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6.1 Q UALITATIVE V ORUNTERSUCHUNG : PROBLEMZENTRIERTE I NTERVIEWS MIT B ESCHÄFTIGTEN

6.1.2 Befunde der Voruntersuchung als Basis der Konzeption der Hauptuntersuchung

Hauptuntersuchung

Der zusammenfassenden Inhaltsanalyse lag das Forschungsanliegen zugrunde, den Mikro-Mobilisierungskontext der Beschäftigten im SAGE-Sektor im Sinne der Mobilisierungstheorie nach Kelly (1998) besser verstehen zu wollen. Die aus der qualitativen Voruntersuchung gewonnenen Erkenntnisse sollten der quantitativen Hauptuntersuchung dienen, mit dem Ziel, die zentralen Aspekte der Gelingens- und Hinderungsgründe der streikenden Beschäftigten zu quantifizieren.

Die Befunde der Inhaltsanalyse zeigen, dass unter den Streikenden thematisch mehrere Faktoren aus dem Mikro-Mobilisierungskontext beschrieben wurden, welche das kollektive Interessenhandeln beeinflusst haben. Die von Kelly (1998) beschriebenen sozialen Anreize und Aspekte wurden dabei mehrmals betont. So zeigt die Analyse, dass Kollegialität und Solidarität sowie der bilaterale Austausch unter den streikenden Kolleg_innen zentrale Gelingensbedingungen darstellten. Denn von den Befragen wurde beschrieben, dass es unter den Kolleg_innen zu einer gegenseitigen Absprache gekommen sei und dass, teilweise ohne vertiefende Diskussionen, gemeinsam beschlossen wurde, an dem Warnstreik teilzunehmen.

Sozialer Austausch und Gefühle der gegenseitigen Verbundenheit als Gruppe sind demnach wichtige Indikatoren, die wichtige Anhaltspunkte für das kollektive Interessenhandeln sein können.

Als weiterer Faktor wurde in den Interviews die Legitimationsdimension auf verschiedenen Ebenen thematisiert. Dazu gehörte die eigene Legitimation der Beschäftigten als Form der Selbstermächtigung, die Legitimation durch die Leiter_innen der Einrichtungen sowie die Legitimation durch die Adressat_innen der SAGE-Berufe. Sowohl die Eigenlegitimation als auch die Legitimation durch die Adressat_innen wurden in den Gesprächen immer wieder im Kontext der gegenseitigen Beziehung und Abhängigkeit beschrieben. Bspw. war die Möglichkeit zur Teilnahme an den Warnstreiks oft mit Konzepten der Notfallbetreuung in den Einrichtungen verknüpft. In einem Interview wurde darüber hinaus geschildert, dass gleichzeitig zur Notfallbetreuung in einer Kindertageseinrichtung der Umstand berücksichtigt worden sei, dass die Kolleg_innen ohne eine gewerkschaftliche Mitgliedschaft zur Aufrechterhaltung der Notfallbetreuung in der Einrichtung blieben, um keine Lohnausfälle hinnehmen zu müssen. In den Interviews wurde zudem immer wieder die Situation der Adressat_innen der SAGE-Berufe als zu berücksichtigender Umstand für die Teilnahme an dem Warnstreik beschrieben. Die als „Zuneigungsgefangenschaft“ beschriebene Problematik war für das kollektive Interessenhandeln der Beschäftigten bei dem Warnstreik zwar per se kein Hindernis, aber dennoch von zentraler Bedeutung für die gewerkschaftliche Mobilisierung.

Verantwortungsgefühle seitens der Beschäftigten gegenüber den Adressat_innen sind daher

126 weitere bedeutsame Indikatoren, die im Kontext des kollektiven Interessenhandelns im SAGE-Sektor berücksichtigt werden müssen.

Als eine Erklärung, warum einige der Kolleg_innen nicht an den Warnstreiks teilnehmen würden, wurden darüber hinaus frühere Verhandlungsergebnisse durch die Gewerkschaften genannt: So wurden diese von den Kolleg_innen als zu gering wahrgenommen, als dass es sich aus Sicht der Beschäftigten lohnen würde, an den Streiks teilzunehmen. Die Kosten, die zur Erlangung des kollektiven Guts notwendig sind, werden demnach in Verbindung gesetzt mit dem gewerkschaftlichen Erfolg in Form von Verhandlungsergebnissen. Diese Beschreibung bestätigt die Relevanz der Kosten-Nutzen-Überlegungen, wie sie Olson (1965) im Rahmen der Rational Choice-Theorie darlegt, und deutet darauf hin, dass soziale und selektive Anreizstrukturen für das kollektive Interessenhandeln im SAGE-Sektor von großer Bedeutung sind. Darüber hinaus scheint die Wahrnehmung der Beschäftigten der Gewerkschaften als wirkmächtige Interessensakteurinnen im SAGE-Sektor von deren Verhandlungserfolgen abhängig zu sein, was wiederum die gewerkschaftliche Mobilisierung der Beschäftigten beeinflusst - und umgekehrt.

Neben den kritischen Einschätzungen der Wirkmächtigkeit der Gewerkschaften wurde von den Interviewten auch die mangelnde Relevanz der Beschäftigten selbst als Hinderungsgrund beschrieben. Denn aus den Interviews geht hervor, dass nach Einschätzung der Interviewpartner_innen viele Kolleg_innen der Überzeugung sind, dass ihre Beteiligung an Arbeitskämpfen irrelevant für die Verbesserungen der Arbeitsqualität ist. Die internen und externen Wirksamkeitsüberzeugungen der Beschäftigten sind insofern in Übereinstimmung mit den theoretischen Konzeptionen nach Kelly (1998) und Olson (1965) ebenfalls zu berücksichtigende Faktoren für das kollektive Interessenhandeln im SAGE-Sektor.

Unabhängig von den erwartbaren Gelingens- und Hinderungsgründen, wurden in den Gesprächen jedoch auch überraschende Aspekte beschrieben. So wurden Praktiken seitens der Arbeitgeber_innen genannt, welche Furcht vor Repressalien und Ängste unter den Beschäftigten auslösten, und es wurden Arbeitsverträge angesprochen, laut denen es untersagt ist, an Streiks teilzunehmen. Als weitere hinderliche Aspekte wurden gesundheitliche Aspekte, Lohnausfall sowie eine mangelnde Streikkultur beschrieben.

Der folgenden Tabelle können die identifizierten Kategorien sowie die jeweilige Kategorie stellvertretend charakterisierende Aussagen entnommen werden (vgl. Tab. 4).

127 Tabelle 4 Ergebnisse der qualitativen Voruntersuchung (Quelle: eigene Darstellung)

Kategorie Exemplarische Aussagen

Kollegialität und Solidarität unter den Kolleg_innen in den Einrichtungen

Interview: 170215_006: „Die haben einfach komplett zugemacht. Also wir waren uns alle einig und haben komplett zugemacht. Kita, drei Tage.“

Interview: 170215_004: „Ja genau. Es geht uns ja alle etwas an, und deswegen will ich das auch unterstützen.“

Interview: 170215_007: „Also bei uns hat die ganze Kita zugemacht.

Und dadurch konnten wir dann alle zum Streiken kommen.“

Interview: 170215_028: „Ich wollte mich solidarisch zeigen mit meinen Kollegen.“

Furcht vor Repressalien

Interview: 170215_004: „Oder trauen sich nicht.“

Interview: 170215_010: „von Schulleitern Druck zu machen, dass dann gewisse Verträge nicht mehr weitergeführt werden“

Interview: 170215_012: „Da wurde gesagt: ,Ja, hier gibt es eine Lehrerin, die streikt.‘ Und mein Name wurde über den Korridor gebrüllt.(…) „dass angeblich Schulleiter Kolleginnen, die streiken, auf Listen schreiben und die Leute von den Listen nicht entfristet werden.

Dass dann nämlich die Verträge einfach auslaufen von denen, die quasi unbequem sind.“

gesundheitliche Aspekte

Interview: 170215_002: „Ja. Ansonsten würden sie hier stehen. Aber dadurch, dass sie alle selber angeschlagen sind und waren, wollten sie das nicht noch einmal riskieren, danach dann krank zu sein."

Interview: 170215_29: „Es geht eher darum-, die sind manchmal auch müde einfach. Die können nicht mehr.“

Lohnausfall

Interview: 170215_004: „Die würden jetzt also zwei Tage Lohnabzug haben.“

Interview: 170215_14: „Wer auch nicht bereit ist, auch finanzielle Einbußen zu machen, der geht dann wahrscheinlich doch lieber arbeiten.“

Interview: 170215_030: „Wenn die Streiktage mehr werden, ist dann ja der Lohnausfall auch größer, und dann muss man wieder gucken.“

Streikkultur Interview: 170215_010: „Ja, also einfach, diese Einstellung ist halt nicht so da. Diese Streikkultur ist halt nicht so.“

gewerkschaftliche Verhandlungsergebnisse

Interview: 170215_14: „Viele sehen auch kontrovers mit den Ergebnissen von den Gewerkschaften. (…) Viele-, viele treten auch zurück, obwohl-, weil das Endergebnis nicht so ist, wie sie sich das vorgestellt haben.“

Unkenntnis - vertragliches Verbot der Teilnahme an Streiks

Interview: 170215_018: „Bei freien Trägern ist es ja teilweise so, dass es vertraglich festgelegt ist, dass man sich an Streiks nicht beteiligt.“

bilateraler Austausch unter den Kolleg_innen

Interview: 170215_018: „Bei uns war es vorher ja auch total unsicher, die letzten zwei, drei Tage. Viel geredet im Kollegium: Wir dürfen, wir dürfen nicht, was ist, wenn, oder so etwas halt.“

Wirksamkeitsüberzeugung

Interview: 170215_021: „Von vielen Kollegen gehört, die gesagt haben:

,Naja, ob ich dann nun hingehe oder nicht – ist ja auch Wurst. Was soll denn das bringen?‘“

Interview: 170215_021: „Ich rechne überhaupt nicht mit einem Ergebnis. Ich hoffe einfach nur, dass es trotzdem irgendwo etwas bewirkt, irgendwo etwas ankommt. (…) Dass es vielleicht nicht kurzfristig, aber langfristig vielleicht dann doch ein Ergebnis kommt.

Wenn wir irgendwann aufgeben und gar nicht mehr streiken, na, dann bringt es auch nichts.“

Legitimation durch die Eltern

Interview: 170215_006: „Es sind auch einige nicht in der Gewerkschaft und die bleiben dann natürlich in der Kita. Die wollen dann in eine Kita, die noch offen hat. Und dadurch kann man das noch so ein bisschen realisieren, dass die Eltern nicht ganz so erzürnt sind.“

128 Interview: 170215_006: „Nein, viele Eltern stehen auch hinter uns.“

Eigenlegitimation – Verantwortungsgefühle

Interview: 170215_019: „Von der Arbeit fern zu bleiben und Kollegen die Kinder zu überlassen, ist fast schon immer ein moralisches Dilemma.“

Interview: 170215_020: „Ja, das Dilemma ist auch das Thema Verantwortung ihren Schülern gegenüber.“

Legitimation durch die Leitung

Interview: 170215_018: „Unser Arbeitgeber, oder mein Arbeitgeber-, die Firma für die wir arbeiten, steht hinter diesem Streik und hat gesagt:

,Wir unterstützen den Streik!` Und wir haben vorhin das Go bekommen, hierher zu kommen.“

Interview: 170215_020: „Also unser Schulleiter ist sehr offen, was den Streik angeht. Er würde lieber mehr Kollegen schicken.“

Interview: 170215_023: „Also ich muss sagen: Auch von unserer Schulleitung aus haben wir eigentlich auch die Rückendeckung und sind auch unterstützt worden, hierher zu gehen.“

Die Annahme, dass soziale Aspekte eine übergeordnete Bedeutung im Mikro-Mobilisierungskontext haben, wurde somit bestätigt. Denn Kollegialität, Solidarität und bilateraler Austausch waren zentrale Voraussetzungen für das kollektive Interessenhandeln.

Als ein Spezifikum im Kontext sozialer Aspekte und kollektiver Interessenorganisation im SAGE-Sektor kann die als „Zuneigungsgefangenschaft“ beschriebene Problematik angesehen werden. Die Befunde der qualitativen Voruntersuchung zeigen die fundierte Beziehung zwischen den Adressat_innen und Beschäftigten im SAGE-Sektor, sodass das Wohlergehen der Kinder, Patient_innen und sonstigen Klient_Innen im SAGE-Sektor immer eine notwendige Voraussetzung für kollektives Interessenhandeln darstellt.

Die Befunde der qualitativen Voruntersuchung zeigen dementsprechend, dass es für die Erkundung des Mikro-Mobilisierungskontextes im Rahmen der kollektiven Interessenorganisation im SAGE-Sektor notwendig ist, sowohl soziale Aspekte als auch die internen und externen Wirksamkeitsüberzeugungen und die als „Zuneigungsgefangenschaft“

beschriebene Problematik im Rahmen der quantitativen Hauptuntersuchung zu eruieren.

Darüber hinaus kam überraschend zum Ausdruck, dass Praktiken seitens der Arbeitgeberer_innen existieren (Repressalien und Streikverbote in Arbeitsverträgen), welche die kollektive Interessenorganisation aktiv behindern. Wie verbreitet derartige Praktiken sind, ist daher ebenfalls in der Untersuchung zu erforschen.

Was im Rahmen von anderen Untersuchungen interessant zu untersuchen wäre, ist die Frage, wie es überhaupt zu den als Gelingensbedingungen beschriebenen Faktoren gekommen ist: Wie ist es z.B. zu erklären, dass manche Einrichtungsleiter_innen die Arbeitskämpfe im SAGE-Sektor durch die klare Aufforderung, dass die Beschäftigten an Streiks teilzunehmen sollen, aktiv unterstützen, während andere Einrichtungsleiter_innen das kollektive Interessenhandeln aktiv behindern.

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6.2 Operationalisierung der quantitativen Hauptuntersuchung: Der