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Der Forschungsstand zu den Arbeitsbeziehungen und Arbeitskämpfen im SAGE-Sektor (Kap.

4) hat gezeigt, dass die Verletzung des Berufsethos unter den Beschäftigten, bedingt durch ökonomische Rationalisierungsprozesse, zum kollektiven Interessenhandeln im Rahmen der Arbeitskämpfe in den Jahren 2009 und 2015 beigetragen hat. Ebenfalls wurde aufgezeigt, dass es zu einer Veränderung der subjektiven Wahrnehmung unter den Beschäftigten kam, welche als Wandel von einem hemmenden Faktor (der sog. „Zuneigungsgefangenschaft“) zu einem mobilisierenden Faktor für kollektives Interessenhandeln beschrieben wird. Für die kollektive Interessenorganisation im SAGE-Sektor bedeutet dies, dass aus einer zentralen Hürde in der subjektiven Wahrnehmung der Beschäftigten im Zuge der Ökonomisierungsprozesse eine zentrale Ressource geworden ist. Die subjektiven Wahrnehmungen der Beschäftigten sind demnach von zentraler Bedeutung für ein besseres Verständnis des kollektiven Interessenhandelns.

Für eine systematische Betrachtung der subjektiven Voraussetzungen für kollektives Handeln wurden in diesem Kapitel die zentralen theoretischen Konzeptionen vorgestellt, die in unterschiedlicher Weise relevant für das Untersuchungskonzept dieser Arbeit sind.

Dargelegt wurden die Rational Choice-Theorie nach Olson (1965), die Mobilisierungstheorie von Kelly (1998), der Framing-Ansatz nach Goffman (1974) sowie das Civic Voluntarism Modell von Verba, Schlozman und Brady (1995).

Die Rational Choice-Theorie auf Grundlage von Olson (1965) wurde hinsichtlich ihres Anspruchs eines umfassenden Theoriegebäudes zahlreich kritisiert und in Teilen empirisch widerlegt. Gleichwohl hat die Überlegung, dass Menschen nach rationalen Aspekten handeln, Eingang in verschiedene Ansätze zur Erklärung des kollektiven Handelns gefunden. So erkennt auch Kelly (1998) im Rahmen der Mobilisierungstheorie an, dass Kosten-Nutzen-Überlegungen in der Mobilisierungsphase von Relevanz sind. Zwei für das Forschungsinteresse wichtige Erkenntnis aus der Arbeit von Olson sind, dass in großen Gruppen selektive Anreize zur Überwindung der Trittbrettfahrer_innenproblematik relevant sind und dass die individuelle Bedeutsamkeit des eigenen Handelns zur Erlangung des kollektiven Guts in großen Gruppen als eher unwichtig eingeschätzt wird. Im Kontext des SAGE-Sektors zeigen diese Überlegungen also auf zwei bedeutsame Problematiken hin, die es zu eruieren gilt.

Von besonderer Bedeutung für das Forschungsinteresse ist die Mobilisierungstheorie von Kelly (1998). Dieser beschreibt die zentralen Aspekte, die zum kollektiven Handeln notwendig sind, in fünf Phasen. Die erste Phase bezeichnet er als ‚kognitive Befreiung‘ und meint damit die subjektiven Voraussetzungen auf der Mikroebene der Beschäftigten. Dazu gehören die Aspekte einer berufsbezogenen Arbeitsunzufriedenheit, das Gefühl, ungerecht behandelt zu

121 werden, sowie die Legitimität der eigenen Forderungen und die Wahrnehmung eigener Wirksamkeit. Inhaltlich überschneiden sich die angesprochenen Aspekte der ersten Phase im Rahmen der Mobilisierungstheorie von Kelly mit den drei SIMCA-Schlüsselfaktoren für kollektives Handeln von van Zomeren, Postmes und Spears (2008). Wobei erst diese Faktoren a) die wahrgenommene Ungerechtigkeit, b) die wahrgenommene Wirksamkeit sowie c) der als unbefriedigend erlebte soziale Status erfüllt sein müssen, damit die Aspekte in den anknüpfenden Phasen relevant werden. In diesem Sinne kommt der ersten Phase eine übergeordnete Bedeutung zu, sodass im Rahmen der empirischen Untersuchung ein zentraler Fokus auf die sog. ‚kognitive Befreiung‘ der Beschäftigten im SAGE-Sektor gelegt wird und die angesprochenen Aspekte eruiert werden.

Darüber hinaus wird von Kelly der Mikro-Mobilisierungskontext in der dritten Phase der Mobilisierung der Beschäftigten als besonders wichtig erachtet. Herausgestellt wird, dass in kleinen Gruppen soziale Anreize wie der Konsens zum kollektiven Handeln, die Anerkennung und die soziale Unterstützung die individuelle Unsicherheit über die Erstellung des Kollektivguts stark beeinflussen. Und dass kollektives Handeln in Form von Demonstrationen oder Streiks i.d.R. vorher in Gruppen verabredet wird. Da der Mikro-Mobilisierungskontext in Abhängigkeit der spezifischen Konfliktfelder stark variiert, ist es für das Forschungsinteresse der Arbeit erforderlich, diesen im Rahmen einer qualitativen Voruntersuchung genauer zu analysieren und die zentralen Aspekte im Kontext der Beschäftigten im SAGE-Sektor in die quantitative Hauptuntersuchung zu integrieren.

Für das Forschungsinteresse der Arbeit leiten sich zudem aus dem Framing-Ansatz von Goffman (1974) wichtige Fragen zur gewerkschaftlichen Wahrnehmung seitens der Beschäftigten ab: Inwieweit gelingt es den Gewerkschaften, die Interessen der Beschäftigten im SAGE-Sektor aufzugreifen (Zentralität und Resonanz)? Gelingt es den Gewerkschaften, als glaubwürdige und wirkmächtige Interessenakteurinnen der Beschäftigten im SAGE-Sektor wahrgenommen zu werden? Antworten auf derartige Fragen berühren die externen Wirksamkeitsüberzeugungen der Beschäftigten und beeinflussen die Wahrscheinlichkeit des kollektiven Interessenhandelns.

Einen in der Ausrichtung des Erkenntnisinteresses umgekehrten Ansatz verfolgt das Civic Voluntarism Modell nach Verba, Schlozman und Brady (1995). Denn im Rahmen dieses Ansatzes wird nicht der Frage nachgegangen, wie kollektives Interessenhandeln zu erklären ist, sondern es wird danach gefragt, warum sich manche Personen weniger an gesellschaftspolitischen Prozessen beteiligen als andere. Erklärt werden kann dies durch drei Faktoren: Sie können nicht, sie wollen nicht oder sie wurden nicht gefragt. Im Kontext des Forschungsinteresses dieser Arbeit lässt sich dieses Modell auf den Kontext der gewerkschaftlichen Mobilisierung im SAGE-Sektor übertragen. Für die Spezifizierung und Identifikation von Hemmnissen bei der kollektiven Interessenorganisation im SAGE-Sektor

122 kämen demnach drei Erklärungsansätze infrage: Entweder die Beschäftigten lehnen es ab, sich gewerkschaftlich zu organisieren, oder sie verfügen nicht über ausreichende zeitlichen und finanzielle Ressourcen, oder die gewerkschaftlichen Rekrutierungs- und Mobilisierungsbemühungen sind nicht ausreichend.

Eine dezidierte Aufschlüsselung darüber, wie die für das Forschungsinteresse relevanten Aspekte und Dimensionen der subjektiven Voraussetzungen unter den Beschäftigten in der Studie ermittelt werden, wird in dem folgenden Kapitel zum Untersuchungskonzept und -design dargelegt.

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6 Untersuchungskonzept und -design

Das Untersuchungskonzept der in dieser Arbeit zentralen eigenen empirischen Studie basiert auf den im vorherigen Kapitel beschriebenen Erklärungsansätzen für kollektives Handeln und berücksichtigt diejenigen verschiedenen Elemente der Theorien und Modelle, die auf der Mikroebene der Beschäftigten von Bedeutung sind. Dazu gehören sowohl Aspekte von Olsons Logik des kollektiven Handelns als auch Komponenten der Mobilisierungstheorie von Kelly (1998), der Framing-Ansatz nach Goffman (1974) und die Herangehensweise des CVM von Verba, Schlozman und Brady (1995), welches die Ursachen von ausbleibenden Partizipationsprozessen thematisiert. Vor dem Hintergrund des Erkenntnisinteresses der Untersuchung wurde im Wesentlichen ein quantitatives Forschungsdesign gewählt, das jedoch um qualitative Interviews angereichert wurde, um tiefergehende Erkenntnisse zum Mikro-Mobilisierungskontext der Beschäftigten gewinnen zu können. Insofern kann das Design als Mix-Methods-Ansatz beschrieben werden.

Im Folgenden werden zunächst die Herangehensweise und Befunde der qualitativen Voruntersuchung dargelegt (Kap. 6.1), bevor die Operationalisierung der quantitativen Hauptuntersuchung vorgestellt wird (Kap. 6.2). Zuletzt wird der methodische Zugang zum Feld und die Konstruktion der Hauptuntersuchung dargestellt (Kap. 6.3).

6.1 Qualitative Voruntersuchung: problemzentrierte Interviews mit