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Viele Konzepte belegen, dass in unserer Kultur Mädchen und Jungen unterschiedlich erzogen werden. Kleine Jungen durchlaufen nach diesen Theorien einen emotional we-sentlich anspruchsvolleren, problematischeren Entwicklungsweg. Es wird von ihnen verfrüht verlangt, sich auf die Suche nach Beziehungen außerhalb der beschützenden mütterlichen Umgebung zu machen, um den Anforderungen von Männlichkeit, die un-sere kulturellen Normen vorgeben, zu entsprechen. Für kleine Mädchen hingegen geben die kulturellen Normen eher vor, sich beziehungsmäßig über die und mit der Mutter zu orientieren, was natürlich Vorteile mit sich bringt. Kleine Jungen wiederum müssen ihr Selbst und ihr geschlechtsspezifisches Konstrukt in einem Prozess erarbeiten, der auf Trennung und Distanz zur Mutter basiert. Dadurch entsteht ein Selbst-Konzept, in dem Abspaltung von anderen und anonyme emotionale Funktionen verknüpft werden. Diese Aufhebung der beschützenden mütterlichen Atmosphäre hat einen dynamischen Ein-fluss auf den Jungen in Bezug auf zukünftiges Erleben von Beziehungen: Es wird ange-nommen, dass dieser Entwicklungsprozess zum defensiven Stabilisieren von zwi-schenmenschlichen Grenzen führt. Diese Mischung aus Distanziertheit und Selbstschutz soll hinführen zum Verlangen nach Vertrautheit und Beziehungen zu anderen. (Vgl.

Cochran & Rabinowitz, 2000, S. 55)

Dammasch, 2009, schreibt über die Entwicklung des männlichen Selbst-Konzepts zu-sammengefasst Folgendes: Im Säuglingsalter beginnt die Mutter unbewusst, ihren Jun-gen durch dämpfendere Affektstimmung anders zu behandeln, als sie es mit einem Mädchen tun würde. Dies ist auf die libidinöse Besetzung und Repräsentanz des Vaters zurückzuführen. Somit prägt die Mutter den Sohn durch ihr inneres

Männer-/Vater-Bild. Auch kann die Mutter später, wenn ihr Sohn stolz auf seinen erigierten Penis ist, seine Affekte nicht spiegeln, wie es normalerweise der Fall ist, da sie andersgeschlecht-lich ist. Somit fehlt dem Kind die innere Repräsentation dafür. So sollte die Mutter ver-suchen, die Männlichkeit des Kindes altersentsprechend libidinös zu schätzen, um eine Geschlechtertriangulierung zu fördern. Dazu kommt im Kleinkindalter der Vater als Spielpartner und hilft bei der Loslösung von der Mutter. Sie wird jetzt als „andersartig“

wahrgenommen. Wenn eine stabile Vaterrepräsentanz fehlt, werden beim Jungen präödipale Inzestwünsche und Kastrationsängste entstehen, die durch verstärkte Moto-rik und Phallizität abgewehrt werden müssen, ebenso wie die Angst vor der Wiederver-einigung des Selbst mit der Mutterrepräsentanz, was als Grundlage für die Hemmung gilt, sich auf therapeutische Abhängigkeitsbeziehungen einzulassen. Ein weiterer As-pekt ist, dass Jungen heute seltener auf Mütter innerhalb und außerhalb der Familie tref-fen, die männliche Differenz „gut finden“. Auch stehen immer seltener Väter zur Ver-fügung, die sich aktiv als ihre Spielkameraden, aber auch als Vorbilder, die sie ein-schränken, um sie bemühen. (Vgl. Dammasch in Dammasch, Metzger, Teising, 2009, S.

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Ein anderer wichtiger Aspekt ist, dass schon in der frühen Sozialisation zur Zeit des Spracherwerbs der Aufbau der Intelligenz und der Wechsel der Gefühle das Kind in seiner Entwicklung prägen, es befindet sich auf der Suche nach seinem Selbst im Pro-zess der Individuation. Im SozialisierungsproPro-zess ist es für das Kind wichtig, seine Rol-le in der Gruppe der Spielgefährten zu erkennen und sich vorgegebenen Regeln, die dem Gemeinschaftsleben zugrunde liegen, zu unterwerfen. Rivalität und Zusammenar-beit lassen Affekte entstehen, die sowohl in Bezug auf sich selbst als auch als Signale im Verhalten der anderen eine wichtige Rolle spielen. Das Entziffern dieser sozialen Botschaften und auch das Lösen von Konflikten führen zur sozialen Integration, die durch die aktive Gegenwart des Vaters gefördert wird. Die Familie ist für die Entwick-lung des Selbst maßgeblich verantwortlich. Die Förderung von Wertbewusstsein und die Anerkennung der Pflichten, die durch die Eltern geleistet werden, sind nur einige der vielen Beispiele dazu. Gemäß den kulturellen Geschlechterrollen werden den Kin-dern - teils durch Nachahmen der elterlichen Vorbilder, teils durch Verbote oder Be-kräftigungen der Eltern - Verhaltensformen nähergebracht. Kontrolle, Sanktionen und vor allem die Herzlichkeit von Beziehungen sind dabei wichtige Komponenten. Der

Va-ter soll dabei die Funktion eines Vermittlers zwischen Familie und Gesellschaft ein-nehmen: Einerseits sollte er zwischen den Gruppen „Familie“ und „Peergroup“ vermit-teln, andererseits auch bei der Differenzierung der Geschlechterentwicklung hilfreich zur Seite stehen. (Vgl. Le Camus, 2000, S. 41-45)

Wenn diese Vaterfunktion nicht gegeben ist, können sich Verlusterfahrungen eines so-wohl körperlich wie auch seelisch abwesenden Vaters für kleine Jungen massiv auf die Entwicklung auswirken, weil sie in wesentlichen Erfahrungen, wie der Separation der Mutter und in männlichen Entwicklungsphasen, nicht auf den stützenden Vater zurück-greifen konnten. Es kam besonders für die Jungen, die vor oder während des Zweiten Weltkrieges geboren wurden, zum Verfall der Bedeutung des Vaters, weil er zuerst kör-perlich abwesend – weil im Krieg – war und danach zwar zu Hause, aber von den Er-lebnissen im Krieg traumatisiert und deshalb psychisch abwesend war. So war es mög-lich, dass sich eine Entfaltung von einer „Führer-Person“ als Vaterersatz ergab. Es kam sogar zu einem Verneinen oder einer Auflehnung gegen den eigentlichen Vater. Dieses Phänomen wird heute auch noch beim neuen Rechtsextremismus beschrieben. (Vgl.

Aigner, 2002, S. 48)

Heutzutage ist die Entwicklung von Männlichkeit eine „komplizierte Angelegenheit“.

Frauenbewegung und Feminismus veränderten die Paradigmen und die heutige Zeit er-möglicht es den Mädchen, sich in traditionell männlich dominierten Sparten zu etablie-ren. Junge Männer hingegen widersetzen sich zu starker Verweiblichung, so sind Män-ner in Berufen, die auf Beziehungsarbeit basieren, deutlich selteMän-ner als Frauen zu fin-den: nämlich als Lehrer, Mediziner und auch Psychotherapeuten. Männer wenden sich technisch und ökonomisch orientierten Berufen deutlich häufiger zu. Dies führt dazu, dass Jungen seltener in Kontakt mit sozialen Vätern außerhalb der Familie kommen und in einer weiblich dominierten Welt aufwachsen. Männliche Ausdrucksformen wie Riva-lität und Aggressivität werden als störend empfunden, so ergibt sich oft ein unzu-reichend sicheres männliches Selbst. Auch die Gesellschaft sieht das aggressive Verhal-ten von jungen Männern als destruktiv, obwohl es eigentlich zur Selbstfindung und Selbstbehauptung gehört. Das wiederum führt dazu, dass man sich an stereotypen Männlichkeitsbildern orientiert, die wenig mit der normalen heterosexuellen Beziehung zwischen Mutter und Vater zu tun haben. (Vgl. Dammasch et al., 2009, S. 7-8)

Trotz Chancenangleichung gibt es in unserer Kultur auf Basis komplementärer Rollen-verteilungen hierarchische Geschlechterverhältnisse, in denen verankert ist, was für Männer und Frauen sozial erwünscht ist. Diese werden in der Kindheit durch Sozialisie-rung vermittelt und in der Jugend durch soziale Interaktionen reproduziert. So entsteht ein unterschiedlicher Zugang zu persönlichen, sozialen und materiellen Ressourcen.

Durch Interaktion mit anderen sozialen Differenzierungen wie Alter, soziale Schicht und Ethnien ergeben sich unterschiedliche Probleme, geschlechtsspezifische Risiken und Verhaltensweisen. So werden unser Selbst, die soziale Geschlechterrolle und auch die Bewertung anderer sozialer Rollen über das Geschlecht maßgeblich bestimmt. (Vgl.

Möller-Leimkühler, 2005, S. 29)

Das individuelle Selbst wird aus einem Gefühl von Körperlichkeit, sozialen Interaktio-nen und bewussten Phantasien konstituiert. Männer haben aufgrund von gesellschaftlich geprägten Normen größere Angst, als „unmännlich“ zu erscheinen oder „ihre Männ-lichkeit zu verlieren“. Durch diese enge Bindung des Selbst an die Geschlechterrollen erscheinen sie deutlich unflexibler als Frauen und versuchen, ihr männliches Selbst häu-fig durch Rollenzuschreibungen zu sichern. Dies wird durch den Feminismus in Frage gestellt und so wird der Mann nur noch deutlicher herausgefordert, sein männliches Selbst abzusichern. In der Adoleszenz, und zusätzlich auch bei geringerem Bildungsni-veau, führt dies oft zu einer Einengung des Selbst-Konzepts, die wiederum zum trotzi-gen Behaupten von Männlichkeit führt. In einfachster Art der Durchsetzung wird auf aggressives Verhalten als Abgrenzung vom Unmännlichen bzw. Fremden zurückgegrif-fen. So wird die als labil empfundene phallisch-männliche Potenz durch Abgrenzung und Überkompensation zu sichern versucht. (Vgl. Dammasch et al., 2009, S. 10)

Ein weiteres Problem ist, dass wir heute in einer Konsumgesellschaft leben. Somit hat sich das Ideal des Triebaufschubs und der Unterwerfung, wie es das klassische bürgerli-che Vaterbild überlieferte, in eine konsumabhängige Selbstverwirklichung und damit ins Ausleben von narzisstischen Wünschen gewandelt. Unsere Gesellschaft wird durch den ständigen Wandel an persönlichen und sozialen Verhältnissen zusehends instabil.

Die Brüchigkeit der Familienkonstellationen macht die betroffenen Kinder zu abgehär-teten Experten in Sachen Trennungserlebnisse. (Vgl. Aigner, 2002, S. 49)

Wenn es dem erwachsenen Mann möglich war, in seiner Kindheit eine reife Ge-schlechtsidentität auszubilden, hat diese normalerweise eine bisexuelle Grundlage. Die-se wurde durch die emphatische Beziehung zu Mutter und Vater geprägt. Wenn der Mann mit seinem Selbst im Einklang steht, braucht er die eigene Weiblichkeit nicht zu fürchten. Weibliche und männliche Objektrepräsentanzen sind in seinem Selbstbild in-tegriert. So muss er seine Geschlechtsidentität nicht in Frage stellen. (Vgl. Dammasch et al., 2009, S. 13)

Ein Mann mit einem reifen maskulinen Selbst revidiert sein Ich-Ideal über sein gesam-tes Leben. Junge erwachsene Männer aktivieren ein genitales Ich-Ideal, um dauerhafte intime Beziehungen herzustellen. Später orientieren sie sich stärker an der Realität und dadurch drängen sich archaische unbewusste Wünsche nach Eroberung der Mutter aus früher Zeit eher in den Hintergrund. Zufriedenheit des Selbst wird wichtiger. Im Er-wachsenenalter ist er versucht, neben der Weiterentwicklung im Beruf seinen Vorstel-lungen von Maskulinität, die an das Bild vom eigenen Vater erinnern, gerecht zu wer-den. Im reifen Erwachsenenalter lässt das Bedürfnis nach scharf abgegrenzter Männ-lichkeit allmählich nach. (Vgl. Diamond, 2009, in Damasch, Metzger und Teising 2009, S. 161-192)

Zu diesem Thema schreibt Süfke, 2010, Folgendes: „Mit dem männlichen Dilemma, als der Ambivalenz aus emotionaler Bedürftigkeit einerseits und der Abspaltung vieler Ge-fühle andererseits, müssen sich grundsätzlich alle Männer auseinandersetzen.“ (Süfke, 2010, S. 68) Hegemoniale Männer haben ihre Gefühle so weit aus ihrem Bewusstsein verdrängt, dass sie nur bei einem Kontrollverlust unerwartet durchbrechen. Es gibt je-doch auch Männer, die in ihrem Selbst aufgrund günstiger Sozialisierung, wie oben schon erwähnt, schwache Gefühle integriert haben. Die meisten Männer bewegen sich irgendwo zwischen den beiden Extremen. (Vgl. Süfke, 2010, S. 69)

Die Erwerbsarbeit spielt ebenfalls eine wichtige Rolle im männlichen Selbst-Konzept.

Der Beruf dient als Schablone zur Identifizierung und ist wesentlich für die Selbststän-digkeit des Mannes und somit für ein kontinuierliches Einkommen des Versorgers. So verwundert es nicht, dass viele Männer irritiert sind, weil sie merken, dass ihr Konzept der Vollzeitbeschäftigung bis zur Pension nicht gesichert ist. Schon männliche Jugend-liche sind heute mit Unterbrechungen ihrer Erwerbstätigkeit konfrontiert. Befristete

beitsverträge, Teilzeitbeschäftigung und Phasen von freiwilliger oder erzwungener Ar-beitslosigkeit tragen nicht unbedingt zum Verbessern des Selbstwertgefühls bei. Je knapper Arbeit als gesellschaftliches Gut wird, desto mehr nimmt ihre Bedeutung im Lebensentwurf der betroffenen Personen zu. Wenn der Vater in Karenz geht, wird er zumeist als „komischer Vogel“ angesehen. Eine „Männerkrise“ hat begonnen und könn-te vom rein ökonomischen Problem zu einem weit größeren werden. Wenn Männer sich ausschließlich über ihren Beruf identifizieren, wird es zu einer Krise ihres Selbst kom-men, denn sie verfügen über keine anerkannten Alternativen, jenseits der Arbeit Sinn-haftigkeit zu finden. (Vgl. Gerstenkamp, 2008, S. 23-25)

Viele Männer sehen ihre Geschlechtsrolle auch als phallisch narzisstisch. Weibliche Teile werden abgespalten und „Mann“ ist bestrebt, mit klischeehafter Männlichkeit drohende Kränkungen seiner narzisstischen Geschlechtlichkeit abzuwehren. Dies ge-schieht durch Sucht und Sehnsucht nach Erlebnissen, bei denen Gefühle von Hilflosig-keit und VerletzbarHilflosig-keit aufgehoben werden, die bei Verlusten oder Enttäuschungen ent-standen sind. Phantasien und Handlungen von Allmächtigkeit sollen es ermöglichen, dass man Kontrolle aufrechterhält. Dies gewährt aber keine narzisstische, unverletzbare Stabilisierung. Es wird vor allem für ältere Männer, die diese narzisstische Anerken-nung suchen, immer schwieriger, dies zu erfüllen. Es kann zu einer beschämenden Situ-ation führen, wenn Männlichkeit als Abwehr von Sehnsucht nach Geborgenheit und Abhängigkeit von anderen gesehen wird. (Vgl. Teising in Dammasch et al., 2009, S.

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Die oben dargelegten Faktoren machen es den Männern schwer, ein gesundes Selbst zu entwickeln und aufrechtzuerhalten. Wenn das Selbst-Konzept schon in frühester Kind-heit massiv in seiner Entwicklung gestört wurde, kann das pathogenisierende Folgen für das weitere Leben haben. Zur Selbst-Findung schreiben Dammasch et al., 2009, Fol-gendes:

„Im Kontext der psychoanalytischen Objektbeziehungstheorien können wir das Gefühl des dauernden inneren Sich-selbst-gleich-Seins verstehen als die intrapsychische Konstanz der Selbst- und Objektrepräsentanzen. Die Gefühle - ja die Psyche insgesamt - befinden sich aber nicht in einem sphärischen Raum, sondern sind eingebettet in einen Körper.“ (Dammasch et al., 2009, S.

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