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Alltag und faschistische Herrschaftspraxis

Im Dokument Unterhaltungsmusik im Dritten Reich (Seite 28-31)

Mit der Gleichzeitigkeit von Zwängen und Anreizen, von Hinnehmen und Mitma-chen beschäftigt sich der Sammelband von Berlekamp und Röhr (1995),104 der aus alltagsgeschichtlicher Perspektive Fragen nach der Relevanz von Herr-schaftspraxis im individuellen Erleben stellt. Alltagsgeschichtliche Darstellun-gen105 haben seit Beginn der 1980er Jahre Konjunktur, die Orientierung an der sozialen Wirklichkeit zwischen lebensgeschichtlicher Erfahrung und wissenschaft-licher Analyse wirkte befruchtend auf die Diskussion zum Beispiel über Kontinui-täten und Brüche in der deutschen Gesellschaft des 20. Jahrhunderts. Peukert und Reulecke (1981)106 haben einen Band den Verschränkungen von Anpassung und Widerstand gewidmet, in dem immer wieder auch die Frage nach der Exis-tenz der viel beschworenen „Volksgemeinschaft“ gestellt wird. Niethammers Stu-dien zur Faschismuserfahrung im Ruhrgebiet107 haben die Kontinuitäten in der Lebenswelt des Einzelnen über die Grenzdaten der politischen Geschichte hinaus aufgezeigt.

Schäfer (1981)108 arbeitet in seiner wichtigen Darstellung zum Zwiespalt zwi-schen ideologischem Anspruch und Lebenswirklichkeit im Dritten Reich die cha-rakteristischen Elemente der nationalsozialistischen Herrschaft zu einer neuen

„entmythologisierten“109 Sichtweise aus: Machtauffächerung, personalisierte Zen-sur, Anpassung an die privatwirtschaftliche Eigendynamik, Duldung einer politik-freien Sphäre und partielle Kapitulation vor Massenbewegungen sind diagnosti-zierte Kennzeichen einer Diktatur, deren Stabilität nicht durch bloße

104 Brigitte Berlekamp / Werner Röhr (Hrsg.): Terror, Herrschaft und Alltag im NS, Münster 1995

105 Programmatisch: Lutz Niethammer: Anmerkungen zur Alltagsgeschichte, in: Geschichtsdidaktik 3/1980 und Alf Lüdtke (Hrsg.): Alltagsgeschichte. Zur Rekonstruktion historischer Erfahrungen und Lebensweisen, Frankfurt (M) 1989

106 Detlev Peukert / Jürgen Reulecke (Hrsg.): Die Reihen fast geschlossen. Beiträge zur Geschichte des Alltags unterm Nationalsozialismus, Wuppertal 1981

107 Lutz Niethammer: Die Jahre weiß man nicht, wo man die heute hinsetzen soll.

Faschismuserfahrungen im Ruhrgebiet, Berlin 1983

108 Hans-Dieter Schäfer: Das gespaltene Bewusstsein. Über deutsche Kultur und Lebenswirklichkeit 1933-1945, München 1981

109 Hans-Dieter Schäfer: Amerikanismus im Dritten Reich, in: Michael Prinz / Rainer Zitelmann (Hrsg.): Nationalsozialismus und Modernisierung, Darmstadt 1991, S.199

rung zu erklären ist. Schäfer kommt an einigen Stellen auch auf das keinesfalls einheitlich negative Amerikabild im Dritten Reich zu sprechen, das auch durch die Begeisterung deutscher Kinogänger für Hollywood und seine Stars geprägt wur-de. Differenziert geht Gassert (1997)110 das Thema Amerika an.

1.2.8 Modernisierung

Dahrendorf (1965)111 und Schoenbaum (1968)112 haben als Effekt faschistischer Politik, die als „spannungsreiche Mischung von modernen Mitteln und atavisti-schen Zielen“113 zu begreifen ist, eine Form von gesellschaftlicher Modernisierung ausgemacht, die sich in sozialer Mobilität, Urbanisierung, Industrialisierung, Frauenerwerbstätigkeit und in der Entwicklung einer Massenkultur manifestiert.

Prinz und Zitelmann (1991)114 nehmen in ihrem Band die Argumente Schoen-baums auf und betonen, dass „grundsätzliche und tiefgreifende Veränderungen der deutsche Gesellschaft“ bereits im Nationalsozialismus „eingeleitet und voran-gebracht“ worden seien.115 Wichtig in dieser Debatte wird die Definition von „mo-dern“ sowie die Frage, ob als „mo„mo-dern“ gekennzeichnete Merkmale das intendier-te Ergebnis oder nur der unbeabsichtigintendier-te Effekt nationalsozialistischer Politik wa-ren. Mit dem Vorwurf der unverantwortlichen „Rehabilitierung des Naziregimes“

konfrontiert,116 wehrte sich Zitelmann gegen die normative Aufladung des Mo-dernisierungsbegriffs, die in starker Orientierung an die USA eine Demokratisie-rung als „konstitutives Moment“ der ModernisieDemokratisie-rung verstehe.117 Gleichzeitig ge-hen er und Prinz so weit, den Widerspruch zwiscge-hen Intention und Wirkung in Frage zu stellen und dabei Hitler gleichsam als Protagonisten der Modernität zu zeichnen. Diverse Historiker, vor allem Mommsen oder Dipper, halten dem zu Recht entgegen, dass die Technikbegeisterung und der Einsatz moderner Medien

110 Philipp Gassert: Amerika im Dritten Reich. Ideologie, Propaganda und Volksmeinung 1933-1945, Stuttgart 1997

111 Ralf Dahrendorf: Gesellschaft und Demokratie in Deutschland, München 1965

112 David Schoenbaum: Die braune Revolution. Eine Sozialgeschichte des Dritten Reiches, Köln 1968

113 Hans Mommsen (Nachwort), in Schoenbaum, Neuauflage 1999, S.319

114 Michael Prinz / Rainer Zitelmann (Hrsg.): Nationalsozialismus und Modernisierung, Darmstadt 1991

115 Prinz / Zitelmann, Vorwort, VII

116 Christof Dipper: Modernisierung des Nationalsozialismus, in: Neue politische Literatur 26 (1991), S.450ff.

117 Rainer Zitelmann: Die totalitäre Seite der Moderne, in: Prinz / Zitelmann, S.1ff.

in der Propaganda in hohem Maße mit archaischen Zielvorstellungen und rassen- und rüstungspolitischen Programmen verknüpft waren, so dass es problematisch sei, von einer intendierten Modernisierung zu sprechen. Doch gerade in Anbet-racht der inkonsistenten Ideologie, der typischen Machtkonkurrenzen und perso-nalisierten Entscheidungen spielt die Frage, ob Hitlers Bekenntnis zur Tradition uneingeschränkt gewesen ist, nicht mehr die entscheidende Rolle. In einem zu-sammenfassenden Aufsatz zur Diskussion über das Problem der Modernität des Nationalsozialismus verweist Reichel (2003)118 auf die Bedeutung eines „qualita-tiven Modernisierungsbegriffs“, der die „mentalen Modernisierungen, die psycho-sozialen und symbolisch-visuellen Modernisierungseffekte“ in den Vordergrund stellt.

Eine Form von Modernisierung zeichnet Schütz (1995)119 anhand der Medienpoli-tik des Dritten Reiches nach und macht die gesammelten Thesen zur KulturpoliMedienpoli-tik damit spezifisch. Für ihn ist das Dritte Reich durch neben der rigiden Kontrolle durch ein „fast plurales Spektrum an Medienangeboten“120 gekennzeichnet, was er einerseits mit Macht- und Ideologiekonkurrenzen erklärt, die sowohl Spielraum ermöglichten als auch Selbstzensur förderten, andererseits durch die grundsätzli-che Entsgrundsätzli-cheidung des Regimes für Industrie und Massenkonsum zugunsten der

„Produktion von passiver Loyalität“ (Schäfer). Die Politisierung durch Symbole und Parolen wurde großteils abgelöst durch eine Politik der Wünsche und Bedürf-nisse nach Freizeit, Konsum und Normalität. Wie stark die Konsensbereitschaft der Deutschen neben den Aspekten von Sicherheit, Ordnung und Nationalismus vor allem durch Freizeit, Urlaub, Sport und der privaten Sphäre bestimmt war, zeigt Stöver (1993)121 mit einem analytischen Blick auf die sozialistischen Exilbe-richte. Die Entwicklung des Mediensektors und der massenkulturellen Unterhal-tungsangebote brach mit den Traditionen einer bürgerlich dominierten Hochkul-tur und erzeugte Verhaltensstandards einer liberalistischen Leistungsgesellschaft.

118 Peter Reichel: Modern und antimodern zugleich? Das NS-System und das Problem der Moderni-tät, in: Hanns-Werner Heister (Hrsg.): „Entartete Musik“ 1938 – Weimar und die Ambivalenz, Saarbrücken 2001

119 Erhard Schütz: Das Dritte Reich als Mediendiktatur: Medienpolitik und Modernisierung in Deutschland 1933 bis 1945, in: Monatshefte, Vol 87, No. 2, 1995, S.129-150

120 Ebd., S.129

121 Bernd Stöver: Volksgemeinschaft im Dritten Reich. Die Konsensbereitschaft der Deutschen aus der Sicht sozialistischer Exilberichte, Düsseldorf 1993

Schildt (1995)122 legt seinen Schwerpunkt auf die westdeutsche Nachkriegsge-sellschaft der 1950er Jahre, in der die „Transformation der ‚Klassen-’ zur ‚Mas-senkultur’“ ihren Abschluss gefunden habe. Besonders mit seinem Blick auf die 1950er als „Radiojahrzehnt“ zeigt er die starken Kontinuitätslinien der Massen-medialisierung der beiden vorherigen Jahrzehnte.

Welche eigentümliche Form einer strukturellen „reaktionären Modernisierung“

sich in der Entwicklung der technischen Massenmedien im Dritten Reich zeigt, legt ein Aufsatz von Knut Hickethier (2003)123 dar. Kenzeichnend war eine mo-derne Medialisierung von Öffentlichkeit in der Film- und Rundfunkrezeption. Die auffallenden Widersprüche zwischen struktureller Modernisierung und antimoder-nen Inhalten wurden auf der Basis der Orientierung auf leichte Unterhaltung ü-berspielt.

Im Dokument Unterhaltungsmusik im Dritten Reich (Seite 28-31)