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MCS Patienten

4.5 Diskussion der Ergebnisse zur N400

4.5.1 Die Charakteristika der N400

Die in dieser Studie betrachteten Charakteristika der N400 waren, wie für die P3 auch, die Latenz und der Frequenzbereich in dem die Komponente auftritt. Entgegen der Charakteristika der P3 ergaben sich für die N400 durchaus signifikante Unterschiede zwischen den einzelnen Gruppen bezüglich der Latenz. In Bezug auf den Frequenzbereich ergaben sich auch für die N400 keine signifikanten Unterschiede.

Im Gruppenvergleich der N400 fanden sich nun die eigentlich für die P300 erwarteten Latenzunterschiede. In diesem Fall scheint es tatsächlich so zu sein, dass mit steigender Beeinträchtigung der Patienten die Generierung der N400 mehr Zeit in Anspruch nimmt. So lag die N400 der Kontrollpersonen im Mittel bei ca. 450 ms, für die MCS-Patienten bei etwa 600 ms und für die VS Patienten bei etwa 680 ms.

Dabei kann aufgrund von einer Reihe von Gründen davon ausgegangen werden, dass es sich hierbei um eine tatsächliche Latenzverzögerung der N400 handelt und nicht um Artefakte in den Gruppen der Patienten, die zufällige signifikant werden.

Zunächst einmal sind die t-Wert-Skalogramme der N400 auf die gleiche Art und Weise zustande gekommen, wie die t-Wert-Skalogramme der P300. Im P300 Paradigma wurde dabei offenbar durch die tCWT das korrekte EKP zur Darstellung gebracht, da sich hier weder die Frequenz noch die Latenz zwischen den Patientengruppen und der Kontrollgruppe unterscheidet. Man kann also davon ausgehen, dass die Auswertung der Daten durch die tCWT prinzipiell funktioniert hat.

Des weiteren ist davon auszugehen, dass, sollte es sich bei den späten, durch die tCWT als signifikant klassifizierte und von daher als bedeutsam identifizierte Unterschiede im Signal

der Patienten, tatsächlich um Artefakte handeln, sie sich nicht nur in der Latenz, sondern auch in der Frequenz vom gesuchten EKP unterscheiden würden. Dies wäre z.B. bei durch Muskelartefakte, Artefakte durch Zahnprothesen, Bewegungsartefakte sowie bei EKG-Einstreuungen oder Wechselstromstörungen (Netzbrummen) verursachten Unterschiede der Fall. Diese sind deutlich höher in ihrer Frequenz als die N400. Artefakte durch Atembewegungen oder Schwitzen (elektrodermale Aktivität) entsprechen dagegen großen langsamen Schwankungen der Baseline und sind in ihrer Frequenz deutlich langsamer als die gesuchte Komponente. Einige Artefakt liegen dagegen durchaus im Frequenzbereicht der N400. Dies sind Artefakte durch Augenbewegungen (Lidbewegungen (‚Blink’) und Bulbusbewegungen) sowie Pulswellenartefakte. Blinkartefakte lassen sich aus zwei Gründen ausschließen. Erstens, wenn der Blink ‚reizgebunden’ durch das letzte Wort auftritt, dann erzeugt er eine Welle mit Peak im Zeitbereich um die 300 ms. Zweitens verursacht ein Blink eine positive Welle, keine negative. Tritt er dagegen nicht reizgebunden auf, so wäre eine zufällige Häufung von Blinks im untersuchten Zeitbereich des Signals äußerst unwahrscheinlich. Hinzu kommt, dass Durchgänge mit offensichtlichen Blink-Artefakten von der weiteren Verarbeitung ausgeschossen wurden.

Artefakte, welche durch Bulbusbewegungen entstehen, variieren, je nach Geschwindigkeit und Größe der Bulbusbewegung in ihre Form und Amplitude. Meist ähneln sie Wellen im Theta oder Delta Bereich. Die Augenaktivität der für diese Studie untersuchten Patienten wurde generell für jede Ableitung dokumentiert. Dabei ist es mehrheitlich so, dass die Patienten entweder keine Augenbewegung aufwiesen oder aber über den gesamten Zeitraum recht gleichmäßige Augenbewegungen zeigten (rolling-eyes). In seltenen Fällen blieben von solchen Patienten keine für die EKP Analyse verwertbaren Durchgänge. In allen anderen Fällen wurden nur, wie auch schon bei den Blinks, Artefakt freie Durchgänge zur weiteren Auswertung zugelassen.

Pulswellen verursachen ebenfalls negative Wellen im Frequenzbereich der N400. Diese sind in der Amplitude eher gering und im meist großamplitudigen EEG von Patienten kaum auszumachen. Dennoch treten Pulswellen höchstens zufällig in der relevanten Epoche nach dem Trigger auf. Ein zeitlich stabiler Abstand zum Reiz ist von demnach extrem unwahrscheinlich. Von daher ist anzunehmen, dass eventuell vorhandene Pulswellen, wie zufälliges Hintergrund-EEG auch, durch das Mittelungsverfahren eliminiert wurden.

Ein letztes Argument dafür, dass es sich bei den abgeleiteten Unterschieden um eine zeitverzögerte N400 handelt, ist die Tatsache des signifikanten Zusammenhangs mit dem Outcome. Würde es sich um durch Artefakte zustande gekommene Unterschiede handeln,

dann wäre es äußerst unwahrscheinlich, dass ausgerechnet jene Patienten welche sich später erholen, diese Artefakte überzufällig häufig produzieren.

Es ist also davon auszugehen, dass es sich bei den abgeleiteten Unterschieden zwischen den Bedingungen tatsächlich um eine zeitverzögerte N400 handelt.

Durch welche Mechanismen die Verzögerung zustande kommt, kann mit Hilfe dieser Studie allerdings nicht geklärt werden. Ebenso bleibt die Frage offen, ob bei beginnender und fortschreitender Erholung der Patienten eine Latenzverkürzung (wieder) eintritt. Zur Klärung dieser Frage können die durchgeführten Follow-up Messungen der damaligen Patienten heran gezogen werden. Mit ihrer Hilfe könnte dabei die Frage geklärt werden, ob die Latenzen während eines unveränderten Zustands des Patienten eher stabil bleiben als wenn sich Patienten erholen. Besonders interessant wäre in diesem Zusammenhang auch die Frage, ob sich Patienten mit kürzeren Latenzen, die also eher normale Latenzen aufweisen, sich vielleicht besser (weiter) erholen als Patienten mit langen Latenzen (Vorausgesetzt der in dieser Studie gemachten Beobachtung, dass sich Patienten mit N400 (fast) immer bis zu einem gewissen Grad erholen. Hierauf wird im nächsten Kapitel noch ausführlicher eingegangen). Ebenso interessant wäre die Frage, ob sich eine eventuelle Latenzverkürzung der N400 vor der ‚sichtbaren’ Erholung der Patienten ableiten ließe. Auch diese Fragestellung ließe sich eventuell mit den bereits vorhandenen Daten der Schmieder Klinik klären, da für einige der Patienten Re-Messungen existieren welche bereits in der Klinik abgeleitet wurden.

4.5.2 Der prädiktive Wert der N400

Im Gegensatz zur P3, erbringt die N400 für beide Auswertverfahren und für beide Patientengruppen signifikante Ergebnisse, bezogen auf den Zusammenhang zwischen dem Vorhandensein einer N400 und einer nachfolgenden Verbesserung im Zustand der Patienten.

Mit Hilfe der visuellen Auswertung wurden dabei weniger Patienten mit N400 identifiziert als durch die tCWT. Die Ergebnisse der visuellen Auswertung sind dabei tendenziell signifikanter und die Predictive Values höher. Die Likelihood Ratios beider Verfahren unterscheiden sich dabei deutlich. Die Likelihood Ratio der tCWT liegt mit 3 bis 4 Punkten zwar etwas besser als bei der P3, befindet sich aber immer noch im ‚schwach relevanten’

Bereich. Dagegen erreicht die Likelihood Ratio der visuellen Auswertung Werte zwischen 18 und 40 und erreicht damit die Bewertung der ‚überzeugenden diagnostischen Evidenz’ (nach Joeschke et al., 1994). Im Idealfall erhöht sich die Wahrscheinlichkeit eines positiven Outcome für einen Patienten mit ableitbarer N400 also um das 40ig-fache!

Positive und Negative Predictive Value liegen für die N400 für beide Auswertverfahren höher als für die P3. Der Positive Predictive Value bewegt sich für die tCWT zwischen 0,5 bis 0,8 für die visuelle Auswertung sogar zwischen 0,8 und 1. Der Negative Predictive Value liegt für beide Auswertverfahren zwischen 0,6 und 0,8.

Die visuelle Auswertung kann damit einen positiven Outcome besser voraussagen als einen negativen. Im Falle einer ableitbaren N400 erholen sich in der MCS Gruppe alle Patienten (100%), in der VS Gruppe alle SHT Patienten (100%) und kein hypoxischer Patient. Dabei muss beachtet werden, dass es in der Gruppe der VS Patienten nur einen Patienten mit Hypoxie gab, bei dem überhaupt eine N400 abgeleitet werden konnte. Dieser Patient konnte sich im weiteren Verlauf nicht erholen. Dagegen erholten sich auch einige Patienten, bei denen in der Klinik keine N400 abgeleitet werden konnte. Mögliche Gründe für die ‚Nicht-Ableitbarkeit’ der N400 werden etwas später noch ausführlicher diskutiert.

Die tCWT identifizierte mehr Patienten mit N400 als die visuelle Auswertung. Im weiteren Verlauf konnten sich viele, aber nicht alle, dieser Patienten erholen. Der Zusammenhang zwischen dem Vorhandensein der N400 und einer späteren Erholung ist von daher in der tCWT Auswertung nicht so stark wie in der visuellen Auswertung. Doch auch hier ist er signifikant.

Wie auch schon im Falle der P3 zeigte die tCWT durchweg die besseren Sensitivitätsmaße als die visuelle Auswertung. Diese liegen dabei für die verschiedenen Gruppen bei jeweils 0,6.

Dagegen erreicht die Specificity erneut in der visuellen Auswertung die besseren Werte und liegt hier zwischen 0,9 und 1.

Es bleibt hier also festzuhalten, dass sich in beiden Verfahren, das Vorhandensein einer früh nach der Schädigung ableitbaren N400, als zuverlässiger Prädiktor (mit p< 0,0001 in der visuellen Auswertung und p = 0,0002 in der tCWT) einer späteren Erholung dargestellt hat.

Dennoch erholten sich auch Patienten, welche zu diesem frühen Zeitpunkt keine N400 gezeigt hatten. Woran könnte das liegen?

Zum einen wurde bei der Auswahl der Patienten zur Studie das Hauptaugenmerk auf deren Zustand gerichtet. Weitgehend unberücksichtigt blieb dabei die Medikation der Patienten zum Zeitpunkt der Ableitung und im Falle von SHT-Patienten, die Lokalisation der Schädigungen.

Beides könnte aber einen erheblichen Einfluss auf die generelle Ableitbarkeit einer N400 gehabt haben.

Zur Standardmedikation von VS und MCS Patienten gehören unter anderem: Sedativa, Anxiolytika, Neuroleptika und Antiepileptika. In der Praxis kommt es durchaus vor, dass ein Patient bis zu fünf verschiedene sedierende Medikamente gleichzeitig bekommt.

Verschiedene Studien konnten allerdings bereits zeigen, dass die N400 bei sedierten Probanden kaum noch ableitbar ist (z.B.Davis et al., 2007). Dieses Ausbleiben der N400 steht dabei aber in keinerlei Zusammenhang zur generellen ‚Funktionstüchtigkeit’ des Gehirns. Es ist in einem solchen Fall demnach nicht auszuschließen, dass sich, nach dem Absetzen oder der Reduktion der sedierenden Medikamente, sowohl die N400, als auch der Patient erholen.

Bei der Auswahl der SHT-Patienten blieb der Läsionsort unberücksichtigt. Eine Studie von Rämä (2010) konnte zeigen, dass Komapatienten mit Schädigungen des Temporallappens praktisch nie eine N400 aufwiesen, während sie bei Patienten deren Läsion nicht im Temporallappen lokalisiert war durchaus aufzufinden war. (Ein Zusammenhang zwischen N400 und Outcome wurde in dieser Studie nicht hergestellt.) In dieser Studie schien es dabei nicht relevant, welcher Temporallappen von der Läsion betroffen war (rechts oder links). Es führte immer zu einem Ausfall der N400. Eine Schädigung des Temporallappens ist dabei bei SHT VS Patienten zwar nicht die Regel, kann aber durchaus vorkommen. So fand Kampfl in 14% seiner untersuchten VS Patienten eine Schädigung der lateralen temporale Region während z. B. Kotchoubey bei fast 100 untersuchten VS und MCS Patienten sogar in 30%

seiner Fälle eine Schädigung des Temporallappens beobachten konnte (Kampfl et al., 1998;

Kotchoubey et al., 2005). Der Temporallappen ist also relevant für die Generierung einer N400, nicht aber für das mögliche generelle Vorhandensein von Bewusstsein. Wie bereits in der Einleitung erwähnt, wurden in diesem Zusammenhang eher der medioparietale Kortex, der posteriore Gyrus cinguli, der Precuneus, der Thalamus und die generelle Vernetzung zwischen den Hirnarealen als bewusstseinsrelevante Strukturen diskutiert. (Laureys et al., 1999; Hattori et al., 2003; Cavanna, 2007). Es ist von daher durchaus denkbar, dass ein SHT-Patient mit einer Läsion des Temporallappens keine N400 aufweist, im weiteren Verlauf aber dennoch das Bewusstsein wiedererlangt. Dies wäre ebenfalls mit der während der Nachuntersuchung gemachten klinischen Beobachtung kompatibel, dass ein Patient welcher sich gut erholte, im Frühstadium der Erkrankung aber keine N400 aufgewiesen hatte, heute als global aphasisch einzustufen ist.

Die N400 scheint demnach ein ‚Tool’ zu sein, mit dessen Hilfe man den Grad der erhaltenen Konnektivität bestimmter Hirnareale (temporo-thalamische Netzwerke nach Ullman, 2001;

Wahl et al., 2008 oder Grossmann et al., 2010) ‚messen’ kann. Sind genügend Verbindungen zwischen den sprachrelevanten Gebieten erhalten geblieben so kommt es zur Ausbildung einer N400. Die Verbindung zum Outcome von Patienten besteht wahrscheinlich in einer erhöhten Wahrscheinlichkeit, dass wenn diese Verbindungen nach wie vor bestehen, auch

andere Hirngebiete Chancen auf eine nach wie vor erhaltene Verschaltung haben und somit die Grundvoraussetzungen zur Wiedererlangung des Bewusstseins gegeben sind.

Ein weiterer Grund, warum sich auch Patienten ohne N400 erholen, könnte der sein, dass diese Patienten auch vor ihrem Unfall keine N400 aufgewiesen hätten. Auch bei Messungen der Normalpopulation findet man immer wieder Probanden, welche nachweislich zu normaler Kommunikation in der Lage sind, und dennoch keine ableitbare N400 aufweisen. Ein möglicher Grund hierfür können geringe Abweichungen in der Topographie des Gehirns der Person sein welche die relevanten Areale eventuell in eine Hirnfalte ‚rutschen’ läßt. Stehen die feuernden Neurone nicht mehr (mehr oder weniger) senkrecht zur Hirnoberfläche, so sind die durch sie produzierten Ströme für das EEG nicht mehr messbar. Dennoch sind sie da und funktionieren normal.

Die ‚Verlagerung’ von Hirngewebe und eine damit einhergehende Verschiebung der Neurone relativ zur Oberfläche kann damit gleichzeitig auch ein weiterer Grund einer nicht ableitbaren N400 bei Patienten sein. Hier kann es durch Hirnschwellung oder durch Läsionen bedingten Deformationen zu einer solchen ‚Verlagerung’ kommen. Auch in diesem Fall könnten aus der Nicht-Ableitbarkeit der N400 keine Rückschlüsse über die erhaltene Konnektivität des Gehirns geschlossen werden.

Zur Verbesserung der Prognose durch die N400 wäre es von daher sinnvoll, all jene Patienten von den Untersuchungen auszuschließen, welche aufgrund von Läsionslokalisation oder Medikation mit größter Wahrscheinlichkeit keine ableitbare N400 aufweisen werden. Dies würde allerdings eine weitere genaue Begutachtung der Patientenakten und der Befunde aus der Bildgebung (CT und MRT) der einzelnen Patienten erfordern. Dies könnte Inhalt einer, an die vorliegende Arbeit anschließenden, Studie sein. Zu erwarten wäre hierbei eine weitere Verbesserung des Prognosefaktors N400 durch eine Reduktion der ‚false negative’ Patienten.