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Österreich und die deutsche Frage Anfang 1990

I. Vorbemerkungen

5. Österreich und die deutsche Frage Anfang 1990

Nach dem Vranitzky-Besuch im November 1989 und ungeachtet der inneren Entwicklung der DDR sowie der internationalen Diskussion über die Frage der

„Wiedervereinigung“ hatte die DDR-Führung auf die rasche Realisierung eines Gegenbesuchs von Modrow in Wien sowie auf eine weitere Intensivierung der Wirtschaftsbeziehungen gedrängt.305 Dies war Teil der immer verzweifelter wer-denden Versuche, auf außenpolitischem Terrain Unterstützer der Eigenstaatlich-keit der DDR zu finden.306 Bei der österreichischen Wirtschaft stieß man damit auf offene Ohren. Ihre Vertreter bekundeten gegenüber der DDR konsequent das Interesse an einem Fortbestand des ostdeutschen Staates.307 Die Wiener Diploma-tie äußerte sich laut DDR-Aufzeichnungen Anfang des Jahres 1990 dahingehend,

302 Siehe Dok. 99.

303 Siehe Dok. 103. Zur Argumentation einer Strategie die sowohl das Selbstbestimmungsrecht der Deutschen anerkannte und gleichzeitig nach einem stabilen Ablauf im europäischen Rah-men verlangte Frédéric Bozo, Mitterrand, la diplomatie française et la fin de la guerre froide, Paris 2005; Tilo Schabert, Wie Weltgeschichte gemacht wird. Frankreich und die deutsche Einheit, Stuttgart 2002; Christian Wenkel, Auf der Suche nach einem „anderen Deutschland“.

Das Verhältnis Frankreichs zur DDR im Spannungsfeld von Perzeption und Diplomatie, München 2014, S. 497–504; dagegen mit Blick auf das Deutschlandbild Mitterrands in Lang-zeitperspektive Ulrich Lappenküper, Mitterrand und Deutschland. Die enträtselte Sphinx, München 2011.

304 Siehe Dok. 104.

305 Siehe Dok. 86.

306 Eine umfassende Analyse der Außenpolitik der Regierung Modrow steht noch aus. Siehe zu-sammenfassend: Die Außenpolitik der DDR, S. 59–64.

307 Information über ein Gespräch mit dem Handelsrat der Botschaft der Republik Österreich in der DDR, Herrn Stephan Kuzmich, am 18. Januar 1990 in Berlin, verfasst von Budig (Minis terium für Wissenschaft und Technik), Berlin, 22. Januar 1990, BArch, Abteilung DDR, DC/20/4961, Bl. 30.

dass Österreich „sehr daran interessiert [sei], daß diese Prozesse ruhig verlaufen und sich in den europäischen Rahmen einordnen“. Österreich sei „gegen [eine]

rasche Vereinigung“.308

In den diplomatischen Berichten nach Wien stand die von Modrow vermittelte unabsehbare weitere Entwicklung insbesondere in der DDR im Vordergrund.309 Die Gespräche und Verhandlungen am „Zentralen Runden Tisch“ in der DDR waren ins Stocken geraten, was die österreichische Diplomatie auf den bereits einsetzenden ersten echten Wahlkampf in der DDR zurückführte. Ein Sturz der Regierung Modrow wurde jederzeit für möglich gehalten. Zudem mahnte die Bot-schaft in Ost-Berlin seit Jahresbeginn ein, dass es wichtig wäre, nicht nur die poli-tischen und wirtschaftlichen Kontakte zur DDR zu pflegen, sondern auch die, die ostdeutsche Gesellschaft direkt betreffenden Felder zu bedienen – nicht zuletzt da der Bevölkerung das Vertrauen in ihre derzeitige politische Führung fehle.310

Die Vorbereitungsmaterialien für Modrows Gegenbesuch in Österreich, der bereits am 26. Jänner 1990 stattfand, zeigen ebenfalls deutlich, dass man seitens der DDR von einem starken österreichischen Interesse am Erhalt der DDR aus-ging. Auch die österreichischen Sorgen bezüglich der möglichen Rückwirkungen auf die eigenen EG-Beitrittsambitionen waren bewusst. In diesem Zusammen-hang wollte man kalmierend wirken.311 Zudem beschworen DDR-Vertreter Öster-reich, das wirtschaftliche Feld nicht alleine der Bundesrepublik zu überlassen312 – eine Aufforderung, der man während des erneut stark wirtschaftlich geprägten Besuch Modrows in Wien gerne nachkam. Jedoch sollten auch neue Felder in den Beziehungen eine Belebung erfahren. So wurde beispielsweise die Aufhebung des Visumszwangs angestrebt und im Zuge des Besuchs auch vereinbart.313

Als das Gespräch der Regierungschefs auf die Frage der Vereinigung der bei-den deutschen Staaten kam, verhielt sich Bundeskanzler Vranitzky angesichts der fortschreitenden Entwicklung bei gleichzeitig noch unklarer Haltung der Sowjet-union vorsichtig:

„Falls sich die Deutschen für eine Vereinigung der beiden Staaten entscheiden sollten, so müsse man das respektieren. Österreich sei aber an solchen Rahmenbedingungen in-teressiert, die Europa nicht in Gefahr bringen und das bestehende Gleichgewicht nicht 308 Gesprächsempfehlungen. Antrittsbesuch des Botschafters der Republik Österreich, Dr. Erich Binder, beim Vorsitzenden des Ministerrates der DDR, Dr. Hans Modrow, am 24. Januar 1990, BArch, Abteilung DDR, DC 20/4961, Bl. 31.

309 Siehe Dok. 110.

310 Siehe Dok. 105 und 107. Siehe zudem: „Runder Tisch“, weiter Schwierigkeiten (Info), Wun-derbaldinger an BMAA, Berlin (Ost), 4. Jänner 1990, ÖStA, AdR, BMAA, II-Pol. 1990, GZ.

43.03.00/3-II.3/90; Modrows Lage der Nation (Info), Wunderbaldinger und Graf an BMAA, Berlin (Ost), 11. Jänner 1990, ÖStA, AdR, BMAA, II-Pol 1990, GZ. 43.03.00/4-II.3/90.

311 Fischer übersandte diese an Modrow, Berlin, 23. Januar 1990, BArch, Abteilung DDR, DC 20/4961, Bl. 17.

312 Siehe Dok. 109.

313 Siehe Dok. 111. Zum Besuch ausführlicher Gehler, Österreich, die DDR und die Einheit Deutschlands, S. 437–443; Graf, Österreich und die DDR, S. 596–601.

zerstören. Ein zu schneller Ablauf der Ereignisse würde jedoch ein solches Risiko in sich bergen. Alles müsse unter europäischen Aspekten beurteilt werden.“314

Etwas anders gestaltete sich das im Zuge des Modrow-Besuchs stattgehabte Ge-spräch der Außenminister Oskar Fischer und Alois Mock. Fischer hatte einige Tage zuvor im Gespräch mit dem sowjetischen Außenminister Eduard Schewardnadse erfahren, dass Gorbatschow grundsätzlich der deutschen Einheit zustimme.315 Daher unterstrich er gegenüber Mock, „dass es zur Vereinigung kommen werde;

sie müsse in die Überwindung der europäischen Spaltung eingebettet sein.“316 Damit war Mock vermutlich der erste westliche Außenminister, der in dieser Deutlichkeit über diesen Befund der Akzeptanz der deutschen Einigung seitens des KPdSU-Chefs informiert wurde, die fortan vor allem noch an der Frage der NATO-Mitgliedschaft des geeinten Deutschlands und in weiterer Folge an dessen Gegenleistungen an die Sowjetunion hing. Noch hoffte man in Moskau den Pro-zess der Vereinigung zumindest hinauszögern zu können.317

314 Siehe Dok. 112.

315 Auch wenn Schewardnadse sinngemäß betonte, dass eigentlich niemand in Moskau oder im gesamten Europa ein Ende der deutschen Zweistaatlichkeit wollte, hielt er unmissver-ständlich fest, „daß die Sowjetunion den Deutschen keinesfalls das Recht auf Selbstbestim-mung abspreche. Dieses Recht hätten die Deutschen in der DDR ebenso wie die Deutschen in der BRD. Ihr Wunsch nach engerer Zusammenarbeit und – wenn es die Deutschen so ent-scheiden – staatlicher Einheit werde respektiert, wobei es sich verstehe, daß Einheit entspre-chende Bedingungen voraussetzt. Für die Sowjetunion sei z. B. ein Deutschland in der NATO nicht hinnehmbar. Gegenwärtig sei auch nicht zu erkennen, wie bei einem Verbleib der BRD in der NATO und der DDR im Warschauer Vertrag eine staatliche Einheit der Deutschen praktisch möglich sei. Und Neutralisierungsverfahren würden vielerorts abgelehnt, sie seien nicht real.“ Zitiert nach: Vier-Augen-Gespräch Oskar Fischers mit E. A. Schewardnadse an-läßlich des Arbeitsbesuches des Ministers für Auswärtige Angelegenheit[en] der DDR in der UdSSR. Vermerk. [Auszug], 20. Januar 1990 (= Dokument 33), in: Die Außenpolitik der DDR, S. 441–443, für das wörtliche Zitat S. 441. Mit dieser Einschätzung war Schewardnadse den wenig später offenbarten Plänen Modrows um Welten voraus. Aus den bisher veröffentlichten sowjetischen Dokumenten wissen wir auch, dass Gorbatschow – erstmals dokumentarisch erwähnt – just während Modrows Wien-Besuch an 26. Jänner im Kreis der sowjetischen Füh-rung von einer „Wiedervereinigung“ sprach, deren RealisieFüh-rung es „in die Länge zu ziehen“

galt. Siehe: Diskussion der deutschen Frage im Beraterstab von Generalsekretär Gorbačev am 26. Januar 1990. Erörterung der deutschen Frage im kleinen Kreis im Arbeitszimmer des Generalssekretärs des ZK der KPdSU, 26. Januar 1990 (= Dokument Nr. 66), in: Michail Gor-batschow und die deutsche Frage, S. 286–291.

316 Siehe Dok. 113.

317 Siehe dazu rezent Andreas Hilger, Die getriebene Großmacht – Moskau und die deutsche Ein-heit 1989/1990, in: Michael Gehler / Maximilian Graf (Hg.), Europa und die deutsche EinEin-heit.

Beobachtungen, Entscheidungen und Folgen, Göttingen 2017, S. 117–139; Wolfgang Mueller, The USSR and the Reunification of Germany, 1989–90, in: idem / Michael Gehler / Arnold Suppan (Hg.), The Revolutions of 1989. A Handbook Wien 2015, S. 321–353; idem, Die Lage gleitet uns aus den Händen: Motive und Faktoren in Gorbatschows Entscheidungsprozess zur Wiedervereinigung Deutschlands, in: Zeitschrift des Forschungsverbundes SED-Staat 39 (2016), S. 3–28; Stefan Karner / Mark Kramer / Olga Pavlenko / Peter Ruggenthaler / Manfred Wilke, Der Kreml und der deutsche Vereinigungsprozess 1989/90, in: Stefan Karner et al. (Hg.),

Die österreichisch-sowjetischen diplomatischen Interaktionen seit Jahresbe ginn hatten keineswegs auf eine sowjetische Haltungsänderung hingedeutet.318 Auch im größeren Rahmen des KSZE-Europa schien der österreichischen Diplomatie unklar, wann und unter welchen Bedingungen die Sowjetunion der deutschen Einheit zustimmen könnte.319 Ende Jänner 1990 vermeldete die österreichische Botschaft in Moskau jedoch nach Wien: „Sowjetischerseits scheint man erkannt zu haben, dass die ‚Zeit davonzulaufen drohe‘. Die Vereinigungstendenzen in der DDR werden überhand nehmen und die S[owjetunion] wird dies nolens volens zur Kenntnis nehmen müssen.“ Zu diesem Zeitpunkt ging man davon aus, dass die Sowjetunion so lange wie möglich an der „Eigenständigkeit der DDR“ fest-halten werde; eine unflexible Position aber aufgrund der Entwicklungen in der DDR nicht auf Dauer durchzustehen sein werde. Daher würde Moskau die Vier-mächte-Verantwortung für Deutschland hervorkehren, habe aber „im Augenblick offensichtlich auf offizieller Ebene kein Konzept, wie diese mit dem Willen der Deutschen selbst zu vereinbaren ist“.320 Mit dieser Lagebeurteilung hatte man den Nagel auf den Kopf getroffen.

Aufgrund der immer offenkundiger in Richtung deutsche Einheit weisenden Stimmung in der DDR-Bevölkerung lancierte Modrow Anfang Februar nach Rücksprache mit Moskau seinen bereits in Wien angedeuteten Plan einer – aus Sicht der Ostabteilung bereits sehr weitgehenden – Konföderation zwischen den beiden deutschen Staaten,321 der auch eine Neutralitätsdimension hatte.322 Diese wurde im Westen abgelehnt und auch Österreich fühlte sich – erneut in einer

„kleinen“ Modellfalldebatte angekommen – sichtlich unwohl.323 Am Ballhaus-platz war die Position dazu eindeutig. Nachdem der sowjetische Botschafter Schi-kin gegenüber Mock die DDR-Konzeption als „realistisch“ bezeichnet und sich nach der Haltung Österreichs dazu erkundigt hatte, erwiderte der öster reichische Außenminister, dass Österreich „für sich keine besondere Beziehung zu diesem Problem“ sehe, „welche über dessen Bedeutung für alle europäischen Staaten hin-ausgehen würde“. Schikin sprach Mock daraufhin auf dessen „kritische Bemer-kungen […] zur Frage der Neutralisierung Deutschlands“ an „und wies darauf hin, daß die Sowjetunion den Eintritt der DDR in die NATO nicht hinnehmen

Der Kreml und die deutsche Wiedervereinigung 1990, Berlin 2015, S. 13–108, hierzu S. 58–60.

Kurz und prägnant auch György Dalos, Gorbatschow. Mensch und Macht. Eine Biografie, München 2011, S. 215–217.

318 Siehe Dok. 106.

319 Siehe Dok. 108.

320 Siehe Dok. 114.

321 Siehe Dok. 116.

322 Siehe Dok. 115. Gabriele Lindner, Die Eigenart der Implosion. Lange Genese bis zur Modrow-Regierung und Rundem Tisch in der DDR, Berlin 1994.

323 Gehler, Österreich, die DDR und die Einheit Deutschlands, S. 444–446; idem, Modellfall?, S. 1230–1231; Oliver Rathkolb, Deutsches Unbehagen an der Neutralität Österreichs 1955 und 1990. Ein „unhistorischer“ Vergleich mit verblüffenden Parallelen, in: idem / Georg Schmid / Gernot Heiß (Hg.), Österreich und Deutschlands Größe. Ein schlampiges Verhält-nis, Salzburg 1990, S. 85–92.

könnte“. Mock stimmte einerseits „zu, daß keine Verschiebung des Gewichtes der militärischen Allianzen erfolgen sollte. Andererseits wäre eine Entlassung Deutschlands aus seinen Bindungen durch Neutralisierung gefährlich.“ Nachdem Schikin erneut „auf die Verantwortung der vier Alliierten“ hingewiesen hatte, plädierte Mock dafür, dass nach dem Zweiten Weltkrieg entstandene „System der Patronanz über Deutschland in einen Status der Normalität“ zu überführen.324

Modrows Plan wurde ohnehin rasch von den Entwicklungen überholt. Der Exodus aus der DDR und die Übersiedlerzahlen in die Bundesrepublik drohten zu einem echten Problem für Bonn zu werden, weshalb man zunehmend auf eine rasche Realisierung der deutschen Einheit drängte. Sowohl die äußeren als auch die inneren Aspekte stellten aber noch ein „Minenfeld“ dar.325 Der Übersiedler-strom von Ost nach West riss nicht ab und Modrow konnte von seinem Besuch in der Bundesrepublik am 13./14. Februar 1990 nur wenig Zählbares nach Hause bringen. Die Bundesrepublik wollte die nicht frei gewählte DDR-Regierung nicht alimentierten,326 sah sich aber dennoch zum Handeln gezwungen. Mit dem im Februar erfolgten Angebot einer „Wirtschafts- und Währungsunion“ hatte Kohl im deutschen Einigungsprozess endgültig die Initiative übernommen.327

Ende Februar 1990 war die deutsche Einheit das wichtigste – ja nahezu alles bestimmende – internationale Gesprächsthema. Im Dreieck Bonn, Moskau und Washington ging es in der ersten Februarhälfte, als Gorbatschow am 10. Februar im Kreml gegenüber Kohl erstmals grundsätzlich grünes Licht für die unauf-haltsam scheinende deutsche Einheit gegeben hatte, insbesondere um die Frage der NATO-Mitgliedschaft des künftigen Deutschlands und deren Ausgestaltung.

Dessen war man sich am Ballhausplatz bewusst, auch wenn man dort natür-lich keine Detailkenntnis über die heute im Blick auf die NATO-Osterweiterung so umstrittenen bilateralen Gespräche dieser Dreieckskonstellation hatte.328 Die NATO-Mitgliedschaft Deutschlands stand zwar aus Wiener Sicht nicht in Frage, aber die Art und Weise der Inkorporierung des Gebiets der DDR unter sowje-tischer Zustimmung schien offen – wie auch die Zukunft der Militärbündnisse insgesamt.329 Das amerikanische Misstrauen gegenüber Genscher in dieser Frage

324 Siehe Dok. 117.

325 Siehe Dok. 118.

326 Siehe Dok. 123.

327 Siehe dazu Dok. 125, 132. Hanns Jürgen Küsters, Das Ringen um die deutsche Einheit. Die Regierung Kohl im Brennpunkt der Entscheidungen 1989/90, Freiburg im Breisgau 2009, S. 155–159; ausführlich: Dieter Grosser, Das Wagnis der Währungs-, Wirtschafts- und Sozial-union. Politische Zwänge im Konflikt mit ökonomischen Regeln, Stuttgart 1998.

328 Siehe dazu in allen Details: Mary Elise Sarotte, 1989: The Struggle to Create Post-Cold War Europe, rev. ed., Princeton 2014. Zur Kontroverse um die Legende vom Wortbruch. Die NATO-„Osterweiterung“ – eine nicht eingehaltene Zusicherung des Westens an Russland?, siehe Michael Gehler, Revolutionäre Ereignisse und geoökonomisch-strategische Ergebnisse:

Die EU- und NATO-„Osterweiterungen“ 1989–2015 im Vergleich (Zentrum für Europäische Integrationsforschung Discussion Paper C 239), Bonn 2017, S. 66–81.

329 Siehe Dok. 119–120.

wurde registriert.330 Worum es zumindest auch manchen amerikanischen Diplo-maten und Politikern ging, sprach Deputy Seceretary of State Lawrence Eaglebur-ger anlässlich eines Besuches in Wien aus. Nachdem Mock darauf hingewiesen hatte „dass es gefährlich wäre, die NATO als eine Art Wachhund für die Deut-schen anzusehen“, bejahte Eagleburger dies zwar, wollte „aber doch ein Körnchen Wahrheit in einer derartigen, mancherorts vertretenen Auffassung sehen“. Jeden-falls hielt Eagleburger ein „subtiles“ Vorgehen der Bundesrepublik für nötig.331

Die Sowjetunion hatte zwar noch keine definitive Haltung betreffend die Realisierung der deutschen Einheit eingenommen, jedoch bereits dem „Zwei-plus-Vier“-Prozess zugestimmt, auf den man sich am 13. Februar 1990 am Rande der „Open Skies“-Konferenz in Ottawa verständigt hatte. Dieser sah Verhand-lungen der beiden deutschen Staaten mit den vier Siegermächten des Zweiten Weltkriegs vor, die schließlich in eine abschließende Regelung über Deutschland anstellte eines Friedensvertrags mündeten. Insbesondere die Sowjetunion ver-mochte sich während der bis September dauernden Gesprächsrunden nur lang-sam von der Vorstellung der Notwendigkeit eines Friedensvertrags für Deutsch-land zu lösen.332

Als Schewardnadse in jenen Tagen unter Bezugnahme auf die künftigen Gren-zen Deutschlands auch Österreich erwähnte, maß man dieser Aussage am Ball-hausplatz kaum Bedeutung bei,333 obwohl derartige Anspielungen wiederkehr-ten. Deutlich war für die österreichische Diplomatie, dass es der sowjetischen Deutschlandpolitik an einem Konzept mangelte und es auch echte Ängste vor der deutschen Einheit gab, die aber weniger aus der Rolle Deutschlands als aus dem durch die historischen Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs geprägten Deutsch-landbild in der sowjetischen Gesellschaft abzuleiten waren und die in den kreml-internen Machtkämpfen instrumentalisiert wurden, während auf der Hand lag, dass man deutscher wirtschaftlicher Unterstützung bedürfen würde. Sich auf dieses komplexe Geflecht einen Reim zu machen, fiel nicht nur der sowjetischen Führung, sondern auch der österreichischen Diplomatie schwer.334

Es war im Moskauer diplomatischen Corps durchaus andeutungsweise zu ver-nehmen, dass es auch in der sowjetischen Führung Stimmen gab, die in einer Einbeziehung des gesamten Deutschlands in die NATO die Sicherheitsinteressen der Sowjetunion besser gewährleistet sahen als in einer Neutralisierung,335 die auch in fortschreitendem Maße unrealisierbar schien.336 Ende März vermeinte die österreichische Botschaft in Moskau erstmals auch in öffentlichen Äußerun-gen eine Nuancierung der sowjetischen Haltung in dieser Frage ausmachen zu

330 Siehe dazu auch noch Dok. 143.

331 Siehe Dok. 131.

332 Siehe Dok. 124.

333 Siehe Dok. 121.

334 Siehe Dok. 130.

335 Siehe Dok. 134.

336 Siehe Dok. 135.

können.337 Gleichzeitig war man in Wien über die mannigfaltigen Sorgen und Nöte Gorbatschows gut unterrichtet. Ende April hatte man aus „dritter Hand […]

über persönliche Einschätzungen“ des KPdSU-Generalsekretärs erfahren. Aus seiner Sicht waren die Hauptprobleme: 1) die „katastrophale Wirtschaftssitua-tion“, 2) die „Nationalitätenfrage, insbesondere Litauen“, 3) die „Deutsche Frage“

und 4) die „Vorbereitung des kommenden Parteitags“. Jedes einzelne dieser Pro-bleme erschien zwar verkraftbar, aber das „Zusammenfallen aller vier“ bereitete ihm beachtliche Schwierigkeiten. Während die Wirtschaft schlichtweg nicht über Nacht zu sanieren war und die Frage Litauen noch lösbar schien, machte ihm der deutsche Einigungsprozess und dessen unklarer Ablauf offenbar zu schaffen:

„Hier ginge es um die Gefahr, dass eine Lösung der Deutschen Frage, wie im-mer sie letztlich aussehe, sichtbar ohne entsprechende Mitwirkung der Sowjet-union zustandekomme; dies könne von seinen Gegnern als Beweis für den durch seine Politik des neuen Denkens ausgelösten ‚Ausverkauf‘ der Sowjetunion ins Treffen geführt werden.“ In dieser Hinsicht blickte Gorbatschow angesichts seiner sich formierenden internen Gegner in der KPdSU sorgenvoll auf den Parteitag im Juli.338

Neben der Haltung der Sowjetunion zur deutschen Einheit und zu der NATO -Mitgliedschaft Deutschlands stellte auch die Frage der polnischen Westgrenze einen weiteren international vielbeachteten Gegenstand dar, dem sich auch Öster-reich nicht gänzlich entziehen konnte. Polen anerkannte trotz allem gesamt-gesellschaftlichen historisch verständlichen „Unbehagen“ angesichts der sich an-bahnenden deutschen Einheit das Selbstbestimmungsrecht der Deutschen und hatte auch gegen eine NATO-Mitgliedschaft eines geeinten Deutschlands nichts einzuwenden, jedoch wollte die politische Führung in Warschau zuerst die be-stehende deutsch-polnische Grenze garantiert wissen. Öffentliche Erklärungen Kohls und Genschers, die trotz des weiterbestehenden Vorbehalts, dass nur ein ge-eintes Deutschland über seine Grenzen befinden könne, betonten, dass Deutsch-land die Grenze nicht in Frage stellen würde, reichten für Warschau nicht aus.

Daher forderte Polen die Teilnahme an den „Zwei-Plus-Vier“-Gesprächen. Das von der polnischen Regierung bevorzugte Szenario wäre die Aushandlung eines Grenzvertrages und dessen Paraphierung durch beide deutschen Staaten, gefolgt von der Ratifizierung durch das geeinte Deutschland, gewesen.339

337 Siehe Dok. 139.

338 Aktenvermerk. Sowjetunion; interne Situation, persönliche Einschätzung Michael [sic!] Gor-batschows, Gesandter Ernst Sucharipa, Wien, 27. April 1990, ÖStA, AdR, BMAA, II-Pol 1990, GZ. 225.03.00/26-II.3/90.

339 Siehe Dok. 127. Zur Haltung Polens siehe u. a. Klaus Ziemer, Zwischen Misstrauen und Hoff-nung: Polen und die deutsche Vereinigung, in: Klaus-Dietmar Henke (Hg.), Revolution und Vereinigung 1989/90. Als in Deutschland die Realität die Phantasie überholte, München 2009, S. 509–524; Mieczysław Tomala, Polen und die deutsche Wiedervereinigung, Warschau 2004; Dominik Pick, Deutsch-polnische Beziehungen und die deutsche Einheit, in: Michael Gehler / Maximilian Graf (Hg.), Europa und die deutsche Einheit. Beobachtungen,

Entschei-Da dies seitens der Bundesrepublik abgelehnt wurde und auch eine Einbezie-hung Polens in die „Zwei-Plus-Vier“-Gespräche noch nicht feststand, suchte Polen unter den Nachbarstaaten Deutschlands nach Verbündeten. Am 2. März wandte sich Außenminister Krzysztof Skubiszewski mit einem Brief an seine Amtskol-legen, darunter auch Außenminister Mock.340 In diesem führte er neben dem gewünschten Szenario – hier im Wortlaut des Ballhausplatzes – aus: „Alle Nach-barstaaten der BRD und der DDR hätten gewisse gemeinsame Interessen und Rechte, soweit ihre Sicherheit betroffen ist. [Eine] Vereinigung dürfe [die] Sicher-heit und [die] territoriale Integrität dieser Staaten nicht in Frage stellen.“ Da rauf-hin betonte er das vitale Interesse Polens an der „Beseitigung jeder Zweideutig-keit hinsichtlich [der] Oder-Neiße-Grenze“ und erklärte, dass Polen bereit sei, „an Arbeiten an einem Friedensvertrag teilzunehmen und diesen zu unterzeichnen“.

Die Beteiligung der Nachbarstaaten Deutschlands am „Zwei-plus-Vier“-Prozess

Die Beteiligung der Nachbarstaaten Deutschlands am „Zwei-plus-Vier“-Prozess