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2.2 K RISE UND T RANSFORMATION DES W OHLFAHRTSSTAATS

2.2.6 Professionalisierung und Akademisierung im SAGE-Sektor

Teil des ökonomischen und soziokulturellen Wandels der Gesellschaft ist der

„Modernisierungsprozess“ (Friese 2018: 20) im Bereich des SAGE-Sektors. Die zunehmende Erwerbstätigkeit von Frauen und die gestiegene Nachfrage nach sozialen Dienstleistungen haben in diesem Bereich zu einem dynamischen Wachstumsanstieg geführt, der neben dem quantitativen Wachstum der Beschäftigtenzahlen auch die fachlichen Anforderungen zunehmend gesteigert hat (Friese 2018). Im Pflegebereich begründen sich die veränderten Anforderungen u.a. durch den komplexer werdenden Versorgungsbedarf: Chronische Krankheiten werden häufiger, die Zahl multimorbider Patient_innen (gleichzeitiges Bestehen mehrerer Krankheiten bei einer einzelnen Person) steigt und der medizinische und technologische Fortschritt fordert ein hohes Maß an Arbeitsintensität (Darmann-Finck/Reuschenbach 2019). Die gestiegenen Qualifikationsanforderungen sind sowohl Teil

33 des Ausbaus hochqualifizierter Arbeitsplätze (Prausa 2017: 53) als auch Teil der gestiegenen gesellschaftlichen Ansprüche und Erwartungen an die Professionsvertreter_innen (exemplarisch: Reiber/Weyland/Wittmann 2019; Sickau/Thiele 2017).

Die notwendige Professionalisierung des SAGE-Sektors zeigt sich in seiner Akademisierung: Erkennbar ist eine kontinuierliche Verlagerung der Ausbildungsbestandteile von Berufs- und Fachschulen zu Hochschulen und Universitäten. Dabei ist die Akademisierung im SAGE-Sektor eingebettet in die allgemeine gesellschaftliche Entwicklung der verstärkten Ausbildung an Hochschulen in der Bundesrepublik Deutschland. Die Akademisierung als Prozess breiter gesellschaftlicher Höherqualifizierung lässt sich im Wesentlichen auf zwei Erklärungsansätze zurückzuführen:

Erstens ist sie vor dem Hintergrund der Humankapitaltheorie zu verstehen. Laut dieser Theorie handelt es sich bei der Akademisierung um einen zentralen Faktor des langfristen Wirtschaftswachstums, so die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD). Diese postuliert einen Zusammenhang zwischen dem Wirtschaftswachstum und gesellschaftlichen Wohlstand und empfiehlt zur Steigerung des Wirtschaftswachstums ein hohes Bildungsniveau. Die Bundesregierung ist seit Mitte der 1990er-Jahre dieser Empfehlung nachgekommen, indem sie den kontinuierlichen Ausbau des Hochschulsektors gefördert hat, was sich in steigenden Studierendenzahlen spiegelt: In den 1960er-Jahren haben etwa 10 % eines Altersjahrgangs ein Hochschulstudium aufgenommen, im Jahr 2011 waren es hingegen über 50 %. Im EU-Vergleich liegt Deutschland allerdings noch immer hinter den Empfehlungen der OECD.

Zweitens bilden die Reformen im Rahmen des Bologna-Prozesses im Jahr 1999, die ebenfalls als Teil des Aktivierungsparadigmas (Kap. 2.1.2) gesehen werden können, einen weiteren Erklärungsansatz. Denn die Standardisierung der Stratifizierung der Hochschulsysteme, die Verpflichtung zur Gewährung von Studieninteressen (wenn die Kapazitäten nicht erschöpft sind) sowie die Ausdifferenzierung der Studieninhalte in Form von spezialisierten Studiengängen haben dazu beigetragen, die Studieninhalte stärker an die Interessen der Wirtschaft anzupassen sowie durch die verkürzte Studiendauer die frühere Beschäftigung der Absolvent_innen zu ermöglichen (Prausa 2017: 46f.).

Darüber hinaus können die Weiterbildungs- und Akademisierungsprozesse auch als Teilstrategie zur Beseitigung von Erwerbsblockaden und zur Steigerung der Produktivität der Erwerbstätigen angesehen werden (Weishaupt 2011; Broschinski 2017). Diskutiert wird die Akademisierung auch vor dem Hintergrund des Fachkräftemangels im SAGE-Sektor. Neue Hürden hinsichtlich der Voraussetzungen werden kritisch eingeschätzt, aber insgesamt wird aufgrund des Wandels des Berufsbildes auf wissenschaftlicher Basis eher eine Attraktivitätszunahme angenommen, genauso wie eine höhere Gleichberechtigung mit

34 anderen Berufen und ein Mehr an Spezialisierungs- und Aufstiegsmöglichkeiten, was weiter vorangetrieben wird (Darmann-Finck/Reuschenbach 2019).

2.2.6.1 Soziale Arbeit - Von der Wohlfahrtspflege zur Profession Soziale Arbeit

Aus historischer Perspektive kann auf eine über 100-jährige Professionsgeschichte der Sozialen Arbeit geblickt werden. Dabei haben vor allem soziale Bewegungen und der gesellschaftliche Wandel diese Geschichte nachhaltig geprägt. Gewachsen ist die heutige Profession Soziale Arbeit aus den zwei zunächst streng getrennten Traditionslinien der Sozialarbeit und der Sozialpädagogik. Erstere hatte, bedingt durch die Wurzeln in der Ausbildung zur Wohlfahrtspflegekraft, eher einen Bezug zur einfachen Fürsorge und Unterstützungstätigkeit, während die Ursprünge der Sozialpädagogik in der Ausbildung zu Jugendleiter_innen liegen (Prausa 2017: 53). Die Zusammenlegung beider Fachdisziplinen erfolge im Zuge der Überführung der Lehre an Fachhochschulen und Universitäten zu Beginn der 1970er-Jahre (Bartosch 2013). Mit der Etablierung an den Hochschulen begann auch die

"realistische Wende", durch die sich das Selbstverständnis von einer Geisteswissenschaft hin zu einer auf Empirie basierenden Sozialwissenschaft gewandelt hat.

In Deutschland gilt der Bachelorabschluss in der Sozialen Arbeit als berufsqualifizierend und berechtigt zur Ausübung der Tätigkeit als Sozialarbeiter_in oder Sozialpädagog_in. Der Masterabschluss stellt einen relativ neuen Abschluss des Studiums der Sozialen Arbeit da, welcher auf dem Arbeitsmarkt derzeit noch um eine eigenständige Positionierung ringt (Prausa 2017: 56). Darüber hinaus wird in der jüngeren Zeit auch über ein eigenständiges Promotionsrecht an den Hochschulen für Soziale Arbeit verhandelt (Schmitt 2020).

2.2.6.2 Pflege - Vom christlichen Liebesdienst zur Pflegewissenschaft

Pflegeberufe haben eine Vorreiterfunktion in der Akademisierung, was sich unter anderem daran zeigt, dass die Verbreitung und Repräsentanz der Pflegewissenschaft in unterschiedlichen Studienangeboten deutlich stärker ausgeprägt ist als in anderen Gesundheitsberufen (Reiber/Weyland/Wittmann 2019). Die Professionsgeschichte der Pflege kann ebenfalls auf eine über 100-jährige Vergangenheit zurückblicken. Die traditionellen Wurzeln können als christlicher Liebesdienst charakterisiert werden, der trotz des Wandels zur modernen Pflegewissenschaft nach wie vor von Relevanz für die Profession ist. Die kirchliche Prägung im Sinne von Demut, Gehorsamkeit und Selbstaufgabe blockierten allerdings lange Zeit die Weiterentwicklung der Profession. Ein erster Schritt zur Professionalisierung wurde daher erst im Jahr 1963 vorgenommen, als die Ausbildungsdauer zur Krankenpflegehilfe von anderthalb auf drei Jahre verlängert wurde. Neben der Krankenpflege etablierte sich in den 1960er-Jahren auch die Altenpflege mit einer Ausbildungszeit von zwei Jahren. Erst im Jahr 2003 wurden allerdings für die Altenpflege verbindliche und länderübergreifende

35 Mindeststandards festgelegt, die im Altenpflegegesetz (AltPflG) festgeschrieben wurden und eine bundesweite Ausbildungs- und Prüfungsverordnung beinhalteten. Die inhaltliche Differenz zur Krankenpflege wurde durch stärkere Anteile an psychosozialen und pädagogischen Aspekten in der Altenpflegeausbildung fortgeschrieben.

Wieder entgegen den Widerständen von Kirchen, Ärzt_innenvereinigungen und Ministerien zeigten sich in den 1980er-Jahren erste Tendenzen zur Verwissenschaftlichung der Kranken- und Altenpflege, da Fort- und Weiterbildungsmöglichkeiten von eigenen Berufsverbänden etabliert wurden. Da die öffentliche Debatte um den Pflegenotstand im Jahr 1988/89 einen Teil des Notstandes auf die fehlenden Karrieremöglichkeiten zurückführte, entstand im Jahr 1991 der erste Diplomstudiengang ‚Pflegemanagement‘ an der neu gegründeten Fachschule Osnabrück. In akademischer Hinsicht löste auch die Wiedervereinigung von BRD und DDR eine neue Debatte aus, denn in der DDR gab es bereits seit dem Jahr 1963 das Universitätsstudium der Medizinpädagogik und seit dem Jahr 1982 das Studium der Krankenpflege an der Humboldt Universität Berlin, sodass die Notwendigkeit bestand, die beiden Bildungssysteme zu vereinen. Dies führte dazu, dass sich der Wissenschafts- und Sachverständigenrat im Jahr 1991 für eine weitere Akademisierung der Pflege aussprach. Ein weiterer Schritt in die Akademisierung erfolgte mit der Verabschiedung des Krankenpflegegesetzes (KrPflG), das seit dem Jahr 2004 eine akademische Qualifikation der Lehrkräfte in der Pflege vorschreibt. Die Bologna-Reform ermöglichte zudem neue Zugangsmöglichkeiten zum Pflegestudium, da nun das duale Studium ohne eine vorherige Berufsausbildung möglich wurde (Prausa 2017: 62f.). Ein weiterer bedeutsamer Schritt in Richtung Akademisierung erfolgte im Jahr 2017, als das Pflegeberufegesetz (PflBG 2017) verabschiedet wurde. Denn durch dieses wird ab dem Jahr 2020 eine hochschulische Erstausbildung als zweiter Regelzugang etabliert, der zur direkten Berufszulassung qualifiziert (Darmann-Finck/Reuschenbach 2019).

Gleichzeitig lassen sich auch in dieser Gesetzesreform des Pflegeberufegesetzes Elemente des Aktivierungsparadigmas erkennen, denn im Rahmen der Reformierung wurde eine generalistische Pflegausbildung durch die Zusammenlegung der drei Berufsausbildungen a) Gesundheits- und Krankenpfleger_in, b) Gesundheits- und Kinderkrankenpfleger_in sowie c) Altenpfleger_in verankert (Kälble/Pundt 2016). Durch diese generalistische Ausbildung wurde die Beschäftigungsfähigkeit der zukünftigen Fachkräfte deutlich erhöht, welche auf dem zukünftigen Arbeitsmarkt allerdings in einer Konkurrenzsituation stehen werden.

Für die Pflegewissenschaften bietet die Akademisierung neue Chancen. So wird davon ausgegangen, dass die Akademisierung zukunftsweisend ist und die Profession nur so gesellschaftlich weiterentwickelt werden kann. Ein leitender Gedanke dabei ist, dass die Fachkräfte befähigt werden - anders als es an Berufsschulen möglich wäre - ihre eigenen Methoden und Therapien wissenschaftlich zu überprüfen, damit sie diese - kritisch reflektiert -

36 weiterentwickeln können. Die Akademisierung steht in diesem Bereich jedoch noch in ihren Anfängen. Erste primärqualifizierende Fachhochschulangebote bestehen bereits, z.B. das Studium der Interprofessionellen Gesundheitsversorgung mit dem Abschluss Bachelor of Science (Alice Salomon Hochschule 2019), stellen jedoch bislang noch Pilot- bzw.

Modellstudiengänge dar (Gerber-Grote 2019). Im europäischen Vergleich steht Deutschland hinsichtlich der Akademisierung zudem in diesem Bereich zurück, ganz besonders im Vergleich zu den USA (Friedrichs/Schaub 2011). Hier besteht dementsprechend Nachholbedarf, zudem Schwinger (2016) in der Akademisierung des SAGE-Sektors eine reelle Chance sieht, die Care-Arbeit gesellschaftlich aufzuwerten und so eine neue Legitimationsressource für bessere Arbeitsbedingungen zu erschließen.

2.2.6.3 Erziehung - Von der Kindergärtnerin zur Profession Frühpädagogische Bildung Die Professionalisierung der Erzieher_innen hat bereits mit der "Bildungskatastrophe" in den 1960er-Jahren in der BRD eingesetzt. Vor dem Hintergrund einer heterogenen Ausbildungslandschaft beschloss die Kultusministerkonferenz (KMK) daraufhin im Jahr 1967 eine Rahmenvereinbarung mit einer dreijährigen Berufsausbildung zur*zum staatlich anerkannten Erzieher_in. Die vorher existierenden Berufsausbildungen zur*zum Kindergärtner_in und Hortner_in sowie der Jugend- und Heimerziehung wurden zusammengelegt. Die Bildungsreformen der 1970er-Jahre führten in der BRD zudem zu ersten Akademisierungstendenzen unter den Erzieher_innen. Denn der Deutsche Bildungsrat empfahl im Jahr 1970, den Elementarbereich, der seit der Weimarer Republik rechtlich dem Fürsorge- und Wohlfahrtssystem zugeordnet war, in das Bildungswesen zu integrieren und im Zuge dessen das Ausbildungsniveau auf Fachhochschulniveau anzuheben. Das blieb allerdings zunächst ohne Folgen, obwohl weitere wissenschaftliche Anstöße folgten, z.B.

durch das Deutsche Jugendinstitut. Im Jahr 1982 beschloss die KMK schließlich eine neue Rahmenvereinbarung mit weiteren Anforderungssteigerungen, blieb jedoch weiterhin auf dem Niveau von Fachschulen. Die eigentliche Akademisierung von Erzieher_innen hat dementsprechend vergleichsweise spät eingesetzt. Ausgelöst durch die Debatten um den

"PISA-Schock" zu Beginn der 2000er-Jahre trug eine erneute Diskussion der Anhebung der Qualitätsstandards in der frühkindlichen Bildung dazu bei, dass es seit dem Jahr 2004 erste Studiengänge im Bereich der Kindheitspädagogik gibt (Blank/Schulz/Voss 2017). Erst im Jahr 2000 betonte die KMK also den Auftrag der Förderung frühkindlicher Bildungsprozesse und erhöhte die qualitativen Anforderungen (z.B. Inklusion, die Förderung von Kindern unter drei Jahren und von Sprachkompetenzen, Diagnostik, Erkennen von Kindeswohlgefährdung, Elternarbeit, Kompetenzen der MINT-Berufe etc.). Diese waren zwar bereits mit dem Jugendhilfegesetz von 1990/91 vorgeschrieben gewesen, aber erst mit der ersten PISA-Studie im Jahr 2001 wurden die Diskussionen um eine erneute Anhebung des Anforderungsniveaus

37 verstärkt geführt und zeigten nun auch Ergebnisse: Zwischen den Jahren 2002 und 2006 wurden bundesweit einheitliche Bildungspläne eingeführt, mit denen die Notwendigkeit von akademischem Personal immer eklatanter wurde. Zusätzlich verstärkten der internationale Anpassungsdruck und die Bemühungen der Gewerkschaft für Erziehung und Wissenschaft den Druck zur Anpassung auf ein akademisches Niveau. Schließlich wurde im Wintersemester 2004/2005 an der Alice Salomon Hochschule Berlin der erste Bachelorstudiengang für Erziehung und Bildung im Kindesalter eingeführt. Und die Jugend- und Familienministerkonferenz (JFMK) sprach sich im Jahr 2011 für die bundesweit einheitliche Studienrichtung ‚staatlich anerkannte_r Kindheitspädagoge_in‘ aus (Prausa 2017: 68-70).

Inzwischen existieren deutschlandweit etwa hundert Studiengänge für Kindheitspädagogik (Grüling 2019).