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Im Rahmen der Mobilisierungstheorie von Kelly (1998) sowie der SIMCA-Schlüsselfaktoren von van Zomeren, Postmes und Spears (2008) wird neben der wahrgenommenen Ungerechtigkeit und dem sozialen Status auch die wahrgenommene Wirksamkeit als eine zentrale Komponente für kollektives Interessenhandeln beschrieben (vgl. Kap. 5.2). Denn ohne die Überzeugung, dass eigene Handlungen zu Veränderungen beitragen können, bleibt kollektives Handeln unwahrscheinlich – so wie es in der Aussage einer_eines Befragten „Naja, ob ich dann nun hingehe oder nicht – ist ja auch Wurst. Was soll denn das bringen?“ (Interview:

170215_021) deutlich wird.

Für die Ermittlung der internen und externen Wirksamkeit wurden in der Fragebogenerhebung unterschiedliche Indikatoren herangezogen. Als Indikator für die subjektive Wirkmächtigkeit der Beschäftigten wurde danach gefragt, in welchem Maß die Beschäftigten davon ausgehen, durch ihre Handlungen politische Prozesse beeinflussen zu können. Hier zeigte sich, dass 74 % der Sozialarbeiter_innen und Sozialpädagog_innen, 85 % der Pflegebeschäftigten und 86 % der Erzieher_innen davon ausgehen, dass sie gar keinen oder nur etwas Einfluss ausüben könnten.

Die deutliche Mehrheit der in die Untersuchung einbezogenen Beschäftigten verfügt also über keine oder über eine nur geringe Wirksamkeitsüberzeugung. Denn sowohl unter den Erzieher_innen als auch unter den Pflegebeschäftigten gehen nur 14 bzw. 15 % davon aus, durch ihre Handlungen politische Prozesse beeinflussen zu können. Unter den Sozialarbeiter_innen und Sozialpädagog_innen sind es dagegen deutlich mehr: Von ihnen ist jede_r vierte von der eigenen Wirkmächtigkeit überzeugt. Zurückgeführt werden kann dies den Befunden zufolge auf den höheren Anteil an männlichen Beschäftigten in dieser Gruppe, denn die Ergebnisse der geschlechterdifferenten Auswertung zeigen, dass in allen drei Berufsgruppen die Männer durchgehend eine höhere Wirksamkeitsüberzeugung hatten als die Frauen. Unter den Sozialarbeitenden und Sozialpädagog_innen gaben 36 % der Männer und 23 % der Frauen an, davon auszugehen, dass ihre Handlungen politische Prozesse (eher)

174 stark beeinflussen können. Unter den Erziehenden waren es 17 % der Männer vs. 12 % der Frauen, und unter den Pflegebeschäftigten waren es 20 % der Männer gegenüber einem Frauenanteil von 14 % (vgl. Abb. 29).

Abbildung 29 Die interne Wirksamkeitsüberzeugung der Beschäftigten, differenziert nach Geschlecht (Quelle: eigene Berechnung und Darstellung)

Diese Geschlechterdifferenz lässt sich nach Artus (2019) auf die nach wie vor existierenden Unterschiede im Sozialisationsprozess von Frauen und Männern zurückführen. Die soziale Konstruktion der Geschlechterunterschiede, die Vergeschlechtlichung, trägt demnach - noch immer - dazu bei, dass sich das Selbstwertgefühl und die Wirksamkeitsüberzeugungen von Mädchen und Frauen bedingt durch verschiedene Sozialisationsprozesse vermindern und dass diese Geschlechterdifferenz laufend reproduziert wird.

Während die Differenz in der Wirksamkeitsüberzeugung unter den Erzieher_innen und Pflegebeschäftigten 5 bzw. 6 Prozentpunkte beträgt, sind es unter den Sozialarbeiter_innen 13 Prozentpunkte. Spekuliert werden könnte, dass die unterschiedlichen Ausbildungsabschlüsse der Sozialarbeiter_innen - die ein Hochschulstudium absolvieren mussten - und der zwei anderen Berufsgruppen zur unterschiedlichen subjektiven Wirksamkeitsüberzeugung beitragen. Das würde auch erklären, warum die interne Wirksamkeitsüberzeugung in dieser Berufsgruppe auch höher ist als in den zwei anderen.

Für die Ermittlung der externen Wirksamkeitsüberzeugung wurde danach gefragt, wie stark die Beschäftigten davon überzeugt sind, politische Prozesse beeinflussen zu können, wenn sie Mitglieder in einer Gewerkschaft oder einem Berufsverband sind. Hier zeigte sich, dass 35 % der Sozialarbeiter_innen und Sozialpädagog_innen, 26 % der Erzieher_innen und 24 % der Pflegebeschäftigten davon ausgehen, als Mitglied in einer Gewerkschaft oder einem Berufsverband politische Prozesse (eher) stark beeinflussen zu können (vgl. Abb. 30).

23

12 14

36

17 20

0 10 20 30 40 50

Sozialarbeiter_innen / Sozialpädagog_innen

Erzieher_innen Pflegebeschäftigte

Denken Sie, dass Ihre Handlungen politische Prozesse beeinflussen können? (Anteil derjenigen, die mit (eher)

stark geantwortet haben, in Prozentwerten)

Frauen Männer

175 Abbildung 30 Die externe Wirksamkeitsüberzeugung der Befragten, differenziert nach

Berufsgruppe (Quelle: eigene Berechnung und Darstellung)

Dieser Befund zeigt, dass sich die Wirksamkeitsüberzeugungen der Befragten vergrößern, wenn sie sich als Mitglied einer Gewerkschaft oder einem Berufsverband imaginieren und nicht, wie in der vorherigen Frage, als “Privatperson“. Denn diese Perspektive der Mitgliedschaft einnehmend, sind jeweils 9 % mehr Sozialarbeiter_innen,Sozialpädagog_innen und Pflegebeschäftigte und 12 % mehr Erzieher_innen der Ansicht, etwas bewirken zu können. Dennoch gehen jedoch zwei Drittel der Sozialarbeiter_innen und Sozialpädagog_innen und jeweils drei Viertel der Erzieher_innen und Pflegebeschäftigten davon aus, selbst als Mitglied in einer Gewerkschaft oder einem Berufsverband die politischen Prozesse gar nicht oder nur etwas beeinflussen zu können.

Das wirft die Frage auf, inwiefern die Beschäftigten davon überzeugt sind, dass ihr persönliches Engagement in einer Gewerkschaft oder einem Berufsverband beim Erlangen von besseren Arbeitsbedingungen von Bedeutung sein könnte. Hier zeigen die Daten, dass die meisten der Sozialarbeiter_innen und Sozialpädagog_innen (59 %) von der Relevanz ihres imaginären gewerkschaftlichen Engagements überzeugt sind. Unter den Erzieher_innen sind dies 48 % und unter den Pflegebeschäftigten 33 %. Wird dieser Befund dem Befund, der die imaginäre Mitgliedschaft in einem Berufsverband betrifft, gegenübergestellt, zeigt sich, dass sich die Einschätzung ähnelt. Hier sind es 42 % der Sozialarbeiter_innen und Sozialpädagog_innen, die davon überzeugt sind, dass ihr persönliches Engagement innerhalb eines Berufsverbands im Kampf um bessere Arbeitsbedingungen von Bedeutung sein würde.

Unter den Erzieher_innen sind es 38 % und unter den Pflegebeschäftigten 65 %. Die Einschätzungen der Bedeutung des potentiellen persönlichen Engagements in Gewerkschaften und Berufsverbänden ähnelt einander also sehr - mit Ausnahme der Erzieher_innen. Denn immerhin 10 % mehr Erzieher_innen sind davon überzeugt, dass ihr

65 74 76

35

26 24

0 20 40 60 80 100

Sozialarbeiter_innen / Sozialpädagog_innen

Erzieher_in Pflegebeschäftigte

Denken Sie, als Mitglied einer Gewerkschaft oder einem Berufsverband politische Prozesse beinflussen zu

können?

gar nicht / etwas stark / sehr stark

176 Engagement im Kontext von Gewerkschaften von Bedeutung sein würde, als es in Berufsverbänden der Fall wäre. Diese Differenz kann möglicherweise darauf zurückgeführt werden, dass es den Gewerkschaften gelungen ist, die Erzieher_innen bei den Arbeitskämpfen 2009 und 2015 zu mobilisieren. Die partizipativen Formen der Einbindung der Erzieher_innen in das Streikgeschehen durch Methoden wie dem Streikdelegiertenverfahren könnten die Wirkmächtigkeitsüberzeugung der Erzieher_innen gestärkt haben.

Sinnvoll ist es deshalb, die externen Wirksamkeitsüberzeugungen der Befragten noch einmal spezifisch zu beleuchten. Hierzu wurden ähnliche Fragen gestellt, allerdings mit einer anderen Fragerichtung. Bspw. Wurde die Frage gestellt, ob die Beschäftigten davon überzeugt sind, dass die Gewerkschaften einen zu geringen politischen Einfluss auf die Verbesserung der Arbeitsbedingungen haben. Hierauf antworteten 29 % der Sozialarbeiter_innen und Sozialpädagog_innen, 33 % der Erzieher_innen und 32 % der Pflegebeschäftigten mit „Nein“.

Drei Viertel der Beschäftigten gehen also, unabhängig von der Berufsgruppe, davon aus, dass die Gewerkschaften einen zu geringen politischen Einfluss auf die Verbesserung der Arbeitsbedingungen haben. Und dies gilt auch für den Einfluss der Berufsverbände: Hier sind 79 % der Sozialarbeiter_innen und Sozialpädagog_innen sowie jeweils 70 % der Erzieher_innen und Pflegebeschäftigten davon überzeugt, dass Berufsverbände einen zu geringen politischen Einfluss auf die Verbesserung der Arbeitsbedingungen haben. Es gehen also berufsgruppenübergreifend etwa drei Viertel der Beschäftigten davon aus, dass auch die Berufsverbände einen zu geringen politischen Einfluss haben. Eine einzige Ausnahme zeigt sich im Antwortverhalten der Sozialarbeiter_innen und Sozialpädagog_innen, denn 7 % von ihnen halten die Gewerkschaften für wirkmächtiger als die Berufsverbände.

Werden resümierend alle Befunde zu diesem Themenkomplex betrachtet, zeigt sich, dass die Beschäftigten ihre eigene Wirksamkeit als sehr schwach wahrnehmen. Mit der imaginierten Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft oder einem Berufsverband nimmt diese zwar zu, verbleibt aber dennoch in einem Bereich, der größtenteils als schwach interpretiert werden muss. Vor dem Hintergrund der Mobilisierungstheorie von Kelly (1998) und den SIMCA-Schlüsselfaktoren (van Zomeren/Postmes/Spears 2008, 2012) ist dieser Befund von zentraler Bedeutung. Denn werden die theoretischen Annahmen dieser Autor_innen zugrunde gelegt, dann bleibt die kollektive Interessenorganisation unter diesen Voraussetzungen der sehr geringen wahrgenommenen internen und externen Wirksamkeitsüberzeugungen unwahrscheinlich, und zwar trotz der wahrgenommenen Benachteiligungen und Ungerechtigkeit.

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