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Ein moderner Qualitätsbegriff

Im Dokument Masing Handbuch Qualitätsmanagement (Seite 77-80)

Slowware Quickware

2.3.3  Ein moderner Qualitätsbegriff

Die in den vorangegangenen Abschnitten beschriebenen Paradigmenwechsel, Dynamiken und Herausforderungen der Welt 4.0 stellen weitere, neue Anforderungen an einen modernen Qualitätsbegriff. Die etablierte Definition der ISO 9000­Familie ist dabei nicht falsch oder überflüssig geworden, reicht aber nicht mehr aus. Qualität hat in der Welt 4.0 mehr Facetten:

Minimum Viable Product (MVP): Qualität ist auch dann gegeben, wenn ein Produkt einzelne oder viele Anforde­

rungen nicht erfüllt, solange es fundamentale Funktio­

nen erfüllt. Das gilt besonders bei sehr komplexen Pro­

dukten, die sehr viele Funktionen und Eigenschaften haben und weitere haben könnten.

Qualität der Perzeption: Die individuelle Perzeption der Qualität eines Produktes oder seiner Merkmale kann sich von der objektiviert messbaren Qualität unter­

scheiden. Die Perzeption lässt sich in einem gewissen Rahmen durch das anbietende Unternehmen lenken.

Emotionale Qualität: Qualität hat individuelle emotiona­

le Komponenten, die weitgehend oder ganz unabhängig von inhärenten Merkmalen sein können. Dazu kann auch das Image eines Produktes oder des es anbieten­

den Unternehmens gehören.

Ein neuer Qualitätsbegriff, den viele Qualitätsmanager noch gar nicht kennen oder nicht als einen solchen er­

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2 Die Entwicklung des Qualitätsmanagements im 20. und 21. Jahrhundert

Tabelle 2.4 Übersicht über die Herausforderungen der Welt 4.0 für das Qualitätsmanagement

Phänomen Ausprägung Herausforderung

Die Automatisierung schreitet voran und kann jetzt nahezu alle Tätigkeitsbereiche um­

fassen.

Über Jahrzehnte haben wir vornehmlich das Handling, die Bear­

beitung und den Transport von Gütern automatisiert. Inzwischen hat auch die Dienstleistung einen hohen Automatisierungsgrad und die Automatisierung stößt in immer mehr Tätigkeiten vor, darunter planerische und kreative Tätigkeiten.

Wie nutzen wir die Möglichkeiten der Automatisierung in der Qualitäts­

sicherung?

Lernende Künstliche Intelli­

genz (KI) steuert Prozesse. Lernende KI verändert immer wieder oder gar kontinuierlich, für Menschen nicht mehr nachvollziehbar, ihre Entscheidungs­

findungsalgorithmen oder gar die Entscheidungsfindungs­

prämissen.

Wie validieren, verifizieren und zerti­

fizieren wir Prozesse und Systeme, deren Entscheidungsfindungen wir nicht mehr verstehen und nachvoll­

ziehen können?

Qualität braucht Stabilität, doch die Welt 4.0 ist geprägt durch ständige Veränderung.

Die klassischen Qualitätsmanagementansätze sind in und für Zeiten stabiler Prozessorganisationen entstanden. Innovations­

management und Qualitätsmanagement gelten als inkompatibel.

In der Welt häufigerer, tiefgehenderer und schneller um sich greifender Veränderung gilt es, die Balance zwischen notwen­

diger Stabilität und notwendiger Veränderung neu zu finden.

Wie finden wir die richtige Balance zwischen notwendiger Veränderung und notwendiger Stabilität?

Das hohe Maß an Verände­

rung hat einen Schub von Agilisierung ausgelöst.

Agilisierung ist eine plausible Antwort auf die Veränderungs­ und Innovationsdynamiken. Agilität hat es immer gegeben, wir sind aber jetzt noch besser darin geworden, weil wir es müssen. Das QM weiß meistens noch nicht mit dieser Dynamik umzugehen.

Wie machen wir das QM selbst agil und wie kann das QM das agile

Die Unsicherheit der Menschen über ihre berufliche Zukunft steigt. Immer häufiger und immer schneller müssen sie neuartige Rollen und Funktionen einnehmen. Der Anteil von Zeitarbeit und (schein)selbstständiger Arbeit steigt anteilig. Es entsteht eine Zweiklassengesellschaft von Erwerbstätigen.

Wie gestalten wir die Organisation so, dass ihre Menschen Qualität erzeugen wollen, können und dürfen?

Wir kennen etablierte Produk­

tentstehungsprozesse für Slowware und erfinden jetzt neue für Quickware.

Nahezu alle Produkte sind heute eine Mischung aus Hardware/

Dienstleistung und Software. Einige (= Slowware) werden dem Kunden langsam ausentwickelt übergeben, andere (= Quickware) werden in Hochgeschwindigkeit entwickelt, dem Kunden unfertig übergeben und im Betrieb verbessert (Update/Upgrade/Patch).

Mit welchen Methoden können wir die Qualität von Quickware sichern?

Alles ist mit allem vernetzt. Noch nie waren Unternehmen, Menschen und Maschinen in so großen Netzwerken so komfortabel miteinander verbunden.

Qualität und Innovation entstanden immer schon aus der Ver­

netzung. Nun aber sind die Netzwerke viel fluider geworden, sie

„wabern“. Das Unternehmen und die klassische Zulieferkette sind nicht mehr die einzig praktikable Möglichkeit, Arbeitsteilung zu organisieren.

Wie können wir in wabernden Netzen Qualitäts­ und Innovationsfähigkeit herstellen? Wie können wir Möglich­

keiten der Vernetzung nutzen?

Alles ist transparent – und dennoch grassiert die Täuschung.

Alles ist recherchierbar. Über Produkte, Hersteller, Kunden etc.

herrscht große Transparenz. Es stehen große Datenmengen zur Verfügung. Dennoch erkennen wir oft den Wald vor lauter Bäumen nicht. Jeder schafft sich seine eigene Wahrheit. Fakten werden zu Meinungen, Meinungen zu Fakten erklärt. Qualität und Innovation werden häufig nur noch simuliert. Es ist viel Täuschung im Spiel. Wir legen im Liefernetz die echten Fehler und echten Ursachen nicht offen und können sie deshalb auch nicht abstellen.

Wie leben und erhalten wir Quali­

tätsehrlichkeit?

Es herrschen gleichzeitig Regulierungslücken und Überformalisierung vor.

Die technologische und gesellschaftliche Entwicklung schreitet so schnell voran, dass Regelwerke, Normen und Gesetze nicht mehr mithalten. Es gibt eine Lücke und Verzögerung bei der Regulierung. Gleichzeitig steigt die Zahl der Regeln und Regel­

werke, die immer häufiger ungeeignet, einander widersprüchlich oder sogar paradox sind. Märkte aber auch Organisationen sind zunehmend überformalisiert. Viele Unternehmen sind nur noch unter Umgehung und Verletzung von Regeln ökonomisch liefer­

fähig. Das erzeugt eine Sozialisation zum Regelbruch.

Wie gestalten wir Management­

systeme, die den formalen Anforde­

rungen gerecht werden und funktio­

nieren?

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2.3 Das Heute und das Morgen: Herausforderungen und Paradigmenwechsel im Qualitätsmanagement

kannt haben, ist das Minimum Viable Product, abgekürzt MVP (englisch ausgesprochen).

Ein Minimum Viable Product (MVP), übersetzbar mit „minimal (über)lebensfähiges Produkt“, ist ein Produkt, das im Rahmen seiner Entwicklung gerade den Reifegrad überschritten hat, die für den Nutzer relevante(n) Basisfunktionalität(en) zu erfüllen.

Die Bezeichnung MVP stammt aus dem Lean­Startup­An­

satz und wird Frank Robinson, dem Chef (CEO) einer US­

amerikanischen Unternehmensberatung, zugeschrieben.

Lean Startup ist das Prinzip der Entwicklung eines Ge­

schäftsmodells oder einer Produktinnovation, bei dem die Entwickler so schnell wie möglich ein MVP auf Kunden­

und Marktakzeptanz testen und je nach Feedback iterativ weiterentwickeln. Sie stellen die Entwicklung ein, wenn vorab formulierte Nutzen­ und Wachstumshypothesen im Marktexperiment trotz Iteration widerlegt werden. Eric Ries, wie Robinson im Umfeld der Startup­Szene des Silicon Valley aktiv, hat das Prinzip analysiert, selbst an­

gewandt und dann beschrieben. MVP ist auch ein Begriff für Qualität oder gar ein Qualitätsbegriff, allerdings ein Begriff, der den Qualitätsmanagern oft gar nicht bekannt ist, den sie nicht in den Kontext von Qualität stellen oder den sie sogar als Begriff für Nicht­Qualität einstufen. Bei vielen widerspricht dieses Minimalkonzept sogar ihrem Verständnis von Qualität. Dadurch wird auch deutlich, wie sehr sich die heutige amerikanisch­asiatische Innova­

tions­ und Qualitätskultur von der deutschen unterschei­

det. Gemessen an den Erfolgen US­amerikanischer und chinesischer Unternehmen scheint deren Kultur die für die Welt 4.0 geeignetere zu sein.

Zusätzlich zum Aushandeln dessen, was konkret für ein Unternehmen und seine Produkte oder Dienstleistungen Qualität ist, ist für das Qualitätsmanagement und für die Qualität von zentraler Bedeutung, welche Assoziationen und Wirkungen einerseits die Qualität selbst und anderer­

seits die ihr zugehörigen Begriffe auslösen, also welche Perzeption10 sie erfahren. Wie wirken der Begriff Qualität und die auf ihn gestützten verwandten Begriffe Qualitäts­

management und Qualitätssicherung auf Kunden, aber auch auf Führungskräfte und Mitarbeiter?

Die Kundenperzeption von Qualität wird von vielen Fakto­

ren beeinflusst, die dem Produkt nicht innewohnen: das Image des Unternehmens, die Präsentation des Produktes und der Sozialstatus, den es verleiht. Wie Mitarbeiter und

10 Perzeption heißt Wahrnehmung und kann sowohl den Prozess des Wahr­

nehmens als den Inhalt der Wahrnehmung bezeichnen. Bezüglich Qualität geht es eher um letzteres.

Führungskräfte ihn wahrnehmen, fußt aber zusätzlich auch darauf, wie sie das Qualitätsmanagement, seine Re­

gelwerke und Methoden sowie das Personal des Qualitäts­

managements wahrnehmen. Perzeption basiert zu einem Gutteil auf Emotionen. Das kann auch dazu führen, dass Qualitätsentscheidungen von Kunden hochgradig irratio­

nal erscheinen, wählen sie doch oft nicht die Lösung, die am besten funktionsbezogene Anforderungen erfüllt, son­

dern durchaus die, die bei vergleichsweise schlechterer Anforderungserfüllung ihre emotionalen Bedürfnisse bes­

ser befriedigt. Doch ist das nicht letztlich auch als (emo­

tionale) Anforderung interpretierbar?

Eine weitere Dimension der Qualität ist gesamtgesell­

schaftlicher Art. Unsere Erde hat in vielerlei Hinsicht be­

grenzte Ressourcen und unser Lebensraum ist verletzlich.

Die Verschwendung von Ressourcen und die Vergiftung und sonstige Beeinträchtigung des Lebensraums von Menschen, Flora und Fauna sind für einzelne Menschen, Teile regionaler Gesellschaften und letztlich für uns alle, die globale Gesellschaft, lebensgefährlich und überlebens­

gefährdend. Wie ist es um die Qualität von Produkten und Dienstleistungen bestellt, die zwar Kunden real nutzen und mit denen sie ihre emotionalen Bedürfnisse befrie­

digen, dies aber um den Preis, dass andere dadurch ge­

schädigt werden? Und ist das nicht schlimmer und ver­

werflicher, wenn eine gleich gute Anforderungs­ und Bedürfniserfüllung mit Produkten und Dienstleistungen möglich wäre, die nicht oder signifikant weniger schaden?

Nun ließe sich sagen, dass dazu ja der Gesetzgeber, wirk­

mächtige Verbände oder Kunden selbst diesbezügliche Anforderungen formulieren könnten. Dann funktioniert die klassische Definition wieder: Qualität ist der Grad der Anforderungserfüllung. Derartige Anforderungen formu­

lieren die genannten Gruppen ja auch in inzwischen ganz ansehnlichem Umfang und durchaus unter dem Druck von Konsumenten und gesellschaftlichen Gruppen. Doch in der Realität haben Regelgeber, darunter auch die Ge­

setzgeber, keine Chance, ein in allen Aspekten nachhalti­

ges Wirtschaften einzufordern. Dafür ist die Lage insge­

samt zu komplex und daher in Teilen auch noch nicht ausreichend verstanden. Oft entstehen ungewollte negati­

ve Effekte gut gemeinter Interventionen. Zudem gibt es zu viele Ziel­ und Interessenkonflikte. Immer wieder weichen Gesetzgeber bestehende Regeln auf oder verweigern neue Regelsetzungen, weil sie Interessen der einen Klientel zu Lasten der anderen begünstigen, weil sie Wirtschafts­

wachstum nicht gefährden wollen oder aus anderen poli­

tischen und sonstigen Motiven. So bestehen auch Anfor­

derungen an die Qualität, die sogar für einzelne Gruppen oder die Gesamtgesellschaft schädlich sein können. Ist dann Anforderungserfüllung wirklich Qualität?

Auch viele Konsumenten entscheiden und handeln nicht nachhaltig. Manche aus Unwissenheit, viele gegen besse­

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2 Die Entwicklung des Qualitätsmanagements im 20. und 21. Jahrhundert

res Wissen und zum eigenen Vorteil, wieder andere sind in Lebensumständen, die eine Wahrnehmung dieser Ver­

antwortung erschweren oder unmöglich machen. Für die Gesellschaft ist die Gesamtbilanz aus Nutzen und Wert­

schöpfung sowie Schaden und Ressourceneinsatz rele­

vant, die den kompletten Lebenszyklus, von der Idee bis zur Entsorgung, umfasst. Allerdings gibt es keinen Kon­

sens darüber, wie das eine oder das andere aus gesell­

schaftlicher Sicht zu bewerten ist.

Sowohl Konsumenten als auch Hersteller haben weitrei­

chende Verantwortung. Es liegt in der ethischen Verant­

wortung von Konsumenten, Produkte zu fordern und zu bevorzugen, deren Bilanz für die Gesellschaft akzeptabel ist. Es gehört zur ethischen Verantwortung der Hersteller und Anbieter, die gesellschaftliche Gesamtbilanz ihrer Produkte und Dienstleistungen zu verbessern, mehr noch zu optimieren. Natürlich verstärkt das bestehende und schafft neue Zielkonflikte. Wäre es leicht oder unstrittig, müssten wir nicht darüber reden. Dann wäre diesbezüg­

lich vieles in Ordnung.

Die Entwicklung einer neuartigen Qualitäts- und Innovationskultur sowie die Berücksichtigung von irrational wirkenden, wahrnehmungsabhän-gigen, emotionalen Aspekten stellen die Tauglich-keit des klassischen Qualitätsbegriffs der ISO 9001-Familie in Frage:

ƒ Das Prinzip der Inhärenz, dass Qualität nur in-newohnende Merkmale umfasse, ist zu stark einschränkend und für viele heutige Produkte nicht mehr tauglich. Eine moderne Qualitäts-definition darf sich nicht auf inhärente Merk-male beschränken.

ƒ Das Prinzip der Anforderungserfüllung ist zu-mindest für Innovationen bestenfalls einge-schränkt tauglich, wenn diese neue Bedürfnis-se adressieren oder bestehende BedürfnisBedürfnis-se neu adressieren, zu denen Nutzer keine Anfor-derungen formulieren können. Eine moderne Qualitätsdefinition darf sich nicht auf Anforde-rungen beschränken, sie muss auch Bedürfnis-se adressieren.

ƒ Bezogen auf die Qualität gibt es eine globale ethische Dimension, die über Anforderungs- und Bedürfniserfüllung weit hinausgeht. Eine moderne Qualitätsdefinition muss die gesell-schaftliche Gesamtbilanz berücksichtigen.

Doch wie kann  – gestützt auf diese Betrachtungen und Schlussfolgerungen  – eine moderne Qualitätsdefinition aussehen? Ein pragmatischer Ansatz ist, die bestehende

Definition zu nehmen und sie so anzupassen, dass sie die drei vorangehend hergeleiteten Aspekte berücksichtigt.

Dieser Prozess erfolgt in folgenden Stufen:

1. Ausgangssatz:

Qualität ist der Grad, in dem ein Satz inhärenter Merk­

male Anforderungen erfüllt.

2. Erste Iteration – Wegfall „inhärent“:

Qualität ist der Grad, in dem ein Satz von Merkmalen Anforderungen erfüllt.

3. Zweite Iteration – Berücksichtigung der Bedürfnisse:

Qualität ist der Grad, in dem ein Satz von Merkmalen Anforderungen und Bedürfnisse erfüllt.

4. Dritte Iteration  – Berücksichtigung der gesellschaft­

lichen Gesamtbilanz (Nachhaltigkeit):

Qualität ist der Grad, in dem ein Satz von Merk­

malen Anforderungen und Bedürfnisse erfüllt so­

wie eine günstige Gesamtbilanz für die Gesellschaft erzeugt.

Anmerkung: Günstig bedeutet sowohl eine weniger ne­

gative als auch eine stärker positive Bilanz zu schaffen.

2.3.4  Wie kann sich das

Im Dokument Masing Handbuch Qualitätsmanagement (Seite 77-80)