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Die Grenzöffnung im Kontext der Langzeitentwicklungen und

I. Vorbemerkungen

2. Die Grenzöffnung im Kontext der Langzeitentwicklungen und

gehört zu den am besten aufgearbeiteten Kapiteln der Geschichte des Jahres 1989.164 Dennoch werden der Beitrag dieser Entwicklungen und die Rolle Österreichs auf dem Weg zur Öffnung der Mauer mangels ausreichender Kontextualisierung in der Geschichtsschreibung des Jahres 1989 nach wie vor unterschätzt. Bedeutende Aspekte der Vorgeschichte und unmittelbare Hintergründe werden dabei oftmals ausgeblendet. Daher wird an dieser Stelle zu einer Rückblende auf die Langzeit-entwicklungen ausgeholt.

Die Beziehungen zwischen Österreich und Ungarn entwickelten sich in den 1970er- und 1980er-Jahren zu einem Paradebeispiel der europäischen Entspan-nung im Kalten Krieg. Ausdruck fand dies nicht nur in zahlreichen Staatsbesu-chen, sondern in ihrer besonderen Qualität, die das zwischen westlichen und Warschauer-Pakt-Staaten übliche Maß bei Weitem überstieg. Die seit 1964 be-ständig verbesserten Beziehungen führten auch zu einer – im Vergleich zu an-deren Abschnitten der den Kontinent teilenden Ost-West-Grenze  – entspann-ten Lage am Eisernen Vorhang. Grenzüberschreientspann-tender Verkehr, wechselseitiger Tourismus, aber auch regionale Ost-West-Kooperationen hatten sich beständig intensiviert. Eine wichtige Vorbedingung hierfür war die Entschärfung der Lage an der Grenze. Nach zahlreichen Zwischenfällen in den 1960er-Jahren war die Grenze ab 1971 endgültig entmint. Mit Anfang 1979 trat ein Abkommen über den visafreien Reiseverkehr in Kraft. Dies war ein von Österreich seit langem

ver-Matthias Peter / Hermann Wentker (Hg.), Die KSZE im Ost-West-Konflikt. Internationale Politik und gesellschaftliche Transformation 1975–1990 München 2012, S. 219–231; Bernd Eisenfeld, Reaktionen der DDR-Staatssicherheit auf Korb III des KSZE-Prozesses, in: Deutsch-land Archiv 38 (2005), S. 1000–1008; Erhard Crome / Jochen Franzke, Die SED-Führung und die Wiener KSZE-Konferenz 1986 bis 1989. Dokumente aus dem Parteiarchiv, in: Deutsch-land Archiv 26 (1993) 8, S. 905–914.

164 Zur Grenzöffnung grundlegend Andreas Oplatka, Der erste Riß in der Mauer. September 1989 – Ungarn öffnet die Grenze, Wien 2009. Zu den Ereignissen 1989 im öster-reichisch-ungarischen Kontext zuletzt Michael Gehler, Bonn – Budapest – Wien. Das deutsch-österreichisch-ungarische Zusammenspiel als Katalysator für die Erosion des SED-Regimes 1989/90, in: Andrea Brait / Michael Gehler (Hg.), Grenzöffnung 1989: Innen- und Außen-perspektiven und die Folgen für Österreich, Wien / Köln / Weimar 2014, S. 135–162.

folgtes Ziel, das nach Kreditgewährungen durch Österreich Realität wurde und den wechselseitigen Reiseverkehr deutlich ausweitete. Insgesamt bildete sich ein Verhältnis heraus, dass das Niveau der Beziehungen Österreichs zu vielen west-lichen Staaten bereits überstieg. Grundlage hierfür war nicht nur das im Vergleich zu anderen Staaten entspannte Verhältnis an der Grenze, sondern auch der als

„Gulaschkommunismus“ bekannt gewordene – und von Österreich wohlwollend bewertete – ungarische, etwas lockerere Weg im sozialistischen Lager sowie die in den 1980er-Jahren einsetzenden, zunächst vor allem wirtschaftlichen Reformen.

Ab 1988 erhöhte sich das Tempo der Veränderungen in Ungarn dann rasant. Aus-druck hierfür war auch die seit Jahresbeginn gewährte Reisefreiheit.165

Ab dem 1. Jänner 1988 hatte jeder ungarische Staatsbürger Anspruch auf den sogenannten „Weltpass“. Mit diesem konnte man das Land jederzeit, ohne die früheren Einschränkungen verlassen und, was im Ostblock ebenfalls nicht selbst-verständlich war, man durfte auch jederzeit wieder zurückkehren. Bisher nicht bekannt war, dass das ungarische Politbüro die Frage der Reisefreiheit ausgehend von dem österreichischen Ansinnen, ein Abkommen über den kleinen Grenzver-kehr zu schließen, diskutierte. Ein solches Abkommen wurde mit der Gewährung der Reisefreiheit überflüssig. Bald entstand ein echter Reiseboom. Bereits im Jahr 1988 überschritten Millionen Ungarn die Grenze zu Österreich und nutzten ihre Ausflüge in den Westen primär zum Einkaufen. Der Einkaufstourismus hatte ne-ben dem grenznahen Gebiet größtenteils Wien zum Ziel. Die relativ plötzlich über Wien hereinbrechende Welle von Ungarn führte dazu, dass die bekannte Wiener Einkaufsstraße namens „Mariahilferstraße“ von spöttelnden Einheimischen als

„Magyarhilferstraße“ bezeichnet wurde. Am stärksten betroffen war aber das Burgenland. Ohne den zwei Jahrzehnte andauernden Prozess, der zu einer zu-nehmend durchlässiger werdenden Grenze führte, sind die rasanten Entwick-lungen des Jahres 1989 nicht zu verstehen. Endgültig möglich wurden sie schließ-lich nicht zuletzt aufgrund der innerungarischen politischen Veränderungen.

Im Frühjahr wurde nach vorheriger Ankündigung im Rahmen eines Treffens der Regierungschefs Miklós Németh und Franz Vranitzky mit dem Abbau der technischen Grenzsperren an der österreichisch-ungarischen Grenze begonnen.

Die Bilder von den Abbrucharbeiten, von Alois Mock und Gyula Horn bei der inszenierten Durchschneidung des Eisernen Vorhangs am 27. Juni 1989166 und jene vom sogenannten „Paneuropäischen Picknick“ am 19. August 1989 waren hochgradig dafür verantwortlich, dass sich die Fluchtbewegung der DDR-Bürger

165 Hierzu und zum Folgenden: Maximilian Graf, Eine neue Geschichte des „Falls“ des Eisernen Vorhangs. Die Öffnung der österreichisch-ungarischen Grenze 1989 in Langzeitperspektive und ihre unmittelbaren Folgen für die DDR, in: Jahrbuch für Mitteleuropäische Studien 2014/2015, Wien 2016, S. 347–371; idem, The opening of the Austrian – Hungarian border revisited. How European détente contributed to overcoming the „Iron Curtain“, in: Bernhard Blumenau / Jussi M. Hanhimäki / Barbara Zanchetta (Hg.), New Perspectives on the End of the Cold War. Unexpected Transformations?, London 2018, S. 139–158 .

166 Zu den Gesprächen Mock – Horn am Vortag der Entstehung der Bilder siehe Dok. 45.

ausweitete.167 Diese erfasste nicht nur Ungarn, neben der Budapester Botschaft waren auch jene in Warschau und Prag von nicht heimkehrwilligen DDR-Bürgern besetzt, deren Ausreise es in mühsamen und langwierigen Verhandlungen zu er-wirken galt.168

Deutlich war für Österreich bei aller Abstimmung zwischen Ballhausplatz und Auswärtigem Amt, wie viel für die Bundesrepublik auf dem Spiel zu stehen schien, zumal die von der Ausreisewelle ausgehende Dynamik noch nicht voll erfasst werden konnte.169 Die Ständige Vertretung in Ost-Berlin war geschlossen und das Erreichen einer Lösung mit Warschau und Prag gestaltete sich für Bonn schwie-rig. Einfacher war es mit Budapest, obwohl sich auch die ungarische Regierung auf den Standpunkt gestellt hatte, dass die Lösung der Frage der DDR-Flüchtlinge Aufgabe der beiden deutschen Staaten sei. Die Intransigenz, mit der die DDR -Füh-rung der Lösung des Problems entgegentrat und ihrerseits auf die Rückfüh-Füh-rung der Ausreisewilligen in den SED-Staat beharrte, führte dazu, dass sich die refor-mierte ungarische Führung dazu entschloss, deren Ausreise nach Österreich zu ermöglichen. Nach dem Abbau des Eisernen Vorhangs und dem Wirksamwerden des ungarischen Beitritts zur Genfer Flüchtlingskonvention, der insbesondere wegen der seit 1988 zunehmenden Zahl ungarischer Flüchtlinge aus Rumänien erfolgt war, schien nur eine derartige Lösung dem neuerworbenen ungarischen Prestige gerecht zu werden.170

Der seit mehr als zwei Jahrzehnten mit vielen Fort- und Rückschritten kon-tinuierliche und seit 1988 rasant voranschreitende Reformprozess hatte nicht nur das österreichisch-ungarische Musterbeispiel der europäischen Entspannung im Kalten Krieg ermöglicht, auch die Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und Ungarn hatten sich insbesondere seit den 1970er-Jahren konsequent ver-bessert. Im ungarischen Außenhandel mit dem Westen stand Bonn schon lange an erster Stelle. Vor dem Hintergrund der massiven ungarischen

Wirtschafts-167 Maximilian Graf, Das Paneuropäische Picknick im Kontext. Wie Österreich zum Tor in die Freiheit werden konnte und welche Folgen dies hatte, in: Stefan Karner / Philipp Lesiak (Hg.), Der erste Stein aus der Berliner Mauer. Das paneuropäische Picknick 1989 (erscheint Graz / Wien 2018).

168 Siehe dazu zuletzt: Katarzyna Stokłosa, „Die letzte Fluchtwelle aus der DDR im Jahr 1989.

Aus den Berichten der westdeutschen Botschaften in Budapest, Prag und Warschau,“ in: Zeit-schrift für Ostmitteleuropa-Forschung 64 (2015) 1, S. 40–80.

169 Siehe Dok. 50.

170 Siehe dazu die Beiträge von György Gyarmati, Das Vorspiel für das Endspiel. Die Staats-sicherheit Ungarns 1989; und Imre Tóth, Die Auswirkungen der ostdeutschen Flüchtlings-frage auf die „Dreiecksbeziehung“ Berlin – Bonn – Budapest in: György Gyarmati / Krisztina Slachta (Hg.), Das Vorspiel für die Grenzöffnung. Das Paneuropäische Picknick in Sopron am 19. August 1989, Sopron / Budapest 2014. Zusammenfassend: Gehler, Bonn – Budapest – Wien, S. 143–145; Andreas Schmidt-Schweizer, Die Öffnung der ungarischen Westgrenze für die DDR-Bürger im Sommer 1989. Vorgeschichte, Hintergründe und Schlussfolgerungen, in:

Südosteuropa Mitteilungen 37 (1997) 1, S. 33–53; idem, Motive im Vorfeld der Demontage des „Eisernen Vorhangs“ 1987–1989, in: Peter Haslinger (Hg.), Grenze im Kopf, Frankfurt am Main / Berlin / Bern 1999, S. 127–139.

krise, die sich mit der einsetzenden Transformation noch weiter verschärfte, war die Bundesrepublik als Kreditgeber von ungeheurer Bedeutung.171 Jedoch schien auch in Bonn – wie in so vielen anderen westlichen Kapitalen – der Ausgang der ungarischen Entwicklung noch unsicher. Auch in der Flüchtlingsfrage war die längste Zeit ungewiss, ob eine Regelung im Sinne der Bundesrepublik möglich sein würde.

Einen ersten handfesten Beleg dafür lieferte Budapest, wo die grundsätzliche Entscheidung bereits gefallen war, die Ausreise der DDR-Bürger zu ermöglichen, sollten die beiden deutschen Staaten zu keiner Lösung gelangen, als in der Nacht vom 23. auf 24. August die Budapester Botschaftsflüchtlinge nach Wien aus-geflogen werden konnten. Tags darauf trafen Außenminister Horn und Minis-terpräsident Németh am 25. August unter strengster Geheimhaltung auf Schloß Gymnich bei Bonn mit Bundeskanzler Kohl und Außenminister Genscher zusam-men und unterrichteten die Bundesrepublik über die ungarische Entscheidung.

Zum Leidwesen der ungarischen Politiker gelang es nicht, die Annahme eines Zusammenhangs zwischen der humanitären Entscheidung und der Hoffnung auf weitere bundesdeutschen Kredite, die bald darauf vergeben wurden, zu vermei-den. Nach dem Treffen begannen jedenfalls umgehend die Vorbereitungen auf den terminlich noch nicht festgelegten – denn noch immer hätte Ungarn eine Lösung im Einvernehmen mit der DDR bevorzugt – Tag X der Grenzöffnung. In diese musste natürlich auch das Transitland Österreich sofort eingebunden werden.172

Österreich sagte in Absprache mit der Bundesrepublik und Ungarn seine volle Unterstützung bei der Ausreise der DDR-Bürger zu. Der bundesdeutsche Botschafter Dietrich Graf von Brühl vermerkte zur Haltung Österreichs in der Flüchtlingsfrage: „Diese Zustimmung Österreichs wurde sofort erteilt.“173 Um die – trotz allem – guten Beziehungen zur noch gänzlich unreformierten DDR nicht zu gefährden und die bilateralen Verträge einzuhalten, fand man eine „sehr österreichische“ Lösung. In jeden Ausweis eines Flüchtlings wurde von den Grenz-beamten ein loses Blatt mit Visumsstempel eingelegt und der Name des

Flücht-171 Den umfassendsten deutschsprachigen Überblick zu den ungarisch-westdeutschen Bezie-hungen bietet die der Memoirenliteratur zuzurechnende Publikation des ehemaligen unga-rischen Botschafters in der Bundesrepublik István Horváth, Die Sonne ging in Ungarn auf.

Erinnerungen an eine besondere Freundschaft, München 2000; siehe weiters mit Überblick-charakter Haus der Geschichte Baden-Württemberg / Kulturinstitut der Republik Ungarn (Hg.) Ungarn und Deutschland – eine besondere Beziehung, Tübingen 2002. Zusammen-fassend aus der zeitgenössischen Perspektive vor 1989 siehe Gyula Józsa, Die Bundesrepublik Deutschland und Ungarn – Traditionell gute Beziehungen über Systemgrenzen hinweg, in:

Othmar Nikola Haberl / Hans Hecker (Hg.), Unfertige Nachbarschaften. Die Staaten Ost-europas und die Bundesrepublik Deutschland, Essen 1989. Quellengestützt wird die Thema-tik von Andreas Schmidt-Schweizer bearbeitet. Ein erster Überblick liegt nun in Form einer monografischen Einleitung vor. Schmidt-Schweizer, Die politisch-diplomatischen Beziehun-gen in der Wendezeit, S. 11–213.

172 Gehler, Bonn – Budapest – Wien, S. 145–148.

173 Dietrich Graf Brühl, Flucht in die Freiheit, in: Manfried Rauchensteiner (Hg.), Aufbruch in eine neue Zeit. 1989 im Rückblick, Wien 2000, S. 9–34, hier S. 22 und 30–34.

lings vermerkt, damit war die Einreise genehmigt. Das Einlegeblatt wurde an der Grenze zur Bundesrepublik wieder herausgenommen. Dem Visumsabkommen mit der DDR war damit Genüge getan.174

Am 11. September 1989 öffnete Ungarn schließlich die Grenze und Österreich unterstützte die Aus- und Weiterreise der DDR-Bürger in die Bundesrepublik.

Die Welle hatte sich nun Bahn gebrochen. Im Angesicht der Freude schwang aber auch Sorge vor Flüchtlingsströmen aus weiteren Ländern mit.175 Genscher dankte Österreich und zeigte sich hinsichtlich der zukünftigen Entwicklung in der DDR vorsichtig.176 Die Durchreise in den Folgetagen wurde maßgeblich vom öster-reichischen Roten Kreuz betreut und verlief reibungslos. Nach dem ersten gro-ßen Ansturm reduzierte sich die Zahl der Einreisenden rasch. Insgesamt dürften ca. 50.000 DDR-Deutsche über Österreich in die Bundesrepublik ausgereist sein.

Rückwirkungen auf die Beziehungen zur DDR erwartete man eine Woche nach der Grenzöffnung keine.177

An dieser Stelle erscheint es geboten, einen Blick auf die ostdeutsche Perzeption der Vorgeschichte und der Entwicklungen des Jahres 1989 zu werfen. Bereits An-fang der 1970er-Jahre hatte man in Ost-Berlin sorgenvoll auf die Situation an der österreichisch-ungarischen Grenze geblickt. Im Zuge der Verhandlungen über die Regelung des deutsch-deutschen Verhältnisses 1972 befürchtete man, die Zusam-menarbeit an diesem Abschnitt des Eisernen Vorhangs als Beispiel für die Grenz-situation zwischen der Bundesrepublik und der DDR vorgehalten zu bekommen.

Der 1979 zwischen Österreich und Ungarn in Kraft getretene visafreie Reisever-kehr wurde durch die Stasi argwöhnisch verfolgt. Während Ungarn die DDR über die gute Entwicklung informierte und eine weitere Forcierung des Reiseverkehrs anstrebte, blieb man in Ost-Berlin skeptisch. Bezeichnenderweise hatte man in Budapest freimütig bekannt: „Vielfach machen uns Staatsbürger einiger sozialis-tischer Länder mehr Schwierigkeiten als die Österreicher.“178

174 Oplatka, Der erste Riß in der Mauer, S. 195; Gehler, Bonn – Budapest – Wien, S. 147–149;

Helene Thiesen, „Einreisesichtvermerk“ – Hilfe für DDR-Flüchtlinge, in: Stiftung Haus der Geschichte der Bundes republik Deutschland (Hg.), Verfreundete Nachbarn. Deutschland – Österreich (Ausstellungskatalog), Bonn / Bielefeld 2005, S. 220–221.

175 Siehe Dok. 53. Siehe zu dieser Problematik weiterführend: Maximilian Graf / Sarah Knoll, In Transit or Asylum Seekers? Austria and the Cold War Refugees from the Communist Bloc, in: Günter Bischof / Dirk Rupnow (Hg.), Migration in Austria (Contemporary Aus-trian Studies 26), Innsbruck / New Orleans 2017, S. 91–111; Maximilian Graf / Sarah Knoll, Das Ende eines Mythos? Österreich und die Kommunismusflüchtlinge, in: Börries Kuzmany / Rita Garstenauer (Hg.), Aufnahmeland Österreich. Über den Umgang mit Massenflucht seit dem 18. Jahrhundert, Wien 2017, S. 206–229.

176 Siehe Dok. 54.

177 Siehe Dok. 56. Im Dokument werden nur die registrierten Durchreisezahlen der ersten Wo-che nach der Grenzöffnung angegeben. Für die gemeinhin angenommene Zahl von insgesamt bis zu 50.000 siehe stellvertretend für viele: Oplatka, Der erste Riß in der Mauer, S. 231.

178 Ausführlich dazu: Maximilian Graf, Die Welt blickt auf das Burgenland. 1989 – die Grenze wird zum Abbild der Veränderung, in: Maximilian Graf / Alexander Lass / Karlo Ruzicic-Kess-ler (Hg.), Das Burgenland als internationale Grenzregion im 20. und 21. Jahrhundert, Wien 2012, S. 135–179, hier S. 143–144, für das wörtliche Zitat S. 144.

Die 1989 offenkundig werdende beginnende politische Transformation Ungarns und den Abbau des Eisernen Vorhangs zu Österreich sah die SED als Beweis da-für, dass Ungarn für die „Sache des Sozialismus“ verloren sei. Als Erich Honecker in der Sitzung des SED-Politbüros vom 15. Juni 1989 „die Befürchtung“ äußerte,

„daß die Entwicklung in Ungarn nicht mehr aufzuhalten“ sei und „Ungarn weiter in das bürgerliche Lager abgleiten“ werde,179 war dies nur eine Etappe einer zu-nächst schleichenden, sich aber ständig beschleunigenden Entwicklung.180 Das bevorstehende Szenario der Grenzöffnung blieb der DDR-Staatsführung eben-falls nicht verborgen. Frank und frei hatten die Ungarn den in Agonie gefalle-nen SED-Vertretern erklärt, dass die zigtausenden DDR-Flüchtlinge in Ungarn eine unhaltbare Situation darstellten, diese aber keinesfalls in die DDR zurück-geschickt würden und man daher die Grenze öffnen werde. Dies bedeutete nichts anderes, als dass Ungarn „alle DDR-Bürger nach Österreich ausreisen lassen würde, die durch ein Einreisevisum auf ihrem Reisedokument nachweisen kön-nen, daß sie in Österreich aufgenommen werden“.181 Zudem hatte der ungarische Außenminister Gyula Horn in einem Gespräch mit DDR-Außenminister Oskar Fischer darauf hingewiesen, dass Ungarn „auch nicht zum früheren Grenzregime gegenüber Österreich zurückkehren könne“, da es die „große Bedeutung der Be-ziehungen zu Österreich“ berücksichtigen müsse.182

Fünf vor Zwölf dachte das SED-Politbüro noch über ein direktes Herantreten an Österreich nach.183 Eine entsprechende Intervention fand aber nicht mehr

179 Sitzung des Politbüros des ZK der SED, 15. Juni 1989, Aufzeichnungen von Egon Krenz, SAPMO-BArch, DY 30/IV 2/2.039/74, Bl. 24.

180 Die Beziehungen zwischen der DDR und Ungarn sind bisher kaum Gegenstand der wissen-schaftlichen Aufarbeitung geworden. Vgl. zu diesem Faktum: Hermann Wentker, Außen-politik in engen Grenzen. Die DDR im internationalen System 1949–1989, München 2007, S. 528–529. Die Akten der Abteilung Internationale Verbindungen beim ZK der SED las-sen eine schleichende „Entfremdung“ seit den 1970er-Jahren erkennen: SAPMO-BArch, DY 30/12636; SAPMO-BArch, DY 30/12637; SAPMO-BArch, DY 30/12626.

181 Vermerk über das Gespräch des Mitglieds des Politbüros und Sekretärs des ZK der SED, Ge-nossen Günter Mittag, mit dem Minister für Auswärtige Angelegenheiten der Ungarischen Volksrepublik, Genossen Gyula Horn, am 31. August 1989, gezeichnet Schindler, in: Arbeits-protokoll der Sitzung des Politbüros des Zentralkomitees vom 5. September 1989 (= Protokoll Nr. 35/89), SAPMO-BArch, DY 30/J IV 2/2A/3238, Bl. 30–34. Zum SED-internen Umgang mit dem Abbau des Eisernen Vorhangs durch Ungarn Hans-Hermann Hertle, Der Fall der Mauer.

Die unbeabsichtigte Selbstauflösung des SED-Staates, Wiesbaden 1996, S. 91–109, hier ins-besondere S. 92–98; Gereon Schuch, „Verleumdung, Beleidigung und grobe Einmischung“.

Die Öffnung der ungarisch-österreichischen Grenze im Herbst 1989 im Spiegel der SED-Akten, in: Deutschland Archiv 32 (1999) 2, S. 242–253, hier S. 242–243.

182 Vermerk über das Gespräch des Ministers für Auswärtige Angelegenheiten, Genossen Oskar Fischer, mit dem Minister für Auswärtige Angelegenheiten der Ungarischen Volksrepublik, Genossen Gyula Horn, am 31. August 1989, gezeichnet Schindler, in: Arbeitsprotokoll der Sitzung des Politbüros des Zentralkomitees vom 5. September 1989 (= Protokoll Nr. 35/89), SAPMO-BArch, DY 30/J IV 2/2A/3238, Bl. 34–39.

183 Siehe hierzu die Aufzeichnungen von Egon Krenz über die betreffende Sitzung: SAPMO-BArch, DY 30/IV 2/2.039/77, Bl. 1–5.

statt.184 Mit der Grenzöffnung hatten sich die seit den 1970er-Jahren vorhandenen schlimmsten Befürchtungen der DDR bewahrheitet. Dennoch erfolgten keine di-rekten Angriffe auf Österreich. Medial wurde in gewohnter Manier die Bundes-republik und diesmal auch Ungarn attackiert.185 Die österreichische Botschaft in Ost-Berlin drängte zwar darauf, den während der Flüchtlingskrise unverändert fortgesetzten militärischen Delegationsaustausch zwischen Ost-Berlin und Wien angesichts der entstandenen Lage einzuschränken,186 doch auch Österreich war um Schadensbegrenzung bemüht. Insbesondere die Wirtschaftsbeziehungen soll-ten trotz der sich zuspitzenden Krise der DDR keine Einschränkung erfahren. Da-für war aber auch ein gutes bilaterales Verhältnis notwendig, das nach der öster-reichischen Unterstützung bei der Ausreise der DDR-Bürger nicht mehr gesichert scheinen konnte. Bereits inmitten der sich im August akut zuspitzenden „Flücht-lingskrise“ wollte Bundeskanzler Vranitzky im Rahmen eines privaten DDR -Be-suchs am 25. September das direkte Gespräch mit Honecker suchen. Dieser war aber krank und schlussendlich sagte Vranitzky seinen Besuch reichlich kurz-fristig am 22. September, also erst mehr als eine Woche nach der Grenzöffnung, ab.187 Jeder Zusammenhang mit der Flüchtlingsproblematik wurde kategorisch in Abrede gestellt. Agenturmeldungen gingen vom Gegenteil aus. Vermutlich wollte Vranitzky in Anbetracht der sich beschleunigenden Ereignisse die weitere Ent-wicklung abwarten.188

Beruhigend war für Österreich aber zunächst die Feststellung, dass die Sowjet-union nicht merklich in das Grenzöffnungsszenario einzugreifen versucht hatte.189 Der einer konservativen Elite des sowjetischen Außenministeriums angehörige, seit jeher mit Deutschland befasste Diplomat Alexander Bondarenko vertrat hin-gegen im Gespräch mit Nationalratsabgeordneten Ludwig Steiner (ÖVP) nach-drücklich den DDR-Standpunkt und informierte nach Schewardnadses Rede vor der UNO-Vollversammlung am 26. September 1989, in der dieser vor dem „deut-schen Revanchismus“ gewarnt hatte, über die sowjetische Haltung zur deut„deut-schen Frage. Dies sollte sich in den kommenden zwölf Monaten zu einer Routineübung der sowjetischen Diplomatie entwickeln. Seitens der österreichischen Botschaft in Moskau verband man die in der sowjetischen Außenpolitik offenkundig be-stehenden Meinungsverschiedenheiten durchaus mit einer gewissen Hoffnung – nicht zuletzt in Blickrichtung des österreichischen EG-Beitrittsantrags.190 Seit 1988 zeichnete sich ab, dass die sowjetischen Widerstände gegen einen solchen

184 Zumindest konnte bisher kein derartiges Dokument in den Archiven ausfindig gemacht

184 Zumindest konnte bisher kein derartiges Dokument in den Archiven ausfindig gemacht