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Die zentralen Genres: Schlager und Tanzmusik

Im Dokument Unterhaltungsmusik im Dritten Reich (Seite 192-200)

Aus der Begriffsklammer „Unterhaltungsmusik“ lassen sich zwei Genres isolieren, die in ihrer Entstehung und Entwicklung typische musikalische Kinder der Mas-senkultur sind: der „Schlager“ und die „moderne Tanzmusik“. Diese beiden Kris-tallisationspunkte nun zogen die entsprechend kontroversesten Diskussionen nach sich, denen nachzuspüren für das Verständnis der Zusammenhänge zwi-schen Kulturpolitik, Ideologie, Propaganda und Populärkultur äußerst aufschluss-reich sein kann.

Der Begriff „Schlager“ hat seine eigene Geschichte. Der Duden begnügt sich mit einer recht knappen Klärung dessen, was man unter „Schlager“ zu verstehen hat: „(Tanz)Lied, das in Mode ist; etwas, das sich gut verkauft, großen Erfolg hat.”1 Diese Definition führt bereits zwei charakteristische Elemente an: Einer-seits steht Schlager für eine bestimmte populäre Musikgattung, andererEiner-seits impliziert er den Erfolg einer (nicht nur musikalischen) Ware. Auch auf die enge Verwandtschaft zur Tanzmusik wird bereits verwiesen.

Der frühe Schlager war ein ursprünglich für ein größeres Werk geschriebenes Lied, dem es gelang, sich über den Erfolg beim Publikum zu verselbständigen. So lässt sich der Begriff um das Jahr 1870 in Wien nachweisen, wo er erfolgreiche Einzelnummern aus Operetten oder Singspielen bezeichnete.

Erstmals als „Schlagwort der musikalische Zeitungskritik”2 anzutreffen war der Begriff in einem Artikel der „Wiener National-Zeitung“ von 1881, in dem von

„zündenden Melodien – Schlager nennt sie der Wiener”3 die Rede war. Die Zei-tung berichtete von der Uraufführung der Strauß-Operette „Der lustige Krieg“

und beschrieb die Reaktionen der Zuhörerschaft auf den Walzer „Nur für Natur“:

„Das Publikum begleitete erst die prickelnde Weise mit einem leichten Neigen und Wiegen der Köpfe. Das schlug – ein Blitz, ein Knall – granatenhaft ein, und Girardi musste den Walzer dreimal singen.“4

1 Duden. Die deutsche Rechtschreibung, 22. Auflage, Bd.1, Mannheim u.a. 2001, S.852

2 Else Haupt: Stil- und sprachkundliche Untersuchungen zum deutschen Schlager, Diss. Phil. Mün-chen 1957, S.2

3 Wiener National-Zeitung 34/1881, S.526, zitiert nach Werner Mezger: Schlager. Versuch einer Gesamtdarstellung unter besonderer Berücksichtigung des Musikmarktes der BRD, Tübingen 1975, S.14

4 Zitiert nach André Port le roi: Schlager lügen nicht. Deutsche Schlager und Politik in ihrer Zeit, Essen 1998, S.9. Alexander Girardi (1850-1918) war österreichischer Schauspieler und spielte unter anderem in diversen Operetten mit. Rudolf Holzer: Alexander Girardi und das Theater an der Wien. Die Wiener Vorstadtbühnen, Wien 1951

Historisch einordnen und herleiten lässt sich der Schlager aus den verschiedens-ten Quellen der Liedproduktion: dem traditionellen Volkslied, dem öffentlich zum Beispiel auf Jahrmärkten vorgetragenen moritatenhaften Drehorgellied, der O-pernarie und schließlich dem Operettenlied. Es sind jedoch andere wesentliche Momente der Entwicklung, „die den Schlager erst konstituieren“5 und zu einem eigenständigen musikalischen Markenartikel werden lassen: Die wirtschaftlichen Interessen der Unterhaltungsbranche, die modernen Medien Rundfunk, Schall-platte und Film, die als technische Medien seiner Verbreitung dienen, und schließlich die Etablierung eines professionellen Musikmanagements, das für die Vermarktung des Produktes zuständig ist. Wie Busse stellt auch Patzer die „Ver-flechtung von Kunst und Kommerz“ ins Zentrum seiner Schlagerdefinition: Über Rundfunk, Schallplatte und Tonfilm verbreitet, konnten „bewusst auf den Mas-sengeschmack“ zugeschnittene Schlager Millionenauflagen erreichen.6

In den großen Metropolen wie Wien und Berlin erlebte die Vergnügungsindustrie ihre erste große Blüte. Abgesandte der Musikverlage achteten in den zahlreichen Tanzcafés genau darauf, welche Lieder von welchen Komponisten sich die Gäste am häufigsten wünschten, um Orchester und Privatleute schnellstmöglich mit entsprechenden Notendrucken versorgen zu können. Vielfach wird von der origi-nellen Taktik berichtet, man habe „Einpfeifer” mit den neuesten Melodien auf den Lippen durch die Straßen geschickt, um bestimmte Lieder in kurzer Zeit bekannt zu machen.

Erste Operettenschlager im Dreivierteltakt lassen sich auf die Gründerjahre zu-rückdatieren, als der Walzer seine ursprüngliche Rolle als „schwungvoller musika-lischer Protest des aufstrebenden Bürgertums”7 bereits verloren hatte. In der neuen Unterhaltungs- und Vergnügungskultur der Großstädte war Professionali-sierung und SpezialiProfessionali-sierung gefragt. So gilt Walzerkönig Johann Strauß (Sohn) nicht zu unrecht als „Ahnherr der modernen Unterhaltungsmusik”; seine Operet-te „Die Fledermaus” zum Beispiel enthielt gleich eine ganze Reihe von Schlagern.

Ebenso feierten Operetten von Carl Zeller oder Karl Millöcker mit verschiedenen zu Schlagern avancierten Einzelstücken große Erfolge. Die „Berliner Morgenpost“

vom 7. März 1891 nahm sich dem Phänomen der plötzlichen Popularität eines

5 Burkhard Busse: Der deutsche Schlager. Eine Untersuchung zur Produktion, Distribution und Re-zeption von Trivialliteratur, Wiesbaden 1976, S.1

6 Franz Patzer: Das gab’s nur einmal... Die Schlager der 20er Jahre. Ausstellungskatalog zur 211.

Wechselausstellung der Wiener Stadt- und Landesbibliothek, Wien 1987, S.6

7 Monika Speer (Hrsg.): Schlager. Das große Schlager-Buch. Deutsche Schlager 1800-heute, Mün-chen 1978, S.7

Liedes an: „Und wenn das Frühjahr kommet, dann schlagen sie aus, die ‚Schla-ger’. Das Lied, das wintersüber im Varieté kreiert wurde, erhält seine Weihe als Gassenhauer erst dann, wenn es von einer Musikkapelle im Freien unter dem Jubel der umstehenden Zuhörer exekutiert wird...“8

Durch das Vorbild der Wiener Operette hatte man gerade in Berlin erkannt, dass die ursprüngliche Technik, erst ein Werk zu schreiben und dann darauf zu hoffen, einige der Lieder mögen zu Schlagern werden, wenig effizient war. Statt dessen kehrte man nun die Reihenfolge um und ging dazu über, Operetten um beson-ders erfolgversprechende Einzelnummern herum zu arrangieren. Die Stücke des so arbeitenden Berliners Paul Lincke waren bald in aller Munde. Monika Speer sieht in seinen Kompositionen vom Typ „böhmische Marschpolka” sogar den ei-gentlichen Beginn der deutschen Schlagergeschichte. Mit „Frau Luna” schuf er 1899 eine ganze Reihe unvergessener Operettenschlager, 1902 konnte sich allen voran sein „Glühwürmchen Idyll” aus der Operette „Lysistrata” beim Publikum durchsetzen. Die Wiener, allen voran der Komponist Franz Lehár, zogen schnell nach.

Jetzt ging es Schlag auf Schlag: In Berlin erblickte Walter Kollos Zecherhymne

„Immer an der Wand lang” 1910 das Licht der Welt, drei Jahre bevor Jean Gil-bert, alias Max Winterfeld, für den Spitzenreiter sorgte, den jede Schlagerge-schichte zitieren muss: Das süßlich-freche Lied „Puppchen, du bist mein Augen-stern” wurde zum ersten Evergreen der Geschichte: „Die generelle Beliebtheit, die der Puppchen-Schlager auslöst, übertrifft alles bisher Dagewesene.“9 Von ei-nem Zufallserfolg kann man hier sicherlich nicht sprechen, hielt Gilbert doch die Fäden einer grandiosen „Public-Realtions“-Maschinerie in den Händen: Der Mu-sikschriftsteller Erich Urban schrieb zeitgenössisch über Gilbert: „Der moderne Komponist als Spekulant in Melodien mit dem Stab von Kopisten, die seinen Ein-fall sofort ins Reine bringen, schreiben, vervielfältigen, fertig machen. Der musi-kalische Großbetrieb.“10 Dazu waren ständig sechs reisende Operettengesell-schaften im Reich unterwegs, um die Musik bekannt zu machen, auch bestimm-ter Taktiken zur Beeinflussung der Presse wusste man sich virtuos zu bedienen.

Die Schlager der 1920er Jahre gelten in ihrer Originalität, ihrem frechen Witz und ihrer oft auf Phänomene des Alltags bezogenen Thematik als die Vorzeigestars des Genres. Alle Autoren sind sich einig, dass eine derartige künstlerische

8 Peter Wicke: Von Mozart zu Madonna. Eine Kulturgeschichte der Popmusik, Leipzig 1998, S.84

9 Maurus Pacher: Sehn Sie, das war Berlin. Weltstadt nach Noten, Berlin 1987, S.122

10 Zitiert nach Pacher 1987, S.124

sität, die an Dada und andere experimentelle Kunstrichtungen angelehnt sei, und sich stark an den musikalischen und tänzerischen Neuerungen aus den USA ori-entiert habe, nie wieder erreicht worden sei. Und tatsächlich kann man den Schlagern der 1920er eine vergleichsweise „realistische“ Haltung zugestehen, rekrutierten sie ihre Themen doch mitunter aus Politik („Pleite, Pleite, sind heut alle Leute“, 1924), Mode („Mach Dir doch 'nen Bubikopf“, 1924), Technik („Ich hab’ zu Haus ein Grammophon”, 1925) oder Tanzmanie („Fräulein, woll’n se Shimmy tanzen”, 1921). Daneben finden sich textliche Zweideutigkeiten („Was machst du mit dem Knie, lieber Hans“, 1925) in einem kessen und frechen Ton zu flotter Musik. Die Jahre der Prosperität Weimars waren auch die Zeit der re-spektlosen Nonsenslieder wie „Mein Papagei frisst keine harten Eier” (1928) oder

„Wo sind deine Haare, August” (1926). Ebenfalls hatten erotisch-zweideutige Texte Konjunktur: Gerade auch obszönen Schlagertexten („Ich hab’ das Fräul’n Helen baden seh’n”, 1926) rückte der Staat als oberster Kultur- und Moralhüter mit „Schmutz- und Schundgesetzen” zu Leibe.

Das amerikanische „Yes, we have no bananas” wurde als Abgesang auf die Lu-xusgüter in „Ausgerechnet Bananen” (1923) umgedichtet und damit zum ein-schlagenden Erfolg. Für den Kölner Karneval geschrieben, avancierte „Wir ver-saufen unsrer Oma ihr klein’ Häuschen” (1923) zur eigentlichen „Nationalhymne”

der Deutschen. „So singt das Volk... echte, unverlogene Lyrik.”,11 urteilte Kurt Tucholsky zeitgenössisch und kommentierte den Erfolg des Gassenhauers: „Ist dies ein Volkslied? Es ist seine reinste Form. Man darf freilich nicht an früher denken. Früher sang wohl der Wanderbursch sein fröhlich Liedchen von den grü-nen Linden und dem blauäugigen Mägdelein – weil das sein Herz bewegte. Nun, auch dieses Lied singt von dem, was unser Herz bewegt: von den Hypotheken.

So singt das Volk. Hier ist es ganz. Dichter umspannen die Welt in brüderlicher Liebe, Poeten sehen Gott in jedem Grashälmchen – das ehrliche Volk aber gibt seinen Gefühlen unverhohlen Ausdruck.“12 Tucholsky nahm hier den künftigen Vorwurf der Kulturkritik von links wie rechts am Schlager voraus und kehrte ihn um: Das aktiv rezipierende Volk schafft sich seine neuen, authentischen Volkslie-der. Dieser Mythos vom „ehrlichen“ Schlager, noch weit von „Kitsch“ und Alltags-flucht entfernt, wirkt in der Begeisterung für die Progressivität und Originalität der Musik der 1920er nach. Doch die Konzentration auf diese zweifellos

11 Tucholsky, zitiert nach Speer, S.94

12 Tucholsky zitiert nach Port le Roi, S.17

renden Aspekte des Schlagers der 1920er verfälscht das Gesamtbild: Das „Wal-zerlied“ im „Volkston“, die Blüte der Operette aus der Feder von Protagonisten wie Franz Lehár und Emmerich Kálmán, Marschklänge und Volksmusik dürfen hier genauso wenig vernachlässigt werden wie die Parallelexistenz von großstäd-tischer Vergnügungsgastronomie und provinzieller Tanzbodenkultur.

Definitiv vorbei war die Zeit der Nonsensschlager mit Beginn der Weltwirtschafts-krise, die den Glauben an unaufhaltsamen Fortschritt und die Funktionsfähigkeit von Demokratie und Kapitalismus stark erschüttert und radikalen Politisierungs-tendenzen Platz gemacht hatte. Das weiche Stimmungslied war Trumpf, Heim-weh-Fernweh-Romanzen und Reminiszenzen an eine schale Operettenseligkeit, die man nie wirklich überwunden hatte, gaben den Ton an. Besonders im Zu-sammenspiel mit dem Tonfilm hatten die sanften, sentimentalen Klänge Kon-junktur. Ob die deutschnational konservative Tendenz des Ufa-Kinos, wie sie Siegfried Kracauer kritisierte, die entscheidende Mitschuld am künstlerischen Ab-stieg des Schlagers von der Avantgarde zur Reaktion trug, oder ob die populär-kulturelle Produktion sich nur an den durch die wirtschaftlichen und politischen Umstände generierten Präferenzen des Publikums orientierte, lässt sich nicht mit Eindeutigkeit klären. Pacher konstatiert mit Blick auf Tonfilmoperetten wie „Lie-beswalzer“ (1930) und „Zwei Herzen im Dreivierteltakt“ (1930): „Heymann mas-siert mit schöpferischem Einfühlungsvermögen den angekränkelten Lebensnerv eines Publikums, das nach zwei Stunden im Märchen-Kino die wunderschön ver-träumten Refrains als gesummte Lebenshilfe in einen als perspektivlos empfun-denen grauen Alltag nimmt.“13 Der ungeheure Erfolg der Operette „Im Weißen Rössl“ (1930), in der „eine österreichische Ferien-Idylle um die Jahrhundertwen-de (...) allen MoJahrhundertwen-detrends zuwiJahrhundertwen-der“ läuft,14 breitete sich von Wien bis Kairo, von London bis New York aus. Kurz darauf wurde die Tonfilmoperette „Der Kongreß tanzt“ (1931) zum Welterfolg. Derlei Töne über Herz, Schmerz und illusionäre Traumwelten waren bereits damals schon in ihrer Funktion als Fluchthelfer aus dem grauen Alltag willkommen. Den Nationalsozialisten konnten sie einerseits nicht unwillkommen sein, leisteten sie doch „artgemäßen Tänzen” wie Walzer, Rheinländer und Polka Vorschub, andererseits jedoch durfte eine derartige Film- und Musikproduktion aus rassischen und nationalen Gründen nicht ohne Einwän-de toleriert werEinwän-den: „Der JuEinwän-de Charell hat diesen Stoff [„Der Kongreß tanzt“]

13 Pacher 1987, S.261

14 Ebd., S.267. „Im weißen Rössl“ wurde 1935 unter der Regie von Carl Lamac verfilmt.

verniedlicht, verkitscht und banalisiert. Er hat ihn für eine Revue zurechtge-schnitten, für eine Revue, die uns heute zum Halse heraushängt (...)“,15 ließ Goebbels, der spätere Schirmherr vieler deutscher Revue- und Ausstattungsfil-me, sein Berliner Kampfblatt „Der Angriff“ 1931 verkünden.

Als Sammelbegriff für eine Erfolgsnummer (später wird sie „Hit“ heißen) konnte der Schlager als „Tanzschlager“ auch den gesamten Bereich der Tanzmusik ab-decken, hieß dann „Jazzschlager“ oder „englischer Schlager“. Zum eindeutigen Genrebegriff ist er in seiner Form als „deutscher Schlager“ geworden. Moderne Tanzmusik gab sich als eigenständiges Genre die Attribute „rhythmisch“ oder

„beschwingt“ und orientierte sich an der Entwicklung des Jazz in den 1930er Jah-ren zum Swing.

Die bisweilen synonyme Verwendung von Schlager und Tanzmusik bestimmte streckenweise auch die kontroversen Diskussion über die Akzeptanz moderner Unterhaltungsmusik, dennoch lässt sich die im Dritten Reich geführte Debatte in zwei Stränge isolieren: Das Genre „deutscher Schlager“ erfuhr trotz negativer Vorzeichen als kommerzielles Produkt einer von Juden beherrschten Industrie eine eindeutige Aufwertung. Nach einer anfänglichen Mischung aus Kritik und Toleranz, entschied man sich für eine Nutzung, ja direkte Förderung und bestä-tigte so die Rolle des Schlagers als fester Bestandteil moderner musikalischer Populärkultur.

Mit moderner Tanzmusik tat man sich erheblich schwerer, rang nach Definitio-nen, sprach Verbote aus, entschied sich dann aber für eine relative Toleranz. Die Diskussion war geprägt von der Forderung, das durch Verbote entstandene Va-kuum in der Tanzmusik zu füllen, indem man etwas „Neues“, spezifisch deut-sches auf diesem Gebiet förderte. Im Endeffekt entschied man sich auch auf dem Gebiet der Tanzmusik für eine konsequente Nutzbarmachung und weitgehenden Orientierung an internationalen Massenkulturstandards.

Im Krieg schließlich fanden die Entwicklungslinien von Schlager und Tanzmusik streckenweise wieder zusammen, es erklungen Schlager im Sound der großen Unterhaltungsorchester, amerikanische Jazzstandards wurden eingedeutscht und deutsche Schlager zeichneten sich zum Teil durch deutlichen Swingcharakter aus.

15 Zitiert nach Pacher 1987, S.273

4.1 Modernes Volkslied oder jüdischer Kommerz? Die Entdeckung des deutschen Schlagers für die Politik

Aus einer konsequent völkischen Perspektive heraus ließ sich die Geschichte des Schlagers problemlos als Anklage gegen Kapitalismus und Judentum konstruie-ren: Skrupellose jüdische Geschäftemacher hätten zu Zeiten der Weimarer Re-publik auf Kosten deutscher Kultur ihre minderwertigen Produkte auf den Markt geworfen, so klagte der „SA-Mann“ im Februar 1938:16 „Es ist noch gar nicht so lange her, da las, hörte und sang man die pathologisch anmutenden Reimereien von der Elisabeth, die ‚so schöne Beine hätt’, und Donna Clara, ‚ich hab’ Sie tan-zen geseh’n, und Ihre Schönheit hat mich toll gemacht‘ (...).“ Weitere Beispiele werden in ihrer angeblichen Primitivität vorgeführt, um dann – angereichert um typisch antikapitalistische Klischees – auf den Warencharakter und die angeblich jüdischen Produktionsmechanismen hinzuweisen: „Das waren die ‚Schlager‘. Und an diesem Wort hängt alles. Der jüdische Geschäftsmann hat das Wörtchen

‚Schlager‘ aufgebracht. Preisend mit viel schönen Reden hat er den Ramsch in das Schaufenster gelegt und minderwertiges Zeug zu scheinbar billigen Preisen dem harmlosen Käufer angedreht.“ So habe sich schnelles Geld verdienen lassen, bis schon möglichst schnell der neue Schlager den alten abgelöst habe. Ähnlich hatte sich 1936 die publizistische Stimme der SS, das „Schwarze Korps”, geäu-ßert, die dem Schlager als angebliches Überbleibsel des Jazz einen Kampfartikel gewidmet hatte: Dieser „Ungeist einer pseudomusikalischen Übung” stamme aus dem Bereich jüdischer Wirtschaftstätigkeit, sei von „Cohn & Co.” erfunden wor-den, um Kunden zu ködern und in schlechte Operetten zu locken. Dieser „Über-produktion von Blödsinn” habe man sich im Dritten Reich entgegengestellt, so dass eigentlich nur noch der Name erhalten geblieben sei.17

Die Realität im Umgang mit dem Schlager in den Jahren nach 1933 sah jedoch gänzlich anders aus, als Pamphlete dieser Art vermuten lassen. Viele Autoren scheinen sich doch eher von solchen Selbstbildern der Propaganda leiten zu las-sen, anstatt nach Diskussion und Differenzierung zu suchen. Sicher, der Schlager des Dritten Reiches unterschied sich auch inhaltlich, und bis auf wenige Ausnah-men hatte sich der ironisch-witzige Textduktus zugunsten von „gesundem

16 Der SA-Mann vom 26.02.1938, S. 4.

17 Das Schwarze Korps vom 26.11.1936

mor“18 aus der Musikwelt verabschiedet, aber alle jene als „pathologisch“ disqua-lifizierten „Reimereien“ zu verdrängen oder gar den Schlager selbst als „Blödsinn“

zu verbannen, das hatte nicht einmal ansatzweise funktioniert. Als Alternative zu angloamerikanischer Tanzmusik akzeptiert, als neues Volkslied verklärt, als Wirt-schaftsgut benötigt und in seiner potentiellen Funktionalisierbarkeit als Optimis-muswaffe und Ablenkungsmittel im Krieg erkannt, büßte der deutsche Schlager nichts von seiner starken Stellung auf dem deutschen Musikmarkt ein – im Ge-genteil Schlagerstars und Komponisten gelangten zusehends in den Genuss der Förderung und des offiziellen „Sponsorings“ der großen Politik.

4.1.1 Die Branche verkraftet den Aderlass

Doch zunächst einmal bedeutete die nationalsozialistische Machtergreifung einen gewaltigen Aderlass für die deutsche Unterhaltungskultur: Gehen mussten unter anderem Jean Gilbert (Max Winterfeld),19 Rudolf Nelson (Rudolf Lewysohn),20 Hu-go Hirsch, Friedrich Hollaender, Paul Abraham, Ralph Benatzky, Werner Richard Heymann, Oscar Straus, Mischa Spolansky und Robert Stolz.21 „Ein einstmals blühendes europäisches Zentrum der musikalischen Unterhaltung versank binnen weniger Jahre im verklemmten Provinzialismus von uniformierten Kleinbür-gern.“,22 so lautet Wickes hartes Urteil über die Berliner Musikszene. Die NS-Presse ließ es sich selbstverständlich nicht nehmen, den Personalwechsel hä-misch zu kommentieren und das Abrücken der „Schlager-Schwerindustrie ins

18 „Diese Heiterkeit ist grundverschieden von billigem Wirtz, von Satire und Ironie, mit der uns die musikalischen Systemgrößen bis zum Überdruss ‚beglückt’ haben. Es ist fraglos schwerer, jene echtem, im Volkston begründeten humorvollen Ton zu treffen, als mit billigen Mitteln (...) zu verulken oder (...) zu verunglimpfen.“ Fritz Stege, in: Die Unterhaltungsmusik Nr.2744 vom 21.07.1938, S.880ff.

19 „Seine Operetten sind elende Wegbereiter zur völligen musikalischen und sittlichen Verflachung.

(...) 1933 kehrte er dem gelobten Deutschland den Rücken und warb musikalisch für atavisti-schen Instinkte der Weltrevolution durch den Bolschewismus.“ Lothar H. Br. Schmidt: Die Juden in der Unterhaltungsmusik. Ein kulturpolitischer Abriss (7. Fortsetzung), in: Die Unterhaltungs-musik Nr.2731 vom 21.04.1938, S.491f.

20 „Rudolph Nelson ist zu einem Begriff aller musikalischen Gemeinheiten geworden. (...) Er behan-delte den Sexus als ein Instrument, das er virtuos beherrschte. 1933 suchte er sein Heil in der Flucht. (...) Er bereitet in seiner Art die jüdisch-bolschewistische Weltrevolution vor...“ Lothar H.

Br. Schmidt: Die Juden in der Unterhaltungsmusik. Ein kulturpolitischer Abriss (7. Fortsetzung), in: Die Unterhaltungsmusik Nr.2731 vom 21.04.1938, S.491f.

21 Diverse Details zur Biographie, dem Werk und zu den Fluchtwegen der Emigranten in: Habakuk Traber: Wege zum Exil. Im Vorraum der Musikgeschichte, in: Traber Habakuk / Elmar Weingar-ten (Hrsg.): Verdrängte Musik. Berliner KomponisWeingar-ten im Exil, Berlin 1987, S.208ff.

22 Peter Wicke: Von Mozart zu Madonna. Eine Kulturgeschichte der Popmusik, Leipzig 1998, S.163

Ausland“ als nationalen Erfolg zu werten: „Diesen Schwerverdienern des Volks-liedes ist scheinbar der Boden in Deutschland zu heiß geworden und sie haben sich schnell mit dem Geld, welches ihnen in großen Mengen vom deutschen Volk nachgeworfen wurde, ins Ausland geflüchtet.“23

Angesichts derartiger trotziger Zeilen darf man nicht übersehen, dass auch zeit-genössisch die personellen Verluste unter den Kreativen der Unterhaltung sogar von den politisch Verantwortlichen als branchenbedrohend empfunden wurden, wodurch sich unter anderem Chancen auf Sonderbehandlung für einige jüdische Künstler ergaben: So bot Goebbels dem bekannten Operettenkomponisten Em-merich Kálmán den „Ehrenarier" an, auch Werner Richard Heymann sollte zu-nächst gehalten werden.24 Um Robert Stolz bemühte man sich sogar noch, als er

Angesichts derartiger trotziger Zeilen darf man nicht übersehen, dass auch zeit-genössisch die personellen Verluste unter den Kreativen der Unterhaltung sogar von den politisch Verantwortlichen als branchenbedrohend empfunden wurden, wodurch sich unter anderem Chancen auf Sonderbehandlung für einige jüdische Künstler ergaben: So bot Goebbels dem bekannten Operettenkomponisten Em-merich Kálmán den „Ehrenarier" an, auch Werner Richard Heymann sollte zu-nächst gehalten werden.24 Um Robert Stolz bemühte man sich sogar noch, als er

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