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Der Einigungsprozess und seine internationale Durchsetzung

I. Vorbemerkungen

6. Der Einigungsprozess und seine internationale Durchsetzung

Genau unter diesen Vorzeichen entwickelte sich im Frühjahr der innere und der äußere Einigungsprozess. So klar war dies zu diesem Zeitpunkt aber noch nicht.

„Nachdem in den ersten Monaten nach der Wende eine richtige Euphorie bezüg-lich der Vereinigung mit der BRD geherrscht“ hatte, war laut einem Bericht der österreichischen Botschaft in Ost-Berlin von Mitte März, „seit etwa einem Monat in weiten Kreisen“ der DDR-Bevölkerung „eine gewisse Ernüchterung eingetre-ten. Hatte man bis dahin in einer Vereinigung mit der BRD nur positive Seiten gesehen, so kommt man nun darauf, dass die Vereinigung auf gewissen Gebieten, insbesondere dem sozialen, auch Nachteile mit sich bringen dürfte.“357

Die ersten freien Volkskammerwahlen am 18. März 1990 endeten nach einem von den bundesdeutschen Parteien massiv mitgeprägten Wahlkampf dennoch mit einem auch für Österreich überraschenden und überlegenen Sieg der von der Christlich-Demokratischen Union (CDU) geführten „Allianz für Deutsch-land“.358 Mock stattete Bonn wenig später einen Besuch ab, im Rahmen dessen er Kohl das „Große Goldene Ehrenzeichen am Bande“ überreichte, für den öster-reichischen EG-Beitritt warb und sich mit ihm über die jüngsten Entwicklungen in der DDR austauschte. Vor der Presse dankte der österreichische Außenminister Kohl für sein Verständnis für den Beitrittswunsch Österreichs und gratulierte

„zum großartigen Wahlerfolg in der DDR“. Eine austrospezifische mediale Pole-mik, wonach Mock die „Wiedervereinigung“ vorweggenommen hätte, folgte auf den Fuß.359

Nach der Bildung einer breiten Koalition, die neben den Parteien der „Allianz“

auch den Bund der Freien Demokraten und die SPD umfasste, wurde Lothar de Maizière (CDU) am 12. April zum Ministerpräsidenten der DDR gewählt. Auch wenn nun selbst de Maizière „vor einer Überstürzung des Prozesses der Einigung“

warnte und damit laut der österreichischen Botschaft in der DDR „ohne Zweifel den heutigen Vorstellungen des größeren Teils der hiesigen Bevölkerung“ aus der Seele sprach, bestanden weder in Ost-Berlin noch Bonn „Zweifel, dass dieser Prozess positiv abgeschlossen werden wird“. Lediglich die Haltung der UdSSR in diesem galt noch als unbestimmt.360 Trotz dieser und anderer Unbekannten waren nun auch in der DDR in politischer Hinsicht die Weichen ganz klar auf Einheit gestellt. Dies und der bevorstehende Fahrplan waren für den Ballhaus-platz offenkundig.361

357 Siehe Dok. 136.

358 Siehe Dok. 137

359 Siehe dazu ausführlicher: Gehler, Von der Befürwortung zur Verzögerung und Verhinde-rung, S. 330.

360 Siehe Dok. 144.

361 Siehe Dok. 141.

Die Bundesrepublik registrierte die österreichische Haltung zur deutschen Frage Ende April uneingeschränkt positiv und bekräftigte ihre Unterstützung für den von Österreich angestrebten EG-Beitritt – ein Drängen auf eine beschleunigte Be-handlung des österreichischen Beitrittsgesuchs hielt man aber für unangebracht.

In den Spitzenkontakten der Außenministerien wurde Österreich über den Eini-gungsprozess ausführlich und detailreich informiert. Durch Gespräche mit Ver-tretern des Bundeskanzleramts kannte man auch die bundesrepublikanischen Divergenzen recht gut.362 Im „Zwei-plus-Vier“-Prozess selbst war Österreich nur außenstehender Beobachter. Botschafter Bauer wurde aber sowohl im Auswärti-gen Amt als auch durch Kontakte zum Bundeskanzleramt regelmäßig über die Fortschritte der Verhandlungen informiert.

Das erste „Zwei-plus-Vier“-Außenministertreffen fand am 5. Mai 1990 in Bonn statt. Auf diesem einigte man sich vor allem über das weitere Vorgehen, wie der an den Verhandlungen führend mitwirkende Spitzendiplomat des Auswärtigen Amts, Wilhelm Friedrich Höynck, den österreichischen Botschafter Bauer infor-mierte. Die Hauptfrage blieb die Moskauer Haltung zur NATO-Mitgliedschaft Deutschlands, die aber nicht Gegenstand der „Zwei-plus-Vier“-Gespräche sein sollte. Dem sowjetischen Bestreben, den unaufhaltsamen inneren Einigungspro-zess vom äußeren und durch die Siegermächte des Zweiten Weltkriegs blockier-baren zu entkoppeln, wollte man entgegenwirken.363 Diese Frage beschäftigte auch das Departement of State, wo man nach wie vor nicht sicher war, wie weit Genscher bereit war, seinem sowjetischen Amtskollegen Schewardnadse in Fragen der Bündniszugehörigkeit entgegenzukommen.364 Die Reise Kohls und Genschers nach Washington Mitte Mai diente dann der amerikanisch-bundesdeutschen Ab-stimmung365 für das bevorstehende Gipfeltreffen von George H. W.  Bush mit Gorbatschow zwei Wochen später. Wie weitgehend sich der sowjetische Präsident dort bereits hinsichtlich der Akzeptanz einer NATO-Mitgliedschaft Deutschlands geäußert hatte, wusste die österreichische Diplomatie freilich nicht. Aber es war offenkundig, dass nicht nur Erfolge bei den Abrüstungsverhandlungen, sondern auch eine Neuausrichtung des atlantischen Bündnisses den Schlüssel zur Lösung darstellen könnten.366

Nachdem die Frage der „Entkoppelung“ vom Tisch war, erschien dem Ball-hausplatz in einer Analyse vom 11. Juni „vorsichtiger Optimismus gerechtfer-tigt“: „Entsprechende Konzessionen des Westens lassen die Zustimmung der So-wjetunion zur NATO-Mitgliedschaft Gesamtdeutschlands möglich erscheinen.“

Unterdessen war die zwischen Bonn und Ost-Berlin ausgehandelte Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion unter Dach und Fach gebracht worden und sollte am 1. Juli 1990 in Kraft treten. Als „wesentliche Maßnahme“ betrachtete man in

362 Siehe Dok. 146 und 153.

363 Siehe Dok. 149.

364 Siehe Dok. 150.

365 Siehe Dok. 152.

366 Siehe Dok. 154.

Wien „die Einführung der D-Mark in der DDR“. Den Zweck und Effekt der Union wertete man wie folgt: „Durch die wirtschaftliche Vereinigung soll die Entwick-lung zum gesamtdeutschen Staat irreversibel gemacht werden.“367 In einem Brief an Kohl rühmte Mock die „Richtigkeit der Perspektiven für die deutsche Einheit“, die der deutsche Kanzler im vergangenen November entworfen hatte, gratulierte

„anläßlich dieses entscheidenden Schrittes zur staatlichen Einheit des deutschen Volkes herzlichst“ und übermittelte die „besten Wünsche für den erfolgreichen Abschluß des Verfahrens zur Herstellung der Einheit Deutschlands“, die er als einen „entscheidende[n] Beitrag zur wachsenden Einheit Europas“ wertete.368 Für Österreich bedeutete die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion freilich auch, sich im Handel mit der DDR auf die neuen Gegebenheiten einzustellen.369

Bereits Mitte Juni hatten der für Ostfragen zuständige Kanzler-Berater Horst Teltschik und das Auswärtige Amt Botschafter Bauer übereinstimmend ihre Ein-schätzung mitgeteilt, die Sowjetunion „akzeptiere [die] unbeeinflussbare Unaus-weichlichkeit deutscher Einheit und dränge deshalb (weil auch Gorbatschow kein DDR-Chaos wolle) selbst auf rasche Klärung der inneren Aspekte“. Bauers Bericht zeigt, dass man in Bonn Gorbatschows Probleme genau erkannt hatte. Man wusste welche Bedeutung deutscher Wirtschaftshilfe auf dem Weg zur Einheit zukom-men würde. Gleichzeitig legten Bauers Gesprächspartner auch ein bemerkenswer-tes Bewusstsein für das Gewicht eines geeinten Deutschlands in Europa an den Tag, weshalb man dessen Einbettung in ein vertieft-integriertes Europa betrieb.370

Aus DDR-Perspektive sah die Wertung des Stands der Dinge und der bundes-deutschen Politik nach dem zweiten „Zwei-Plus-Vier“-Außenministertreffen am 22. Juni 1990 in Ost-Berlin, das keine wesentlichen Fortschritte gebracht hatte, anders aus. Botschafter Erich Binder, seit Anfang 1990 in der DDR eingesetzt, schloss seinen Bericht mit dem Eindruck: „Die BRD sei der Meinung, dass die heutige wirtschaftliche Lage der Sowjetunion so schlecht sei, dass man ihr die Zustimmung zur Vereinigung einfach ‚abkaufen‘ könne. Maßgeblich sei nur der Preis.“371 Sowohl Binders als auch Bauers Einschätzung reflektieren eine gewisse Identifikation mit den Positionen des jeweiligen Empfangsstaates, wobei Bauer aufgrund seiner früheren Erfahrungen als Botschafter in Ost-Berlin und als Lei-ter der Ostabteilung des Ballhausplatzes auch aus Bonn die DDR-Sicht stärker in seine Berichte zu integrieren vermochte.372

367 Siehe Dok. 155

368 Mock an Kohl, Wien, 2. Juli 1990, ÖStA, AdR, BMAA, II-Pol 1990, GZ. 22.17.01/167-II.1/90.

369 Siehe Dok. 160, Anm. 17 und Dok. 165.

370 Siehe Dok. 156.

371 Siehe Dok. 157.

372 Zur Sicht Bauers zudem erhellend: Friedrich Bauer, „Der Sinn der Kulturpolitik, als noch der Eiserne Vorhang da war, war in diesen kleine Löcher zu bohren“, in: Gehler / Brait (Hg.), Am Ort des Geschehens, S. 159–183; und Bauer im Interview mit Michael Gehler „Ich habe bis heute größere Sympathien für Deutsche in der ehemaligen DDR“, in: Michael Gehler / Hin-nerk Meyer (Hg.), Deutschland, der Westen und der europäische Parlamentarismus (Hildes-heimer Europagespräche I), Hildesheim / Zürich / New York 2011, S. 52–88.

Für Wien stellte die vom NATO-Gipfel in London am 5./6. Juli 1990 von den Staats- und Regierungschefs der Staaten des atlantischen Bündnisses verabschie-dete „Londoner Deklaration über eine veränderte nordatlantische Allianz“ ein

„klares Bekenntnis der Allianz dar, auf die veränderte Lage in Europa einzugehen und die in Aussicht gestellte Umwandlung in eine stärker politische Organisation durchzuführen“. Sie wurde zudem als „ein Signal der außenpolitischen Hilfestel-lung für den bedrängten Gorbatschow“ und der Bereitschaft, in der „Frage der deutschen Einigung […] auf sowjetische Sicherheitsinteressen Rücksicht nehmen zu wollen“ gewertet – insbesondere im Hinblick auf die künftige Truppenstärke eines geeinten Deutschlands.373 Diese wurde nach langen Verhandlungen und zähem innerdeutschen Ringen auf eine Obergrenze von 370.000 Mann festgelegt.

Darin sah das österreichische Außenministerium schließlich auch einen der maß-geblichen Gründe für Gorbatschows Entscheidung die Ampel zur deutschen Ein-heit endgültig auf Grün zu stellen.374

Die Entscheidung fiel, als Kohl und Gorbatschow am 16. Juli 1990 in Archys im Kaukasus verhandelten und eine Paketlösung aus Einheit mit ausdefinierter NATO-Mitgliedschaft, deutscher Wirtschaftshilfe und anderen finanziellen Ab-geltungen sowie der Perspektive eines künftig auch vertraglich engeren deutsch-sowjetischen Verhältnisses erreichten, deren Details freilich noch Experten-verhandlungen in den folgenden Wochen und Monaten vorbehalten blieben.

Alois Mock reagierte bereits am 17. Juli mit Glückwunschschreiben zum „groß-artigen Verhandlungserfolg“ an Kohl375 und seinen Amtskollegen Genscher, dem er attestierte, daran „in so hervorragender Weise beteiligt“ gewesen zu sein.376 In einer ersten Einschätzung des „Durchbruchs im Kaukasus“ bemerkte die öster-reichische Botschaft in Moskau, wie vage die Nachrichten und Verlautbarungen

373 Siehe Dok. 159.

374 Siehe Dok. 162.

375 „Lieber Freund! Zu dem großartigen Verhandlungserfolg in Moskau möchte ich Dir meine herzlichsten Glückwünsche ausdrücken. Die erzielte grundsätzliche Einigung ist nicht nur für Deutschland, sondern darüber hinaus für ganz Europa von größter Bedeutung. Ich bin zuversichtlich, daß damit die Grundlage für eine dauernde Friedensordnung, die über un-seren Kontinent hinausreicht, geschaffen wurde.“ Mock an Kohl, Wien, 17. Juli 1990, ÖStA, AdR, BMAA, II-Pol 1990, GZ. 22.17.01/172-II.SL/90. Auch Bundeskanzler Vranitzky hatte Kohl wenig später per Schreiben gratuliert. Kohl bedankte sich für die „Glückwünsche zu den Ergebnissen meiner Begegnung mit dem sowjetischen Präsidenten Gorbatschow“ und fügte hinzu: „Wir sind unseren Verbündeten und Nachbarn dankbar, daß sie den Weg des deutschen Volkes zur Herstellung der Einheit mit Verständnis und Vertrauen unterstützen.“

Kohl an Vranitzky, Bonn, 8. August 1990, Kreisky-Archiv, Depositum Franz Vranitzky, Be-stand AP, Karton „KRAZAF, KUWEIT, Dr. Kohl Helmut BK. d. BRD“, Mappe „Kohl Helmut, Dr. BK d. BRD u. VS d. CDU“.

376 „Ich möchte Ihnen zu dem Erfolg der Moskauer Verhandlungen, an dem Sie in so hervor-ragender Weise beteiligt waren, aufrichtig gratulieren. Als Nachbarstaat verfolgen wir die Bemühungen um die Einigung Deutschlands in Frieden und Freiheit mit besonderem Inter-esse. Nunmehr besteht erstmals die Aussicht auf eine dauernde europäische Friedensordnung in Freiheit und Demokratie.“ Mock an Genscher, Wien, 17. Juli 1990, ÖStA, AdR, BMAA, II-Pol 1990, GZ. 22.17.01/172-II.SL/90.

hinsichtlich des künftigen militärischen Status’ Deutschlands gehalten waren, gleichzeitig war der „Link“ zwischen der NATO-Mitgliedschaft Deutschlands und deutscher Wirtschaftshilfe für die Sowjetunion offensichtlich. Schwierig-keiten sah man auf Gorbatschow bei der internen Argumentation und Durch-setzung dieses Pakets zukommen. Man erwartete, dass dem Generalsekretär

„Nachgiebigkeit“ und „leichtfertige Konzessionen“ vorgeworfen werden würden.

Auch Putschgerüchte kursierten in diesem Zusammenhang. Nach Ansicht der Botschaft hing die tatsächliche Umsetzung der getroffenen Vereinbarungen „in einem großen Maße auch vom Takt und Fingerspitzengefühl der Deutschen selbst in den kommenden Tagen und Wochen“ ab.377 Auch der Leiter der Ostabteilung Sucharipa vertrat die Ansicht, dass eine innenpolitische Absicherung der Ver-handlungsergebnisse „von der weiteren Reaktion im Westen abhängen“ würde.

Ein potentiell schädliches zu „lautes Triumphieren“ erwartete er aber „angesichts des deutschen ‚Alleinganges‘“ nicht.378 Damit hatte er Recht.

Die österreichische Botschaft in Washington berichtete, dass die USA die er-zielte Einigung inhaltlich zwar begrüßen, jedoch gerne bei den entscheidenden Gesprächen mitgeredet hätten. Dies führte auch dazu, dass umgehend Über-legungen zum künftigen deutsch-sowjetischen Verhältnis angestellt wurden.379 Sucharipa, der die Einigung vom Kaukasus auch als Zeichen für „eine künftige Eigenständigkeit deutscher Außenpolitik“ interpretierte, sah das Ergebnis als

„gelungene ‚Realpolitik‘“ an.380 Für die Westabteilung des Ballhausplatzes stand nach Auflistung der für alle Seiten Positives beinhaltenden Ergebnisse fest, „daß die Vereinigung der beiden deutschen Staaten noch vor Jahresende Wirklichkeit“

würde. „Für Österreich“ – so Abteilungsleiter Plattner – „wird u. a. von Interesse sein, welche Auswirkungen die Bemühungen der westeuropäischen Staaten um die feste ‚Westbindung‘ Deutschlands auf die Entwicklung der EG (Vertiefung, Europäische Union!) haben werden“.381

Das dritte „Zwei-plus-Vier“-Außenministertreffen hatte am Tag nach der Eini-gung von Archys am 17. Juli in Paris stattgefunden, wo nun auch viele wichtige Details gelöst werden konnten. Nun stand endgültig fest, dass die „Zwei-plus-Vier“-Regelung einen Friedensvertrag ersetzen würde, wodurch laut erleich-terter Auskunft des Auswärtigen Amts auch die Frage möglicher Reparationen vom Tisch war.382 Daraufhin galt es, binnen kürzester Frist den deutschen Eini-gungsvertrag fertig zu stellen, den „Zwei-plus-Vier“-Prozess abzuschließen und umgehend mit den Verhandlungen über ein umfangreiches deutsch-sowjeti-sches Vertragswerk sowie die entsprechenden deutschen Wirtschaftshilfen an die Sowjetunion zu beginnen. Der Gesamtkomplex war kaum zu überblicken und

377 Siehe Dok. 161.

378 Siehe Dok. 163.

379 Siehe Dok. 164 380 Siehe Dok. 163.

381 Siehe Dok. 162.

382 Siehe Dok. 166.

vieles war noch lange nicht in trockenen Tüchern.383 Anfang September sprach die österreichische Botschaft in Moskau „von faktisch permanenten Verhand-lungen“ zwischen der Bundesrepublik und der Sowjetunion, bei denen bis zum letzten Augenblick offene Fragen, die mit hohen Kosten verbunden waren, zu klären blieben.384

Das Verhandlungstempo war beeindruckend. Der „Einigungsvertrag“ über die politischen und rechtlichen Aspekte der deutschen Einheit zwischen der Bundes-republik und der DDR war am 31. August unterzeichnet worden, beim vierten

„Zwei-plus-Vier“-Außenministertreffen am 12. September in Moskau folgte der

„Vertrag über die abschließende Regelung in bezug auf Deutschland“ und bereits am 13. September 1990 wurde der deutsch-sowjetische Vertrag über „gute Nach-barschaft, Partnerschaft und Zusammenarbeit“ paraphiert. Bonn und Moskau hatten sich in diesem vor allem ein wechselseitiges Neutralitätsversprechen im Falle eines Angriffs von dritter Seite gegeben, was bemerkenswert war, zumal Sicherheitsgarantien für die sowjetische Deutschlandpolitik nach dem Zweiten Weltkrieg immer wichtig waren.385 Nachdem in der Substanz des Vertrags alle Fragen gelöst und für die Sowjetunion zufriedenstellende wirtschaftliche Gegen-leistungen absehbar waren, gelang es Außenminister Genscher, „auch noch die sowjetische Zustimmung zur Suspendierung der alliierten Rechte und Vorbehalte für Berlin und Deutschland ab dem Datum der deutschen Vereinigung zu errei-chen“.386 Die Westabteilung des Ballhausplatzes sah damit die „politischen Ziele der Bonner Regierung, die Verwirklichung der deutschen Einheit unter Beibe-haltung der Westbindung, […] bei Gewährung nur geringfügiger politischer Zu-geständnisse“ als erreicht an.387

Die Ostabteilung des Ballhausplatzes wertete „die  – aus einer Position der relativen Schwäche – erzielten Regelungen“ als „bedeutende[n] Erfolg der sowje-tischen Außenpolitik“. Nach Ansicht Sucharipas hatte die Sowjetunion „für aus ihrer Sicht verhältnismäßig geringe (weil mittelfristig praktisch unvermeid-liche) Konzession eine hohe Abgeltung“ erhalten „und gleichzeitig ihre Position in Europa“ gestärkt, worin er Gorbatschows „(vermutlich letzte)  Chance“ sah, die Sowjetunion „unter der Bedingung eines geordneten Übergangs zu Markt-wirtschaft und Föderalismus  – weitgehend zusammenzuhalten“. Zudem

ent-383 Siehe Dok. 167.

384 Siehe Dok. 169.

385 Gesetz zu dem Vertrag vom 9. November 1990 über gute Nachbarschaft, Partnerschaft und Zusammenarbeit, zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Union der Sozialisti-schen Sowjetrepubliken vom 31. Mai 1991, siehe darin Artikel 3: „Sollte eine der beiden Seiten zum Gegenstand eines Angriffs werden, so wird die andere Seite dem Angreifer keine mi-litärische Hilfe oder sonstigen Beistand leisten und alle Maßnahmen ergreifen, um den Kon-flikt unter Anwendung der Grundsätze und Verfahren der Vereinten Nationen und anderer Strukturen der kollektiven Sichehrheit beizulegen“, Bundesgesetzblatt 1991, II, Nr. 15.

386 Siehe Dok. 171 387 Siehe Dok. 170.

sprach das Ergebnis den österreichischen Vorstellungen „einer neuen europä-ischen Architektur“.388

Vor diesem Hintergrund erklärte Österreich nach Vollzug der deutschen Ein-heit auch einige in direktem Bezug zur Lösung der Deutschlandfrage stehende Passagen des österreichischen Staatsvertrags von 1955 für obsolet.389 Damit wurde ein Teil der im Kalten Krieg entstandenen Beschränkungen für Österreich ab gelegt und die Zukunft des Landes sollte „Europa“ heißen. Botschafter Bauer, dessen Amtszeitsende in Bonn mit der deutschen Einheit zusammenfiel, gestal-tete seinen Abschlussbericht zu einem Plädoyer für die raschestmögliche Teil-nahme Österreichs am integrierten Europa: „Jetzt sollten wir alles daran setzen, sobald als möglich als gleichberechtigtes Mitglied in die EG einzuziehen. […] An Europas Gestaltung im 3. Jahrtausend, die heute beginnt, sollten wir nicht als Zaungast, sondern als voll Mitwirkende in den EG teilnehmen können.“ Er sah ebendarin auch den besten Weg, um von einem größeren Deutschland, mit dem man noch enger zusammenarbeiten würde, emanzipiert zu bleiben.390 Auf dem Weg dorthin hieß es zunächst aber noch, vom „zweiten deutschen Staat“ Abschied zu nehmen.