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Benedikt Sommerhoff

Im Dokument Masing Handbuch Qualitätsmanagement (Seite 60-63)

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2.1 Qualität und Qualitäts management

2.1  Qualität und Qualitäts-management

Qualität ist das Kernthema des Wissens­ und Fachgebiets Qualitätsmanagement. Was Qualität ist, ist dessen Kern­

frage. Qualitätsmanagement ist das Management der Qua­

lität. Dazu bedarf es vieler Stellhebel und deshalb auch zahlreicher Kompetenzen aus verschiedenen Wissensge­

bieten.

2.1.1 Die Kernfrage: Was ist Qualität?

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Der Begriff Qualität bereitet einigen Aufwand für dieje­

nigen, die sich beruflich mit ihm auseinandersetzen. Er ist im allgemeinen Sprachgebrauch positiv belegt, jedoch existieren auch Kombinationen mit negativ belegten Be­

griffen wie „neue Qualität des Terrors“ oder „neue Quali­

tät der Zerstörung“. Auch hier zeigt allerdings die Hinzu­

nahme des Begriffs Qualität die Steigerung von etwas an.

Im Alltag ist eine vielschichtige Verwendung des Begriffs Qualität festzustellen. Er hat mehrere Arten von Bedeu­

tungen. Zum einen ist Qualität Güte, was sich auch als Klasse, Niveau und Wert ausdrücken lässt. Qualität in ei­

nem solchen Verständnis geht immer mit einer positiven Beurteilung oder Bewertung einher. Darüber hinaus ist Qualität Eigenschaft, synonym auch Eigenart, Eigenheit, Eigentümlichkeit, Art, Beschaffenheit oder Zustand. Qua­

lität ist im Alltag und für die Konsumenten etwas Posi­

tives und Erstrebenswertes. Auch für ihre Ersteller ist sie positiv konnotiert, weil sie eine Quelle von Arbeitsstolz und die Grundlage für Anerkennung ist.

Eine intensive Auseinandersetzung mit dem Begriff Quali­

tät findet in vielen Fachgebieten statt. Gute Beispiele sind die Pädagogik, die Medizin und die Gesundheits wissen­

schaft en sowie die Agrarwissenschaften. Sie sind Teil ei­

ner Diskussion in Gesellschaft und Politik, allerdings nicht um den Begriff als solchen und seine Defini tion, son­

dern um das, was Qualität der Altenpflege oder der Ge­

sundheitsversorgung, Lebensmittelqualität oder Qualität der Bildung ist. Diese Diskussionen stoßen stets an ethi­

sche Grundsatzfragen. Ein Beispiel dafür ist die Diskussi­

on um das Tierwohl in der industriellen Landwirtschaft.

Bereits in den Sechzigerjahren hat Avedis Donabedian für Medizin und Pflege eine Definition beigesteuert, die ins­

besondere in den Gesundheits­ und Sozialwissenschaften

1 Dieser Abschnitt basiert auf dem Kapitel „Ein Qualitätsleitbild für Deutsch­

land“ aus der 6. Auflage dieses Buches (Sommerhoff 2014) und wurde um Aspekte aus (Sommerhoff 2020) erweitert.

den Qualitätsbegriff nachhaltig geprägt hat (Donabedian 1966). Er unterschied zwischen

Strukturqualität, d. h. der Qualität der Rahmenbedin­

gungen und Ressourcen,

Prozessqualität, d. h. der Qualität der Leistungserbrin­

gung und damit des professionellen Handelns,

Ergebnisqualität, d. h. der Güte dessen, was letztlich entsteht.

Idealerweise lässt sich in konkreten Organisationen und Prozessen zeigen, dass und wie stark die Strukturqualität auf die Prozessqualität wirkt, und wie die beiden wieder­

um auf die Ergebnisqualität wirken. Zudem hat Dona­

bedian am Beispiel der Pflege Qualität als „Übereinstim­

mung zwischen dem Pflegeergebnis und den zuvor formulierten Zielen“ deklariert.

David Garvin war bereits Professor an der Harvard Busi­

ness School, als er 1984 einen Artikel über den Begriff Qualität veröffentlichte, der bis heute beachtenswert und bezüglich des Qualitätsbegriffs inspirierend und klärend ist (Garvin 1984). Allerdings befasst sich sein Beitrag nicht explizit mit Dienstleistungen. Einige, aber nicht alle seiner Betrachtungen sind dennoch darauf übertragbar.

Er identifiziert fünf verschiedene Ansätze, um Qualität zu definieren. Er verwendet den Begriff „approaches“, der im Folgenden mit „Ansätzen“ übersetzt wurde, der allerdings ebenso trefflich mit „Annäherungen“ übersetzt werden kann. Garvin beschreibt folgende fünf Ansätze der Quali­

tätsdefinition:

1. Philosophischer Ansatz (bei Garvin „The Transcendent Approach“, d. h. transzendentaler Ansatz)

2. Produktbasierter Ansatz („The Product­based Ap­

proach“)

3. Nutzerbasierter Ansatz („The User­based Approach2“) 4. Produktionsbasierter Ansatz („The Manufacturing­

based Approach“)

5. Wertbasierter Ansatz („The Value­based Approach“) Tabelle 2.1 stellt Garvins Definitionen sowie seine zentra­

len ergänzenden Betrachtungen kurz und übersichtlich dar.

Mittlerweile dominiert im Qualitätsmanagement eine De­

finition, die die ISO 9000­Familie seit Jahrzenten für das Qualitätsmanagement bereitstellt. Garvin hat sie als pro­

duktionsbasiert charakterisiert. Wenn wir allerdings da­

von ausgehen, dass bedeutende Kunden bedeutende An­

forderungen formulieren, umfasst sie auch Aspekte der Nutzerorientierung.

2 Garvin spricht im Artikel von user (Nutzer, Anwender) und consumer (Konsument, Verbraucher), interessanterweise jedoch nicht von customer (Kunde).

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2 Die Entwicklung des Qualitätsmanagements im 20. und 21. Jahrhundert

Definition des Begriffs Qualität aus der ISO 9000-Familie:

„Qualität ist der Grad, in dem ein Satz inhärenter Merkmale Anforderungen erfüllt.“

Anmerkung: Inhärent heißt innewohnend.

Diese Definition leistet eine wichtige Abgrenzung. Ist sie jedoch auch ausreichend klar? Fachliche oder wissen­

schaftliche Begriffsdefinitionen sind nicht immer alltags­

tauglich, nicht einmal unternehmenstauglich. Die Zweifel an dieser Klarheit und Gebrauchstauglichkeit hatten den Lehrstuhl Qualitätswissenschaften der TU Berlin 2012 dazu veranlasst, unter fachöffentlicher Beteiligung eine neue Definition finden zu wollen. Die damalige über ein Jahr geführte Online­Diskussion zeigte allerdings die Schwierigkeiten dieses Unterfangens auf (Jochem 2013).

Im Ergebnis führte sie nicht zu einer neuen, im Fachge­

biet akzeptierten Definition.3

Letztlich ist in der Kunden­Lieferanten­Beziehung die ISO­

Definition von sehr geringer praktischer Bedeutung. Ver­

mutlich würde eine bessere Definition daran gar nicht viel ändern, denn zwischen Kunde und Lieferant muss mit Blick auf die Kundenzufriedenheit und den Markerfolg eine spezifische Konkretisierung des Qualitätsbegriffs für das konkrete Produkt stattfinden. Kunde und Lieferant (auch Dienstleister) müssen aus ihrer Perspektive jeweils folgende Fragen klären:

3 Er ist schwer, diese Begriffe ohne Bedeutungsverlust ins Deutsche zu übersetzen. Sowohl „value“ als auch „worth“ haben ein Spektrum von Bedeutungen. So ist hier, um angemessen zwischen „value“ und „worth“

unterscheiden zu können, „value­based“ mit „wertbasiert“, „value“ aber mit „Nutzen“ übersetzt. Nutzen kann wiederum auch mit „use“ übersetzt werden (siehe auch: „user­based“ = „nutzerbasiert“).

Welches ist die konkret von mir als Lieferant eingefor­

derte Qualität und welche Merkmale beschreiben sie?

Was ist die konkret von mir als Kunde und von meinem Nutzer benötigte Qualität und welche Merkmale be­

schreiben sie?

Im Geschäftsleben ist Qualität demnach nicht Definitions­

sondern Verhandlungssache. Die in der serienprodu­

zierenden Industrie gebräuchlichen Qualitätssicherungs­

vereinbarungen sind Vertragsdokumente, die den Stand der Verhandlung abbilden. Allerdings gibt es bei großer Machtasymmetrie keine Praxis der Verhandlung auf Au­

genhöhe. Stattdessen findet oft eine einseitige Festlegung der Verträge statt. Da Qualität aber Verhandlungssache ist, ist das Anforderungsmanagement einer der wesent li­

chen Bausteine des Qualitätsmanagements. Anforderungs­

management bedeutet die Übersetzung der aus vielen Quellen stammenden Anforderungen in Qualitätsmerk­

male des Produkts oder der Dienstleistung sowie der Pro­

zesse, die sie erzeugen. Sie sind damit maßgeblich für je­

des Qualitätsmanagementsystem.

Das Anforderungsmanagement muss Folgendes berück­

sichtigen:

Anforderungen an das Produkt oder die Dienstleistung

Anforderungen an die Leistungsprozesse

Anforderungen an unterstützende Prozesse und Füh­

rungsprozesse

Anforderungen an die Organisation

Anforderungen an das Verhalten von Repräsentanten und Mitarbeitern des Unternehmens

Anforderungen werden von Kunden, Behörden und Ge­

setzgebern, Branchenverbänden und sonstigen Organi­

sationen formuliert. Sie sind in Verträgen, Gesetzen, Ver­

ordnungen, Branchenstandards und Normen schriftlich Tabelle 2.1 Fünf Ansätze der Qualitätsdefinition nach Garvin

Ansatz Bedeutung/Definition von Qualität Ergänzende Betrachtungen philosophisch

(„ transzendental“) immanente Exzellenz („innate excellence“)

„nicht analysierbare Eigenschaft, die wir nur durch Erfahrung erkennen“

Dieser Qualitätsbegriff ist vergleichbar mit dem Attribut Schönheit in Platons Diskussion der Schönheit. Es ist ein Begriff, der nicht definiert werden kann.

produktbasiert Je mehr, desto besser. Güter können je nach Menge/Ausmaß des gewünschten Attributs, das sie besitzen, in eine Rangfolge gebracht werden.

nutzerbasiert Qualität liegt im Auge des Betrachters. Man geht von einer eigenen („idiosyncratic“) und persönlichen Auffassung („view“) von Qualität aus, die hochgradig subjektiv ist.

produktionsbasiert Konformität mit Anforderungen („conformance

to requirements“) Hier ist der primäre Fokus betriebsintern („internal“). Die Betonung liegt auf dem Zuverlässigkeitsingenieurwesen („reliability enginee­

ring“) sowie der Statistischen Prozessregelung zur Reduktion von Abweichungen und Prozessstreuungen.

wertbasiert Ein Qualitätsprodukt ist eines, das Leistung zu einem akzeptablen Preis oder Konformität („conformance“) zu akzeptablen Kosten bietet.

Qualität, ein Maß („measure“) für Exzellenz, wird gleichgesetzt mit Nutzen („value“), einem Maß für Wert („worth“).3

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2.1 Qualität und Qualitäts management

niedergelegt oder die Unternehmen erheben sie dort, wo der Kunde sich an der Vertragsgestaltung nicht beteiligt, wie im Massengeschäft mit Endverbrauchern, mittels der Werkzeuge der Marktforschung. Darüber hinaus gibt es auch eigene Ansprüche, Ambitionen und Anforderungen der Unternehmer, Manager und Mitarbeiter an das, was Qualität sein soll.

Die Bedeutung der Anforderungen für die Qualität ist ein Grund dafür, warum das Qualitätsmanagement ein so aus­

geprägt regelwerksdominiertes Fachgebiet ist, denn spe­

zifische Anforderungen sind in Verträgen und Lasten­

heften, generische Anforderungen häufig in Gesetzen, Produkt­ und Managementsystemnormen dargelegt.

Nach einer Vorstellung der historischen Entwicklung des Qualitätsmanagements und der anstehenden Paradigmen­

wechsel erfolgen in Abschnitt 2.3.3 Überlegungen zu ei­

nem neuen, modernen Qualitätsbegriff.

2.1.2  Qualitätsmanagement als Wissens- und Fachgebiet

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Das Qualitätsmanagement ist eine Disziplin, die sich auf viele Wissensgebiete aller Wissenschaftszweige stützt. Im Kern steht unverzichtbar das Produkt­ und Prozesswis­

sen, also das Wissen um die Produkte des Unternehmens, seien es physische Produkte oder Dienstleistungen. Das

4 Dieser Abschnitt wurde mit kleineren Anpassungen aus (Sommerhoff 2020) entnommen.

dafür notwenige Fachwissen bezieht sich je nach Branche und Unternehmen auf Technologie, Material, Fertigungs­

und Dienstleistungsprozesse, sung, Medizin, Handel, Lo­

gistik und vieles mehr.

Qualitätsmanagement greift tief in die Strukturen und Kulturen des Unternehmens ein. Dafür braucht es Wissen über Mensch und Organisation, darunter Organisations­

entwicklung, Führung und Management sowie Verhalten.

Dazu bedarf es eines Grundwissens über Psychologie, So­

ziologie, Pädagogik und Recht.

Nicht zuletzt gibt es qualitätsmanagement­ und qualitäts­

sicherungsspezifisches Wissen. Das ist für das Qualitäts­

management das Wissen über allgemeine und branchen­

typische Regelwerke, Methoden und Werkzeuge.

Bild 2.1 zeigt die relevanten Wissensgebiete entlang der Klassifizierung FOS (Fields of Science and Technology) der OECD (FOS 2007). Je nach Unternehmen und Branche sind im inneren Kreis andere Wissensgebiete oder auch Wissenschaftsgebiete relevant. Auch in den äußeren Krei­

sen gibt es branchenspezifisches Wissen, grundsätzlich steht steht dort allerdings auch ein branchenübergreifen­

des, universales Wissen zur Verfügung.

Das Qualitätsmanagement nutzt also ein Portfolio von Teilgebieten aus allen Wissensgebieten. Die Qualitätswis­

senschaft ist eine Querschnittswissenschaft, die Erkennt­

nisse aus vielen, wenn nicht allen Wissenschaftsgebieten verwendet. Sie muss deshalb hochgradig interdisziplinär angelegt sein, denn kein Mensch kann all diese Wissens­

gebiete allein überblicken, geschweige denn beherrschen.

Allerdings ist es auch nicht erforderlich, die gesamte Psy­

Fachwissen

QM-1 Naturwissenscha�en 2 Technische Wissenscha�en

3 Humanmedizin & Gesundheitswissenscha�en 4 Agrarwissenscha�en & Veterinärmedizin 5 Sozialwissenscha�en

6 Geisteswissenscha�en

2

branchenübergreifend branchenspezifisch

Mess-technik

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Psychologie, Soziologie Rechtswissenscha�en

Kommunika�ons-wissenscha�en

Gesund- heits-schutz

Wissen über

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