mio. 2018, im gleichen Zeitraum sank das ausgeschöpfte Einbürgerungspotenzial von 2,8 auf 2,2 Prozent“ (Sauer 2019, S. 3). In konkreten Zah-len: „Wurden im Jahr 2000 knapp 187.000 Ausländer*innen

137 Zur praktischen Handhabung vgl. Bundesregierung 2009; die Erfolgsquoten haben sich seither nicht grundlegend geändert.

eingebürgert, waren es 2008 nur 94.000. Danach stieg die Zahl der jährlichen Einbürgerungen wieder leicht an und stagniert seit 2012 bei um 110.000: 2018 lag sie wie 2017 bei rund 112.000“ (ebd., S. 6). Für das Jahr 2019 zeigt sich dann eine erfreuliche Zunahme auf beinahe 130.000 Personen, die nicht nur darauf zurückgeht, dass bei Britinnen und Briten infolge des Brexits das Einbürgerungsinteresse steigt (DESTATIS 2020e). Trotz des jüngsten Anstiegs ist die Zahl aber im OECD- und im EU-Vergleich auffallend niedrig:

„Etwa zwei Drittel der seit Langem (d. h. seit über zehn Jahren) im OECD-Raum ansässigen Zugewanderten besitzen die Staatsangehörigkeit des Aufnahmelandes, in der EU ist dies für 59 Prozent der Fall“ (OECD/EU 2019, S. 117).

Von den geschätzt rund fünf Millionen einbürgerungs-berechtigten Ausländerinnen und Ausländern in Deutsch-land äußern „je nach Erhebung und befragter Gruppe zwi-schen 20 und 30 % […] eine Einbürgerungsabsicht“ (Sauer 2019, S. 30). Dieser „Anteil variiert ähnlich wie die voll-zogenen Einbürgerungen nach Herkunftsnationalitäten und damit nach Anreizen und Kosten: Eher selten ist die Absicht bei EU-Bürger*innen und Drittstaatsangehörigen aus ehemaligen Anwerbestaaten, häufiger bei Südost- und Osteuropäer*innen, am häufigsten bei Ausländerinnen und Ausländern aus den Fluchtstaaten“ (ebd.).

Um hier einen substanziellen Fortschritt zu erzielen, plädiert die Fachkommission für einen neuen Anlauf zu einer Kultur der Einbürgerung. Dafür ist es nebensächlich, ob Einbürgerungsabsicht und tatsächlich vollzogene Ein-bürgerung den Ausgangspunkt, ein Durchgangsstadium oder den Endpunkt einer gelungenen Integration in die deutsche Gesellschaft bilden; diese Frage hat lange im Fokus der Einbürgerungsdebatte gestanden und ist in der Forschung umstritten.

Eine solche Kultur der Einbürgerung bedürfte zunächst einer Neuausrichtung der Rhetorik: eines klaren Signals an die zahlreichen potenziell Einbürgerungsberechtigten, dass ihre staatsbürgerliche Zugehörigkeit und Gleichstel-lung politisch gewollt ist. Diese Botschaft wäre gleicher-maßen an die Länder und Kommunen zu richten, die mit dem Verwaltungsvollzug betraut sind. 20 Jahre nach den wegweisenden rechtlichen Reformen von 1999/2000 gilt es, die damals angelegte Dynamik zu bekräftigen und mit neuem Leben zu füllen.

In der öffentlichen Debatte wird die Diskussion über das Staatsangehörigkeitsrecht häufig auf die Frage der Mehr-staatigkeit reduziert. Dabei wird übersehen, dass es auch unterhalb der Ebene dieser politischen Streitfrage,

näm-4 Politikfelder der Einwanderungs gesellschaft | 149 lich im praktischen Vollzug der Einbürgerungsverfahren

sehr viel Verbesserungspotenzial gibt: bei den Bundeslän-dern, denen die Umsetzung der Einbürgerung obliegt, und bei den Kommunen, die sie vor Ort konkret ausführen. Es bestehen „zum Teil erhebliche Diskrepanzen in den voll-zogenen Einbürgerungen nach Bundesländern, aber auch nach Kommunen, die nicht alleine auf die Anzahl und die Zusammensetzung der ausländischen Bevölkerung zurückgeführt werden können“ (Sauer 2019, S. 8).

Eine Kultur der Einbürgerung als Mainstreaming sollte, so die Empfehlung der Fachkommission, neben dem politi-schen Willen auf der Länder- bzw. der kommunalen Ebene auch forcieren, dass die Verwaltungsvorschriften, Anwen-dungshinweise und behördeninternen Umsetzungsver-ordnungen vereinheitlicht und konkretisiert werden. Das dient einem doppelten Ziel: Zum einen können bestehende Unklarheiten bei der Normauslegung beseitigt werden, etwa bezüglich der Voraussetzungen für eine doppelte Staatsangehörigkeit. Betroffene Personen vermuten hier bisweilen eine Restriktion, die von der höchstrichter-lichen Rechtsprechung nicht unbedingt gedeckt ist.138 Es geht also darum, für mehr Klarheit und Transparenz zu sorgen, damit betroffene Personen leichter erkennen, dass sie sich einbürgern lassen könnten. Zum anderen kön-nen untergesetzliche Konkretisierungen zu bestehenden Auslegungs- und Ermessensspielräumen das Personal in den Behörden dazu anhalten, Einbürgerung im Sinne einer Ermöglichung zu fördern. Zu einer Kultur der Ein-bürgerung gehören außerdem finanzielle Investitionen in die Personalausstattung und die Beratungskompetenz bei den Einbürgerungsbehörden sowie Kooperationen mit der Zivilgesellschaft, besonders mit Migrantenorganisationen, ggf. auch mit den Hochschulen. Eine solche Zusammen-arbeit wäre im Vorfeld von bzw. flankierend zu Informa-tions- und Einbürgerungskampagnen aufzubauen.139 Einbürgerungsfeiern sind schließlich nicht nur eine rein formale Geste. Sie symbolisieren den neuen Deutschen, dass sie willkommen sind und als gleichberechtigte Bürge-rinnen und Bürger ernst genommen werden. Nicht zuletzt sollte die Politik öffentlich für Einbürgerung werben, etwa durch Reden und ggf. eine Kampagne.

138 Vgl. hierzu insgesamt auch die von der Fachkommission in Auftrag gegebene Expertise „Erkenntnisse der Forschung zu Einbürgerungshemmnissen in Deutschland“ (Sauer 2019).

139 Studien und Auswertungen der Einbürgerungskampagnen zeigen einen hohen Informationsbedarf bei den potenziell Einbürgerungsberechtigten und auch den Bedarf, Fehlinformationen zu begegnen. Hier erscheinen Informationsportale und schriftliches Material weniger wirksam als persönliche Beratung und Begleitung während des Verfahrens. Der Informationsbedarf bezieht sich insbesondere auf die mögliche Mehrstaatigkeit von EU-Bürge-rinnen und EU-Bürgern und anderen Gruppen, bei denen dies hingenommen wird, außerdem auf die unter Umständen verkürzte Mindestaufenthalts-dauer, die Möglichkeit von Ermessenseinbürgerungen sowie die Regelungen zum Sprachnachweis jenseits eines Sprachtests. Hilfreich wären zudem Informationen zu Sprach- und Einbürgerungstests sowie zu diesbezüglichen Kursen und außerbehördlichen Beratungsangeboten (vgl. Sauer 2019, S. 33).

140 „Drittstaatsangehörige nennen Rechtsstaat, Aufenthaltssicherheit, Reisefreiheit, Zukunft der Familie und berufliche Zukunft etwas häufiger als Motive für die Einbürgerung als EU-Angehörige“ (Sauer 2019, S. 16).

141 Zur Forschungslage siehe den Überblick in Sauer 2019, S. 4.

Anerkannte Flüchtlinge, neu zugewanderte Fachkräfte und internationale Studierende als neue Zielgruppen Aufseiten anerkannter Flüchtlinge und Menschen, die aus Staaten mit prekärer politischer oder wirtschaftlicher Lage stammen, ist die Bereitschaft für eine Einbürgerung hoch.140 Im Wissen darum empfiehlt die Fachkommission, Vorbereitungen zu treffen, um ab dem Jahr 2023 gezielt die Personengruppen für eine Einbürgerung anzusprechen, die 2015/16 nach Deutschland gekommen sind und in un-gefähr drei Jahren einen Einbürgerungsanspruch erlangen können, soweit sie die gesetzlichen Voraussetzungen er-füllen. Besonders hinsichtlich der Identitätsklärung sollten Verwaltungshinweise Klarheit schaffen. Die rechtlichen Regeln und die Rechtsprechung sind in diesem Punkt schon heute angemessen, aber die fehlende Transparenz kann abschreckend wirken.

Weiterhin empfiehlt die Fachkommission, frühzeitig und aktiv auf neu zugewanderte Fachkräfte zuzugehen und ggf. auch auf EU-Bürgerinnen und EU-Bürger in Deutsch-land. Letzteren ist vielfach nicht bewusst, dass sie für eine Einbürgerung in Deutschland ihre bisherige Staatsangehö-rigkeit nicht aufgeben müssen.

Schließlich sieht die Fachkommission nicht ausgeschöpfte Erkenntnisquellen und Forschungsdesiderate. Wünschens-wert wären etwa bundesweit verfügbare kommunale Einbürgerungsstatistiken; zudem fehlen Erkenntnisse über die sehr diversen Verwaltungspraktiken und die Erträge bisheriger Einbürgerungskampagnen. Darüber hinaus fällt auf, dass es für Deutschland kaum empirische Studien zu den subjektiven Motiven für und Erfahrungen mit Einbürgerung gibt. Auch jüngere sozialwissenschaftliche Veröffentlichungen zum Thema Einbürgerung sind rar.141 Hier wäre auf einzelne Herkunftsgruppen bezogene qua-litative Forschung aufwendigen repräsentativen Studien vorzuziehen.

Staatsvolk als offener Begriff

Eng verknüpft mit der Staatsbürgerschaft und Einbür-gerung ist die Frage der politischen Teilhaberechte.142 In der Verfassung heißt es hierzu, dass alle Staatsgewalt vom Volke ausgeht (Art. 20 Abs. 2 GG). Das Bundesver-fassungsgericht deutet diese Vorgabe mit Blick auf das Wahlrecht so, dass nur deutsche Staatsangehörige an Wahlen teilnehmen dürfen (BVerfG, Urt. v. 31.10.1990, BVerfGE 83, S. 37 – Ausländerwahlrecht I). Damit folgt es einem formalen Volksbegriff, der an die Staatsangehörig-keit anknüpft und nicht etwa auf materielle Kriterien einer kulturellen oder gar ethnischen Homogenität abstellt. Stattdessen wird der Zugang zum Staatsvolk über die Einbürgerung bzw. den Geburtserwerb geregelt, die der Bundesgesetzgeber ggf. mit einfacher Mehrheit ändern kann: „Das Staatsangehörigkeitsrecht ist daher auch der Ort, an dem der Gesetzgeber Veränderungen in der Zu sam-mensetzung der Einwohnerschaft der Bundesrepublik Deutschland im Blick auf die Ausübung politischer Rechte Rechnung tragen kann“ (ebd., S. 52). Ganz in diesem Sinn erleichterte der Deutsche Bundestag mit der großen Reform von 1999/2000 die Einbürgerung sowie den Erwerb der Staatsangehörigkeit kraft Geburt.

Kommunales Wahlrecht für Drittstaats-angehörige

Zwar verstößt die Gewährung eines kommunalen Wahl-rechts für Ausländerinnen und Ausländer, die nicht EU-Bürgerinnen und EU-Bürger sind, nach der Recht-sprechung des Bundesverfassungsgerichts gegen Artikel 20 Absatz 2 S. 2 des Grundgesetzes, weil dieses zur Aus-übung des Wahlrechts die deutsche Staatsangehörigkeit voraussetzt.

Dennoch sei auf die Praxis einiger europäischer Länder hingewiesen, das kommunale und/oder das regionale Wahlrecht auch Nicht-EU-Bürgerinnen und EU-Bür-gern zu gewähren. Dies gilt für folgende zehn Staaten:

Schweden, Dänemark, Island, Finnland, Norwegen, die Niederlande, Irland, Belgien, Estland und Luxemburg.

Außerhalb Europas gibt es Staaten, die ansässigen Aus-länderinnen und Ausländern sogar die Beteiligung an nationalen Wahlen gestatten, wie etwa in Neuseeland bereits nach einem Jahr.

142 In der gesetzlichen Definition des Begriffs Integration als Teilhabe am „wirtschaftlichen, kulturellen und gesellschaftlichen Leben“ (§ 43 Abs. 1 Auf-enthG) wird Teilhabe an der politischen Willensbildung nicht explizit genannt.

Darüber hinaus empfiehlt eine (bislang nur von neun Staaten ratifizierte und auch für Deutschland nicht rechtsverbindliche) Konvention des Europarates, das Übereinkommen über die Beteiligung von Auslände-rinnen und Ausländern am kommunalen öffentlichen Leben (Sammlung Europäischer Verträge Nr. 144, 1992) in Ka pitel C, Artikel 6, ausdrücklich, „jedem ansässigen Ausländer bei Kommunalwahlen das aktive und passive Wahlrecht zuzugestehen unter der Bedingung, dass er dieselben rechtlichen Voraussetzungen erfüllt, die für Staatsangehörige gelten, und darüber hinaus in den letzten fünf Jahren vor der Wahl rechtmäßig seinen ge-wöhnlichen Aufenthalt in dem betreffenden Staat hatte“

(Beitrittsstaaten können dieses auch auf das aktive Wahl-recht beschränken). Der Europarat stützt sich dabei ex-plizit auf den „universellen und unteilbaren Charakter der Menschenrechte und Grundfreiheiten, die auf der Würde aller Menschen beruhen“. Er argumentiert, dass „der Auf-enthalt von Ausländern im Staatsgebiet zu einem dauer-haften Wesenszug der Gesellschaft in den europäischen Staaten geworden ist“, diese auf kommunaler Ebene all-gemein dieselben Pflichten haben wie Staatsbürgerinnen und Staatsbürger und „am Leben der örtlichen Gemein-schaft und an der Entwicklung ihres Wohlstands beteiligt sind“. Entsprechend gibt sich der Europarat „überzeugt von der Notwendigkeit, ihre Eingliederung in die örtliche Gemeinschaft zu verbessern, insbesondere durch eine Ausweitung der Möglichkeiten einer Beteiligung an den kommunalen öffentlichen Angelegenheiten“.

Ebenso haben sich Integrationsbeiräte, Migrantinnen- und Migrantenorganisationen die Forderung nach einem kommunalen Ausländerwahlrecht bereits seit Jahren zu eigen gemacht. Sie beziehen sich dabei wie auch ein Teil der juristischen Literatur (zu den Nachwei-sen vgl. WisNachwei-senschaftliche Dienste des Deutschen Bun-destages 2006) auf folgende Argumente: Erstens müsse das Wahlrecht der Betroffenheit durch die Staatsgewalt Rechnung tragen. Zweitens sei die Gesamtbevölkerung in Deutschland divers; diesem Fakt müsse das Verfas-sungsrecht Rechnung tragen.

Ein formales Verständnis des Volksbegriffs ist nicht der einzig mögliche Ausgangspunkt der demokratischen Legitimation. So wird aus der Perspektive der Demokratie-theorie regelmäßig argumentiert, dass eine dauerhafte Betroffenheit von staatlichen Entscheidungen den Legiti-mationsbedarf erhöht; deshalb sollten jedenfalls Personen mit einem Daueraufenthalt eine Möglichkeit der

Beteili-4 Politikfelder der Einwanderungs gesellschaft | 151 gung haben (vgl. z. B. Benhabib 2004). Umsetzen lässt sich

diese Forderung dann auf verschiedenen Wegen: indem man entweder die Erwerbsregeln erweitert oder alternativ ein Wahlrecht für Ausländerinnen und Ausländer für alle oder bestimmte Wahlen einführt. Die Bundesrepublik ist bekanntlich dem ersten Weg gefolgt und hat die Einbürge-rungsregeln geändert, nachdem das Bundesverfassungsge-richt 1990 ein kommunales Wahlrecht für Ausländerinnen und Ausländer für verfassungswidrig erklärt hatte.143 Nur Unionsbürgerinnen und -bürger haben aufgrund von EU-Vorgaben ein Wahlrecht bei Kommunal- und Europa-wahlen (vgl. Art. 22 AEUV, Art. 28 GG).

Das Betroffenheitsargument ist freilich nicht so zu ver-stehen, dass die politischen Rechte schematisch dem fak tischen Aufenthalt in einem bestimmten Gebiet an-geglichen werden sollen. Es geht nicht darum, ein Wahl-recht unmittelbar nach der Einreise zuzugestehen. Dafür wird vielmehr eine gewisse Dauerhaftigkeit und Stabilität des Aufenthalts gefordert, zumeist ein Voraufenthalt von einigen Jahren, was z. B. Touristinnen und Touristen und andere kurzfristige Aufenthalte ausschließt (vgl. Miller 2016;

Carens 2013, Kap. 5–9). Dass man den tatsächlichen Auf-enthaltsort nicht automatisch mit einem Recht auf politi-sche Mitwirkung gleichsetzen kann, zeigt schließlich auch die Debatte darüber, inwieweit Personen, die dauerhaft im Ausland leben, eine Mitwirkung an der deutschen Politik beanspruchen können, weil deren Folgen sie faktisch be-treffen. Eine Möglichkeit, diese widerstreitenden Impulse aufzunehmen, besteht darin, zwar einerseits das Wahlrecht von Kriterien stabiler Zugehörigkeit abhängig zu machen, andererseits jedoch mittels anderer Instrumente eine er-weiterte politische Teilhabe zu eröffnen.

Politische Teilhabe diesseits des Wahlrechts

Im geschlossenen Nationalstaat wurde Ausländerinnen und Ausländern häufig verboten, sich politisch zu betäti-gen, denn sie galten als Angehörige einer fremden Macht, die sich nicht in innere Angelegenheiten einmischen sollten.144 Davon kann heute keine Rede mehr sein. Zwar heißt es im Grundgesetz weiterhin, dass nur „Deutschen“

z. B. die Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit nach Ar-tikel 8 und 9 zustehe; in der Praxis wird dies jedoch durch das einfache Recht und die europäischen Menschenrechte

143 Wenn 30 Jahre nach den genannten Urteilen beim kommunalen Ausländerwahlrecht ein neuer Anlauf genommen wird, könnte das durchaus auf verfassungsrechtliche Argumente verweisen, die womöglich eine Änderung der Rechtsprechung rechtfertigen würden. Allerdings ist keineswegs garan-tiert, dass die Gerichte dieser Argumentation folgen. So wies der Bremer Staatsgerichtshof 2014 ein entsprechendes Vorhaben zurück; vgl. Urteil vom 31.01.2014, Az. St 1/13.

144 Das Verbot der politischen Betätigung nach § 47 des Aufenthaltsgesetzes und Artikel 16 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) wird heute allenfalls noch in Sonderfällen angewandt, ansonsten spielt es – anders als früher – keine Rolle mehr.

145 Ob eine „Repräsentation“ von Interessen erfordert, dass in den Parlamenten Personen mit einer vergleichbaren Interessenlage vertreten sind, ob also nur Zugewanderte migrantische Interessen wirksam und legitim vertreten können, wird in der Demokratietheorie traditionell unterschiedlich beurteilt.

Nachweise dazu finden sich in Thaa 2009, S. 61–80.

überlagert. Alle im Land lebenden Personen können heute an der öffentlichen Meinungsbildung in den Medien, im Internet, in den Städten und Gemeinden sowie im persönlichen Umfeld mitwirken und viele nehmen diese Möglichkeit auch wahr. Auf diesem Wege kann man ohne Wahlrecht an öffentlichen Debatten teilhaben. Dies gilt auch für innerbetriebliche Mitbestimmung, die für

überlagert. Alle im Land lebenden Personen können heute an der öffentlichen Meinungsbildung in den Medien, im Internet, in den Städten und Gemeinden sowie im persönlichen Umfeld mitwirken und viele nehmen diese Möglichkeit auch wahr. Auf diesem Wege kann man ohne Wahlrecht an öffentlichen Debatten teilhaben. Dies gilt auch für innerbetriebliche Mitbestimmung, die für