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3.2 Psychoanalytische Aspekte

3.2.2 Aktuelle Konzepte

Winnicott, 1997, schreibt Folgendes über die Bedeutung des „Phänomens Familie“:

„Obwohl dies allgemein bekannt ist, verdient es das Phänomen Familie, ein-gehend untersucht zu werden. Als Psychoanalytiker, der die emotionale Ent-wicklung des Individuums in allen Einzelheiten untersucht hat, habe ich ge-lernt, dass jedes Individuum aus dem Zustand der Verschmelzung bis zur Exis-tenz als eigenständige Person, die mit der Mutter und mit Mutter und Vater zusammen verbunden ist, einen langen Weg zurücklegen muß; von hier aus geht die Reise durch die Landschaft der Familie, in der Vater und Mutter die wichtigsten Landmarken sind.“ (Winnicott, 1997, S. 63)

Die psychoanalytische Theorie lässt zwei Ursachen für spätere Probleme zu: einerseits die Bedeutung der „regressiv wirkende[n]“ Mutterdominanz der Mutter in der frühen Kindheit und andererseits die „progressiv liberale[…]“ Wirkung des ödipalen Vaters.

(Vgl. Aigner, 2002, S. 13). Le Camus, 2000, schreibt über die Bipolarität der Eltern und formuliert „vereinfacht: Liebe versus Gesetz“ (Le Camus, 2000, S. 10).

Es stellt sich auch die Frage, was sich die Eltern vom Kind erwarten. Offensichtlich set-zen sie positive und negative Erwartungen, wie ihr Kind sein soll, in dieses, die mit ver-schiedenen Affekten besetzt sind und die das Kind dann auch realisieren möchte. Dem Kind wird eine soziale Rolle auferlegt. Das sind allgemeine Verhaltensmuster, die von der Kultur ausgehend über die Eltern vermittelt werden. Psychoanalytisch gesehen sind es die unbewussten elterlichen Erwartungsphantasien, die vom Kind die Erfüllung einer Funktion erfordern. Es sind Wünsche, Ängste und Aggressionen, die das Leitmotiv dar-stellen und den Eltern zur Entlastung ihrer eigene Konflikte dienen sollen. (Vgl. Rich-ter, 2007, S. 71-71)

Oft wird der Vater auch als „Nicht-Kommunizierender“ - also Nicht-da-Seiender, ob-wohl er präsent ist - bezeichnet. Es wird aber auch im Gegenzug dazu von der Gebär-rache gesprochen, also der unbewussten Freude der Frau am Ausgeschlossensein des Mannes bei der Geburt, einer Situation der körperlichen, geistigen und sozialen Verän-derung. Der Vater bekommt somit erst in der frühen Triangulierung Relevanz, also in jener Phase, in der das Kind wahrnimmt, dass es außer ihm selbst und der Mutter noch anderes gibt. Neueste psychoanalytisch orientierte Säuglingsforschungen hingegen ergaben, dass sich Babies schon im Mutterleib der dunklen bekannten Stimme ihrer Vä-ter, die ihnen vertraut erscheint, zuwenden und mit 28 Wochen diese sogar der höheren Stimme der Mutter vorziehen. Bei Kleinkindern, die in nahem Kontakt mit ihren Vätern standen, gab es auch kein Fremdeln ihnen gegenüber. Daraus kann geschlossen werden, dass der Vater sehr wohl schon von Anbeginn an eine große Bedeutung für die Kinder hat und als fester Bezugspunkt wahrgenommen wird. Auch wenn der Vater präsent ist und, was heute ja keine Selbstverständlichkeit ist, aktiv an der familiären Beziehung teilnimmt, ist er heutzutage dennoch oft mit Eigenschaften und Haltungen, die patriar-chalischen Klischees entsprechen, behaftet. (Vgl. Aigner, 2001, S. 74)

Eine ausgewogene Beziehung wär das Ideal. Wichtig für diese Triangulierung, also die stimmige Dreierbeziehung zwischen Mutter, Vater und Kind, die für symbolisches Denken und reflexive Kompetenz die Voraussetzung liefert, ist die innere Repräsentanz des realen Vaters. Die Mutter sollte auch von Geburt an dem Kind Väterlichkeit ermög-lichen, damit die Beziehung zwischen Vater und Kind real wird. Ebenso wichtig ist die Repräsentanz der elterlichen Beziehung, diese dient dem späteren Anerkennen von Drit-ten. (Vgl. Fonagy & Target, 2005, S. 71)

In der Ablösungsphase von Mutter und Baby ist der Vater relevant. Er, als der Reprä-sentant des anderen Geschlechts, soll die Verschmelzung mit der Mutter nicht länger als notwendig andauern lassen. Er ist auch maßgeblich an der psychischen Entwicklung der Kinder beteiligt, da er die Verbote des Über-Ichs, also die Verinnerlichung der Moral, darstellt. Für die Sozialisierung und für die geschlechtliche Identitätsbildung ist er eben-falls bedeutsam: für Mädchen in der Entdeckung und für Jungen als Bestätigung. (Vgl.

Le Camus, 2000, S. 9-10)

Säuglinge, die mit dem Vater aufgewachsen sind und mit denen der Vater sich aktiv beschäftigt hat, werden Studien zufolge in der Entwicklung zu ihrer Unabhängigkeit und Stabilität gefördert. Auch sind solche Kinder später einmal stressresistenter und so-zial kompetenter. (Vgl. Fonagy & Target, 2005, S. 80)

Laut Winnicott, 1997, besitzen Mütter grundsätzlich die Fähigkeit, das eigene Interesse an ihrem Selbst dem Baby zuzuwenden. So wissen sie, was ihre Babies fühlen, und handeln dementsprechend. Wenn bei der Mutter jedoch eine Störung vorliegt, die ein zwanghaftes Selbstinteresse oder eine krankhafte Sorge um das Baby sein kann, wird das Baby nicht befriedigend versorgt. Es kann als Erwachsener im späteren Leben Pha-sen durchleben, in denen er in diese frühere Beziehung regrediert und sie nochmals als nicht befriedigend erlebt. (Vgl. Winnicott, 1997, S. 27-28)

Gruen, 2008, ist der Meinung, dass es für Frauen in der Gesellschaft der 1980er Jahre sehr verletzend war, sich der männlichen Überlegenheit und damit der eigenen Wertlo-sigkeit anpassen zu müssen. Solche Frauen, die ihre eigene Liebe verneinen, erziehen dann Kinder, die ihre eigene Stärke zurückweisen und sich nur in Bezug auf Macht und Dominanz entfalten wollen. Sie nutzen die Abhängigkeit des Kindes aus, um Erleichte-rung für ihre Enttäuschungen zu finden. Das Kind wird zum Werkzeug des Machtwil-lens der Mutter. Gruen nennt es den „Mythos“ des Ödipus, bei dem die Verzweiflung des Kindes mit Liebe, die in Wahrheit ein Machtstreben ist, verwechselt wird. (Vgl.

Gruen, 2008, S. 90-91)

Ein gutes Beispiel dafür ist Marcel Proust: Seine Mutter liebte ihn auf ihre Weise, die sich in großer Besorgnis, Anordnungen und Verboten ausdrückte. Sie machte ihn ab-hängig. Er wollte sich wehren, konnte es aber nicht, da er fürchtete, ihre Zuwendung zu verlieren. Erst als sie starb, konnte er seine Gefühle und Gedanken beschreiben und das ausdrücken, was ihn so belastete, sodass er an Asthma erkrankte. Statt der Liebe, die er suchte, musste er sich vor der Kontrolle seiner Mutter durch einen inneren Rückzug schützen. So wird die übermäßige Liebe mit einem Zu-viel-Luft-Haben verglichen und die Kontrolle mit der überschüssigen Luft, die ein Asthmatiker nicht ausatmen kann. In Prousts Werken, die die bürgerliche Gesellschaft in der Zeit der Jahrhundertwende kri-tisch darstellen, kritisiert er eigentlich seine eigene Mutter. Die Ursache für die patho-gene Bindung zu seiner Mutter findet sich in Ängsten der Mutter wieder, die ihren Sohn 1871, als die Preußen in Frankreich einmarschierten, auf die Welt brachte. Dies spürte

der Säugling, was ihn später sehr belastete und verunsicherte. Statt sich ihm liebevoll zuzuwenden, war die Mutter nur um das Benehmen ihres Sohnes besorgt. Als Erwach-sener wollte er sich als Dandy seine „gestohlenen Empfindungen“ zurückholen. Nach dem Tod der Mutter tat der das als phantasievoller Künstler. (Vgl. Miller, 2005, S. 56-64)

Fonagy und Target, 2005, betonen, dass die Qualität der väterlichen und mütterlichen Zuwendung für den Sohn zu Problemen hinsichtlich seiner Geschlechtsentwicklung führen kann. Diese Schlussfolgerung ergibt sich, da einige psychoanalytische Studien den abwesenden, gefühlskalten und unerreichbaren Vater als Ursache für eine homose-xuelle Entwicklung oder für Pathologien des Sohnes betrachten. (Vgl. Fonagy & Target, 2005, S. 85-86)

Zu dieser Thematik schrieb Miller, 2005, über Nietzsche Folgendes:

„Nietzsches großartiges Werk verstehe ich als einen Schrei nach Befreiung von der Lüge, der Ausbeutung, der Heuchelei und der eigenen Anpassung, aber niemand, er selbst am wenigsten, konnte sehen, wie sehr er schon als Kind darunter gelitten hatte. Sein Körper jedoch spürte diese Last pausenlos.

Schon als kleiner Junge hatte er mit Rheuma zu kämpfen, das, wie seine star-ken Kopfschmerzen, zweifellos auf das Zurückhalten der starstar-ken Emotionen zurückzuführen war. Er litt auch an unzähligen anderen Erkrankungen, an-geblich bis zu hundert während eines Schuljahres. Dass es das Leiden an der verlogenen Moral war, die zu seinem Alltag gehörte, konnte niemand merken, da doch alle die gleich Luft atmeten wie er. Aber sein Körper hat die Lügen deutlicher als die anderen Menschen gespürt. Hätte jemand Nietzsche gehol-fen, das Wissen seines Körpers zuzulassen, hätte dieser nicht den ‚Verstand verlieren‘ müssen, um bis an sein Lebensende für seine eigene Wahrheit blind bleiben zu müssen.“ (Miller, 2005, S. 38-39)

Es kann auch weniger Vernachlässigung zur Ursache von späteren Depressionen führen.

Trotz der Fähigkeit von Kindern, sich leicht anpassen zu können, sind sie im Vergleich zu erwachsenen Menschen seelisch sehr verletzbar. Unter entsprechenden Situationen, die Kindern erheblichen Stress verursachen, können so Traumata entstehen, die im Er-wachsenenalter zum Tragen kommen.

„Jeder depressive Mann trägt einen verletzten, verwirrten Jungen in sich, oh-ne zu wissen, wie er angemessen für ihn sorgen soll. Der Moment, in dem ein

Mann zu diesem verleugneten Schmerz Kontakt aufnimmt, ist der erste Schritt zu seiner Genesung.“ (Real, 2001, S. 87)

Der Grundstein für eine Depression bei erwachsenen Männern liegt in einem Trauma, das Real den „Verlust der Verbundenheit“ (Real, 2001, S. 143) nennt und das auf früh-kindlichen Schmerz- und Verlusterfahrungen beruht. (Vgl. Real, 2001, S. 87 und 143) Richter schreibt 2007, dass nicht die Defizite an affektiver Zuwendung, sondern deren qualitative Modifikation zu analysieren seien, da diese ausschlaggebend für spätere Er-krankungen sei. So wirken die Einstellungen und Praktiken der Eltern ähnlich einer physikalischen Kraft entweder bremsend oder stimulierend auf die Triebimpulse des Kindes, sie schwächen oder steigern die Ich-Abwehr. (Vgl. Richter, 2007, S. 71)

Während der Schulzeit gehören aktive Traumata zum Alltag von Jungen, da sie aus physiologischen Gründen aktiver sind als Mädchen und nicht, weil es, wie öfter behaup-tet wird, in ihren Erbanlagen liegt. Wir schreiben schon von Geburt an einem männli-chen Baby andere Eigenschaften zu als einem Mädmännli-chen: nämlich wacher, stärker und durchsetzungsfreudiger zu sein. Allein aufgrund von Klischees gehen wir mit Kindern so um.

Laut Peters, 1994, habe es wenig Forschung bezüglich der Familie in ihrer unterstüt-zenden Funktion bei der Sozialisierung gegeben. Die wenigen Studien aus den 1970er Jahren ergaben jedoch, dass beide Elternteile bei ihren Söhnen auf Leistung und Stärke Wert legen, deren Unabhängigkeit fördern und sie mutiger erziehen und im Umgang mit Töchtern auf nicht aggressives, sensibles und fürsorgliches Verhalten Wert legen.

(Vgl. Peters, 1994, online)

Burschen schaffen sich auch schon sehr früh hierarchische Rollen, bei denen Wut und Aggression immer eine wichtige Rolle spielen und oft zu Ausgrenzungen führen, die gerade in der Schulzeit tiefe Verletzungen nach sich ziehen können. Oft sind dieser Schmerz und Scham dann die Grundlage für jene aggressive Haltung, die Väter ihren eigenen Söhnen entgegenbringen.

Wie bereits oben erwähnt, ist ein wichtiger Faktor in der männlichen Sozialisation, der oft Störungen zugrunde liegen, das Loslösen von der verweichlichenden, vereinnah-menden Mutter. Dabei dient der Vater als „Zertrenner der psychischen Nabelschnur“

(Real, 2001, S. 144). Der enge, sanfte Umgang der Mutter mit ihrem Sohn wurde auch

oft als Erklärung für destruktive jugendliche Delinquenten und Drogensüchtige gese-hen. Ein „nicht vorhandener“ oder „unfähiger“ Vater verschärfte noch die Probleme des Jugendlichen. Neuere Forschungsergebnisse zeigen jedoch, dass Jungen, die von Al-leinerzieherinnen oder lesbischen Paaren erzogen wurden, in keiner Weise Anpassungs-schwierigkeiten aufweisen, sie sind jedoch mit dem sozioökonomischen Abstieg kon-frontiert, der oft in einem Zusammenhang mit der Armut gesehen werden kann. So ha-ben am häufigsten jene Jungen, deren Väter sie misshandelt oder vernachlässigt haha-ben, Anpassungsschwierigkeiten, woraus geschlossen werden kann, dass die wichtigste Komponente in der Vater-Sohn-Beziehung die Zuneigung und nicht die Männlichkeit ist. (Vgl. Real, 2001, S. 143-148)

Resümierend kann man feststellen, dass sowohl Mutter als auch Vater bei der psychi-schen Organisation des Kindes unterschiedliche Rollen einnehmen, die aber dennoch nicht klar unterscheidbar sind. Beide Elternteile sind in ihren diversen Rollen bedeut-sam für die Entwicklung der Selbstrepräsentanzen. Beim gesunden Kind etablieren sich die Eltern als unabhängige Objektrepräsentanzen. Wenn dies nicht gelingt, wird eine der primären Bezugspersonen Teil der verzerrten Selbstrepräsentanz des Kindes. (Vgl. Fo-nagy & Target, 2005, S. 81 und 84-85)