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Österreich und die scheinbare Stabilität des SED -Regimes

I. Vorbemerkungen

1. Österreich und die scheinbare Stabilität des SED -Regimes

Seit 1986/87 verfolgten die österreichischen Medien und die Diplomatie die Aus-wirkungen von Michail Gorbatschows Reformpolitik auf die Warschauer-Pakt-Staaten mit großer Aufmerksamkeit. Obwohl der „Kontrast zwischen Theorie und Realität“ immer augenscheinlicher wurde, wertete die österreichische Bot-schaft in Ost-Berlin die Ära Honecker immer noch als „recht erfolgreich“.136Unter Betonung ihrer Eigenständigkeit verfolgte die SED ihre eigenen außenpolitischen Schwerpunkte, wie die Beziehungen zur SPD. In den deutsch-deutschen Bezie-hungen sah es ein Jahr vor dem Honecker-Besuch noch nach „Selbstbeschrän-kung“ auf Moskaus Wunsch aus.137 Die wachsenden Divergenzen zwischen der Sowjetunion und der DDR waren aber auch der österreichischen Diplomatie nicht gänzlich verborgen geblieben. Im März 1987 wurde die Haltung der DDR -Füh-rung zur Perestroika am Wiener Ballhausplatz als „zwiespältig“ gewertet. Trotz offizieller Zustimmung zum Kurs Gorbatschows war nun in Äußerungen Hone-ckers eine „deutliche Distanz“ zu dessen Reformpolitik auszumachen. Ihre Wir-kung auf die DDR war aber nicht abzustreiten.138 Noch ging es der SED-Spitze darum, die „Eigenständigkeit“ und die „besonderen Bedingungen“ jedes einzel-nen Warschauer-Pakt-Staats herauszustreichen. Am Ballhausplatz schien klar:

„Stabilität hat Vorrang vor Experimenten“. Auch von der Sowjetunion nahm man an, kein Interesse an „Experimenten im industriell am weitesten entwickelten RGW-Partnerland“ zu haben.139

133 Siehe Dok. 9.

134 Siehe Dok. 10.

135 Siehe Dok. 15.

136 Siehe Dok. 3.

137 Siehe Dok. 4.

138 Siehe Dok. 5.

139 Siehe Dok. 7 (Hervorhebung im Original). Ein Bericht der österreichischen Botschaft in Ost-Berlin zu den Auswirkungen der Perestroika auf die DDR vertrat auch die Ansicht, dass ihre Situation im Vergleich „einzigartig“ war und die Sowjetunion selbst kein Interesse an ihrer Destabilisierung haben konnte. Siehe Dok. 12.

Trotz aller Selbstzufriedenheit der SED-Führung waren „in der DDR eine Reihe schwieriger sozialer und innenpolitischer Entwicklungen nicht zu übersehen“.

Grundsätzlich herrschte in der DDR eine Mangelwirtschaft. Daran hatten auch die inszenierten außenpolitischen und die vermeintlichen wirtschaftlichen Er-folge nichts geändert. Die gegen Devisen erwerbbaren Importprodukte spalteten die Gesellschaft viel mehr, als sie einen positiven Effekt erzielten. Das allgemein verfügbare Warenangebot hielt mit den Ansprüchen der Menschen nicht Schritt, so war beispielsweise die Wartezeit beim Erwerb eines PKWs unverändert lang.

Die absolut steigenden Reisezahlen verstärkten zudem die Ungleichheit in der Bevölkerung: während manche Bürger mehrfach in die Bundesrepublik reisen konnten, blieb dies anderen ohne Zugang zur D-Mark versagt. Gorbatschows Reformpolitik hatte Erwartungen geweckt, der Dialog der SED mit der westdeut-schen SPD gewisse Irritationen verursacht, jedoch stand jede oppositionelle Re-gung noch unter den strengen Augen des Staatssicherheitsdienstes. Der Ballhaus-platz erwartete dennoch weiterhin eine stabile Entwicklung der augenscheinlich in einer prekären Situation befindlichen DDR.140 Das stärkere Sichtbarwerden oppositioneller Strömungen Anfang 1988 sowie auch die Reaktionen des Regimes wurden durchaus als Resultat von Glasnost und Perestroika gewertet.141

Im Laufe des Jahres 1988 blieb unklar, ob „die Forderungen nach Offenheit, Umgestaltung und vermehrten Chancen in der DDR selbst zunehmen“ wür-den. Klar war aber: „Zum jetzigen Zeitpunkt und beim jetzigen Führungsteam der DDR unter Honecker ist jedoch keine Änderung des Weges abzusehen.“142 Ironischerweise stützte die SED-Führung ihre Argumentation zur Beibehaltung ihres bisherigen Weges auf die von Gorbatschow postulierte Eigenständigkeit der Bruderstaaten. Für jeden Beobachter war aber klar, dass die DDR seine Refor-men, mit Ausnahme Rumäniens, am zurückhaltendsten aufgenommen hatten.143 Diese Unterschiede wurden auch in den Beziehungen der Warschauer-Pakt-Staa-ten untereinander immer offensichtlicher. Während im Verlauf des Jahres 1988 deutlich wurde, wie kompliziert das Verhältnis zu dem mit Reformen voran-schreitenden Ungarn geworden war,144 rückten die reformresistenten Führun-gen der DDR, der Tschechoslowakei und sogar Rumäniens enger zusammen.145 Von entscheidender Bedeutung war aber das Verhältnis zur Sowjetunion. Als Honecker im Oktober 1988 die UdSSR besuchte, gelang es nur noch beschränkt, die grundunterschiedlichen Zugangsweisen zu kaschieren. Diese waren auch für

140 Siehe Dok. 16.

141 Siehe Dok. 17.

142 Gesandter Lorenz Graf an BMAA, Berlin (Ost), 6. Oktober 1988, Zl. 225-RES/88, BMEIA, ÖB Berlin (Ost), RES-1988 (01–06), Karton 22 (Hervorhebung im Original).

143 Siehe Dok. 14.

144 Siehe Dok. 26. Ungarische Diplomaten führten die Reformresistenz der DDR in ihren Kon-sultationen mit der Ballhausplatzdiplomatie auf die „offene Frage der Existenz von 2 deut-schen Staaten“ zurück. Siehe Dok. 28.

145 Siehe Dok. 31.

die auf die Medienberichterstattung angewiesenen österreichischen Diplomaten offenkundig.146

Ende 1988 wurde am Ballhausplatz gefragt, ob die durch Gorbatschows Re-formen angestoßenen Prozesse einen „Wandel“ in Osteuropa ausgelöst hätten.

Während diese Frage mit Blick auf Polen oder Ungarn ausdrücklich mit einem Ja zu beantworten war, stellte sich die Lage in der DDR noch etwas anders dar. Trotz der stets hervorgestrichenen „Zufriedenheit mit dem Erreichten“ war auch offen-kundig, dass „in letzter Zeit verstärkt Probleme“ aufgetreten waren. Die Notwen-digkeit eines Wechsels in der überalterten Führung war „evident“. Wann und in welcher Form dieser stattfinden würde, war aber genauso unabsehbar wie dessen Auswirkungen auf die künftige Ausrichtung des ostdeutschen Regimes. Trotz

„eines kontinuierlichen Zunehmens an Protestpotential unter den DDR-Bürgern“

und „Unzufriedenheit weiter Kreise der Bevölkerung“ blieb der Ballhausplatz der Überzeugung, dass „die DDR ihre Stabilität beibehalten“ werde.147 Österreichs Botschafter in Ost-Berlin, Franz Wunderbaldinger, meinte sogar, die „entwickelte innere Sicherheit in der DDR garantiere die innere Stabilität voraussichtlich noch auf Jahre hinaus. Allenfalls wird punktuell auf kulturellem Gebiet zeitweilig das Ventil geöffnet.“148

Anfang 1989 war in Wien das seit 1986 tagende dritte KSZE-Folgetreffen zu Ende gegangen. Auf diesem war der Westen hart aufgetreten und hatte gefordert, dass Fortschritte in humanitären Fragen nicht nur auf dem Papier erreicht, son-dern auch in die Tat umgesetzt werden müssten. Einen Schwerpunkt stellte die Reisefreiheit dar. Die DDR-Diplomatie und Politik hatten sich die längste Zeit gegen weitreichende Formulierungen zu humanitären Fragen gesträubt und schließlich nur auf sowjetischen Druck dem Schlussdokument vom 15. Jänner ihre Zustim-mung gegeben. Einige Ergebnisse von Wien, wie beispielsweise die Abschaffung des Zwangsumtausches bei Besuchsreisen, wollte die SED-Führung in gewohnter Manier schlichtweg nicht umsetzen. Die Formulierungen des Abschlussdoku-ments wurden von der SED auch nur in verfälschter Weise veröffentlicht.149

Im Gespräch der Außenminister Alois Mock und Hans-Dietrich Genscher am Rande des Abschlusses der Wiener KSZE-Folgekonferenz wurde deutlich, wie sehr die Differenzen zwischen der Sowjetunion und der DDR bereits bewusst wa-ren – nicht zuletzt mit Blick auf die Mauer. Genscher war über die erste Konferenz

146 Siehe Dok. 27.

147 Siehe Dok. 30 (Hervorhebungen im Original).

148 Siehe Dok. 32.

149 Zum Wiener-Folgetreffen siehe: Stefan Lehne, The Vienna Meeting of the Conference on Security and Cooperation in Europe, 1986–1989. A Turning Point in East-West Relations, Boulder 1991; Hans-Heinrich Wrede, KSZE in Wien: Kursbestimmung für Europas Zukunft, Köln 1990; Erhard Crome / Jochen Franzke, Die SED-Führung und die Wiener KSZE-Kon-ferenz 1986 bis 1989. Dokumente aus dem Parteiarchiv, in: Deutschland Archiv 26 (1993), S. 905–914; Peter Schlotter, Die KSZE im Ost-West-Konflikt. Wirkung einer internationalen Institution, Frankfurt a. M. / New York 1999. Zum Umgang der DDR mit dem Wiener-Folge-treffem siehe weiter unten ausführlicher.

mit „Qualitätssprung“ erfreut.150 Für die österreichische Botschaft in Ost-Berlin war bald klar: „Die Zeichen werden immer deutlicher, dass der innere Dialog in der DDR in nächster Zeit aufgenommen werden muss.“151 Trotzdem schienen die deutsch-deutschen Beziehungen in gewohnten Bahnen zu verlaufen, ja jenseits medialer Schlagabtausche wirkten sie sogar besser „als die Leute glauben“.152

Auch in den bilateralen Beziehungen Österreichs und der DDR deutete zu Beginn des Jahres 1989 zunächst nichts auf rasante Veränderungen hin. Der di-plomatische Austausch erweckte auch im Februar 1989 den Eindruck der Nor-malität.153 Nachdem Wirtschaftsminister Robert Graf (ÖVP) bereits im Jänner Ost-Berlin besucht hatte, wurde anlässlich der Leipziger Frühjahrsmesse der Im-port von „hochveredelten Konsumgütern im Wert von über 1 Milliarde Schilling“

vereinbart. Diese Erzeugnisse sollten bereits vor den „Kommunalwahlen“ in der DDR im Mai in den Verkauf gelangen. Die österreichische Konsumgüterindustrie sollte also die „Wahlzuckerln“ der SED herstellen.154

Die Kommunalwahlen am 7. Mai 1989 wurden von der SED in gewohnter Manier zur Akklamation der von ihr aufgestellten Kandidaten inszeniert. Neben allerlei Maßnahmen zur „Hebung der Stimmung“ wurden auch mehr als eine Million Wahlveranstaltungen durchgeführt. Bereits im Rahmen dieser wurde Kritik am Wahlsystem geübt, was unter anderem zur Umbesetzung einiger Kan-didatenlisten führte. Als Egon Krenz am Wahlabend das übliche Ergebnis von fast 99 % Ja-Stimmen bei einer Wahlbeteiligung von ebenfalls fast 99 % verkündete, war das Entsetzen über die unveränderte Vorgehensweise der SED groß, gleich-zeitig aber auch klar, dass man die Wahlfälschung diesmal zweifelsfrei be legen konnte. Darauf folgten erste Demonstrationen, in den Wochen danach wurden erste Dokumentationen über das Ausmaß der Manipulationen veröffentlicht.

Fortan war jeder gesellschaftliche Protest mit einem Verweis auf die gefälschten Ergebnisse verbunden. Diese verfolgten die SED fortan, und auch bisher linien-treue Bürger hinterfragten stärker als bisher die Vorgehensweise der Einheits-partei.155 Botschafter Wunderbaldinger maß der Wahlfälschung anfangs offen-bar keine große Bedeutung bei und erwartete zunächst keine Auswirkungen auf die Stabilität der DDR: „Die Pressestimmen in der BRD werden in einigen Tagen verstummen und der Markstein des 7. Mai wird in das historische Gedenkjahr 1989 eingetragen werden.“156 Diese Einschätzung sollte sich dann in gegenteiliger Interpretation als zutreffend erweisen.

150 Siehe Dok. 34.

151 Siehe Dok. 35.

152 Siehe Dok. 36 153 Siehe Dok. 37.

154 Graf, Österreich und das „Verschwinden“ der DDR, S. 222–223.

155 Zu Vorbereitung, Ablauf und Fälschung der „Kommunalwahlen“ im Mai 1989 in der DDR siehe: Ilko-Sascha Kowalczuk, Endspiel. Die Revolution von 1989 in der DDR, München 2009, S. 318–333.

156 Botschafter Franz Wunderbaldinger an BMAA, Berlin (Ost), 10. Mai 1989, Zl. 91-Res/89, BMEIA, ÖB Berlin (Ost), RES-1989 (1–10), Karton 24.

Am Ballhausplatz wurden die „Wahlfarce“ vom Mai und die daraus resultie-renden Proteste in der DDR hingegen aufmerksam registriert und zunehmend wurde erkennbar, dass eine Wachablöse in der DDR-Führung überfällig war. Sor-gen bereiteten vor allem die ökonomischen Daten, die eine Fortsetzung der bisher dogmatisch verfochtenen „Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik“ fraglich erschienen ließen. Neue Weichenstellungen erwartete man dennoch frühestens auf dem nächsten Parteitag der SED, der zu diesem Zeitpunkt für Mai 1990 ge-plant war. Vor dem Hintergrund der rasch fortschreitenden Reformen in Polen und Ungarn hielt man mit Blick auf die deutsche Teilung weitsichtig fest: „Gene-rell steht [die] DDR vor dem Problem, dass politische Reformen tendenziell [ihre]

nationalstaatliche Identität gefährden.“157

Weitere Proteste folgten, als die SED-Führung das Massaker am Tiananmen-Platz nicht verurteilte, sondern rechtfertigte. Fortan traute man auch dieser eine

„chinesische Lösung“ im Umgang mit sich massenhaft artikulierender Opposi-tion zu.158 Nun schien erstmals die weitere sowjetische Unterstützung der DDR fraglich159 und die Reformresistenz ließ auch die Frage aufkommen, was denn von der DDR „ohne ideologisch prononcierte Ausrichtung und Abgrenzung“ bliebe?160 Von ungarischer Seite waren bereits Zweifel an der künftigen Stabilität der DDR zu vernehmen gewesen.161 Überhaupt waren die Entfremdungserscheinungen im Warschauer Pakt bereits vor dem Sommer 1989 unübersehbar geworden.162

Zudem wuchs die Ausreisebewegung – nicht zuletzt infolge des Abschluss-dokuments des am 15. Jänner 1989 zu Ende gegangenen Wiener KSZE -Folgetref-fens – weiterhin stetig an und suchte nach einem Ventil, das eben an den Außen-grenzen der DDR (noch) nicht zu finden war. Daran änderte auch die höhere Zahl der genehmigten Ausreisen im Frühjahr 1989 nichts. Das Wiener Schlussdoku-ment hatte überdies zur Folge, dass nach einem weiteren Todesfall an der Berliner Mauer – Chris Gueffroy war am 5. Februar bei seinem Versuch der „Republik-flucht“ erschossen worden – schließlich im Frühjahr 1989 der Schießbefehl de facto ausgesetzt wurde. Dadurch konnten bereits vor der „friedlichen Revolution“

400 Personen über die deutsch-deutsche Grenze fliehen.163 Innenpolitisch hatte

157 Siehe Dok. 39.

158 Zur Reaktion auf die „chinesischen Ereignisse“ siehe: Kowalczuk, Endspiel, S. 337–343. Siehe zudem: Bernd Schäfer, Die DDR und die „chinesische Lösung“. Gewalt in der Volksrepublik China im Sommer 1989, in: Martin Sabrow (Hg.), 1989 und die Rolle der Gewalt, Göttingen 2012, S. 153–172.

159 Dieses Eindrucks konnte sich die österreichische Diplomatie nicht verwehren als Scheward-nades vor Gorbatschows Bonn-Besuch de facto nur einen Zwischenstopp in Ost-Berlin ein-legte. Siehe Dok. 40. Zum Gorbatschow-Besuch siehe weiter unten mehr und die Dok. 41–44.

160 Siehe Dok. 46.

161 Siehe Dok. 38.

162 Siehe Dok. 37.

163 Anja Hanisch, Die DDR im KSZE-Prozess 1972–1985. Zwischen Ostabhängigkeit, West-abgrenzung und Ausreisebewegung München 2012, S. 373–374; Walter Süß, Die Wiener KSZE-Folgekonferenz und der Handlungsspielraum des DDR-Sicherheitsapparates 1989, in:

es in der DDR also just im 40. Jahr ihres Bestehens massiv zu brodeln begonnen.

Viele DDR-Bürger waren nun schlichtweg nicht mehr gewillt, im SED-Staat aus-zuharren oder diesen aktiv herauszufordern, sondern sie suchten verstärkt nach einem Ausweg aus diesem. Während im bilateralen Verhältnis zu Österreich alles seinen normalen Gang ging, begann an der österreichisch-ungarischen Grenze der Anfang vom Ende der bereits ins Wanken geratenen DDR.

2. Die Grenzöffnung im Kontext der Langzeitentwicklungen und ihre direkten Folgen