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Österreich, die europäische Integration und die Anerkennung

I. Vorbemerkungen

4. Österreich, die europäische Integration und die Anerkennung

Während Moskau hinsichtlich der Anerkennungsfrage gegenüber Österreich sehr behutsam vorging, war der Ton der Sowjetunion, wenn es um das Verhältnis zur Bundesrepublik ging, schon viel schärfer. Eine erste Belastungsprobe stellte das österreichische Ansinnen vom 15. Dezember 1961 dar, eine Assoziierung mit der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) zu erreichen. Aus sowjetischer Sicht war jede Verbindung mit der EWG dem Anschlussverbot des Artikels 4 aus

88 Vermerk über ein Gespräch mit dem Leiter der DDR-Sektion im MID, Genossen Scharkow, am 22. Juni 1968, gezeichnet Botschaftsrat Seidel, Moskau, 1. Juli 1968, PA / AA, MfAA, C 1491/74, Bl. 93–97.

89 Wolfgang Mueller, A Good Example of Peaceful Coexistence? The Soviet Union, Austria, and Neutrality 1955–1991, Wien 2011, S. 156–157, 165–166, 169 und 173.

90 Michel Gehler, Raab, Julius, in: Neue Deutsche Biographie, hg. v. d. Historischen Kommis-sion bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Bd. 21, Pütter-Rohlfs, Berlin 2003, S. 51–53.

91 Botschafter Haymerle an BMAA, Moskau, 14. November 1972, ÖStA, AdR, BMAA, II-Pol 1972, DDR 2, Gr.Zl. 150.188–6/72, GZ. 166.433–6(Pol)/72, Karton Pol-72–15; Amtsvermerk, Aufnahme diplomatischer Beziehungen mit der DDR; Gespräch mit dem sowjetischen Ge-schäftsträger, gezeichnet Generalsekretär Wodak, Wien, 30. November 1972, Zl. 2908-GS/72, ÖStA, AdR, BMAA, II-Pol 1972, DDR 2, Gr.Zl. 150.188–6/72, GZ. 167.650–4/72, Karton Pol-72–15.

dem Staatsvertrag, der eine vertragliche Verbindung Österreichs mit der Bundes-republik untersagte, zuwiderlaufend – ein Standpunkt der bis in die letzten Jahre des Kalten Krieges unverändert blieb. Daher konnte Bonn als stärkste Handels- und Wirtschaftsmacht in der EWG die österreichischen Ziele nur sehr vorsichtig unterstützen. Die angestrebte Assoziierung scheiterte aber weder an der aufgrund des französischen Vetos gegen einen Beitritt Großbritanniens zu dieser Zeit reser-vierten Aufnahmebereitschaft der EWG oder der eindeutig ablehnenden Haltung der Sowjetunion, sondern an einer italienischen „Totalblockade“, die sich von 1967 bis 1969 aufgrund der nach Bombenanschlägen zugespitzten Lage im Südtirol-Konflikt in einem Veto gegen EWG-Verhandlungen mit Österreich manifestierte.

Hier konnte und wollte auch die Bundesrepublik als NATO-Partner Italiens nicht erfolgreich vermittelnd eingreifen. Erst nachdem der Südtirol-Konflikt mit Italien 1969 durch „Paket“ und „Operationskalender“ einer für beide Seiten akzeptablen bilateralen Lösung zugeführt werden konnte und Charles de Gaulle aus der Poli-tik ausgeschieden war, konnte Österreich sein Ziel einer formellen Beziehung zur EWG erreichen.92 1972 wurden Zoll- und Handelsverträge geschlossen.93 Diese blieben mit Blick auf die Tiefe der Integration jedoch hinter den Bestrebungen der 1960er-Jahre deutlich zurück, brachten aber die lange angestrebte handelspoli-tisch intensivere Bindung hinsichtlich industriell-gewerblicher Produkte an den EWG-Raum, gleichwohl landwirtschaftliche Güter davon ausgenommen waren.94 Eine aktive Teilhabe des Gründungsmitglieds der European Free Trade Associa-tion (EFTA) an der westeuropäischen Integration wurde erst mit dem Ende des Kalten Krieges möglich, wie weiter unten zu zeigen sein wird.

Aufgrund der veränderten internationalen Lage Anfang der 1970er-Jahre, zu der die „neue Ostpolitik“ der Bundesrepublik einen bedeutenden Beitrag geleis-tet hatte, konnte nun auch das Verhältnis der beiden deutschen Staaten geregelt werden. Österreich begrüßte die westdeutsche „neue Ostpolitik“ obwohl diese von Diplomaten insbesondere in wirtschaftlicher Hinsicht auch in Konkurrenz

92 Michael Gehler, Österreichs Weg in die Europäische Union, Innsbruck / Wien / Bozen 2009, S. 58–80; zur sowjetischen Position siehe: Mueller, Example, S. 133–174. Zur Südtirolfrage siehe Michael Gehler, Kursaal von Meran am 22./23.11.1969: Die Paketentscheidung vor 40 Jahren. Analyse und Bilanz einer Weichenstellung der Geschichte Südtirols, in: Andreas Khol / Günther Ofner / Stefan Karner / Dietmar Halper (Hg.), Österreichisches Jahrbuch für Politik 2009, Wien / Köln / Weimar 2010, S. 417–425; idem, Von St. Germain bis zum „Paket“

und „Operationskalender“: Der 50jährige steinige Weg zur Autonomielösung der Südtirol-frage 1919–1969, in: Melani Barlai / Christina Griessler / Richard Lein (Hg.), Südtirol. Vergan-genheit – Gegenwart – Zukunft (Andrássy Studien zur Europaforschung 17), Baden-Baden 2014, S. 13–48.

93 Michael Gehler, From Multilateral to Bilateral Free Trade: Austria’s Bridging the Gap and the Failure of „Going-It-Alone“ to Brussels 1955–1972, in: The Journal of European Economic History 33 (2004) 1, S. 127–178.

94 Zum Inhalt der Abkommen mit EWG und EGKS 1972 siehe: Michael Gehler, Vom Marshall-Plan zur EU. Österreich und die europäische Integration von 1945 bis zur Gegenwart, Inns-bruck / Wien / Bozen 2006, S. 137–142.

zur österreichischen Ostpolitik gesehen wurde.95 Gelegentlich wurde die öster-reichische Form der Ostpolitik sogar als Vorbild für deren westdeutsche Ausfor-mung betrachtet,96 wobei die Problematik einer Überbewertung der Rolle Öster-reichs besteht. Im Bonner Auswärtigen Amt finden sich in jenen Jahren keine Hinweise auf eine derartige Vorbildwirkung, gleichwohl die Akten nicht immer alles enthalten und die Gläubigkeit an sie nicht zu weit gehen sollte. Eine sol-che kann daher nur informell oder durch direkte Kontakte zwissol-chen den politi-schen Akteuren zustande gekommen sein.97 Inwieweit der persönliche Austausch zwischen österreichischen und westdeutschen Politikern in die Gestaltung der

„neuen Ostpolitik“ einfloss, ist jedenfalls nicht hinreichend erforscht. Wien als Informationsquelle, Orientierungs- und Referenzpunkt für Bonn sollte nicht un-terschätzt werden. Jedenfalls maß sich Bruno Kreisky aufgrund seiner engen Be-ziehungen zu Willy Brandt durchaus eine bedeutende Rolle bei der Entstehung der

„neuen Ostpolitik“ bei. In einem Gespräch mit einem ostdeutschen Diplomaten, das er 1967 – die SPÖ war in Opposition – führte, betonte Kreisky, dass er „seinem Freund Brandt“ bereits früh die Notwendigkeit der Entwicklung der Beziehungen zu den sozialistischen Staaten dargelegt habe. Des Weiteren bekräftigte er sein Eintreten für eine Politik der Entspannung und ging sogar so weit, sich selbst als den „Initiator der Entspannungspolitik nach dem Osten“ zu bezeichnen.98 Wei-tere Aussagen Kreiskys, die in diese Richtung weisen, sind überliefert.99

Der Grundlagenvertrag zwischen der Bundesrepublik und der DDR wurde am 21. Dezember 1972 unterzeichnet. Für einen neutralen Staat wie Österreich war es nicht inkonsequent, bereits am gleichen Tag die diplomatische Anerken-nung des zweiten deutschen Staates zu vollziehen.100 Seitens der Bundesrepublik wertete man diesen Schritt auch unaufgeregt. In Bonn war man sich darüber im Klaren, dass Österreich „nach Unterzeichnung des Grundvertrags auch zur

95 Dazu ausführlich und im Vergleich mit den anderen neutralen Staaten: Graf, Österreich und die DDR, S. 274–318.

96 André Biever, L’Autriche et les origines de l’Ostpolitik de la République fédérale d’Alle-magne, in: Relations Internationales 114 (2003), S. 213–230. Gehler, Österreichs Außenpoli-tik, S. 297–300.

97 Karl-Günther von Hase, im deutschen Bundeskanzleramt 1962–1967 und später als Chef des Presse- und Informationsamtes der deutschen Bundesregierung tätig, berichtete bei einer Zeitzeugen-Konferenz am Europäischen Hochschulinstitut in Florenz 1993, dass die Wiener Ballhausplatz-Diplomatie in den 1960er-Jahren mehrfach wertvolle Kanäle für die Bundes-republik in den Staaten Mittel- und Osteuropas öffnete und man in Bonn wiederholt auf die „Osterfahrung“ der österreichischen Außenpolitik rekurrierte. Mitteilung an Michael Gehler.

98 Zusammenfassender Bericht über die Kontakte des Leiters der Abteilung Westeuropa, Ge-nosse Dr. Oeser, während der Dienstreise nach Österreich in der Zeit vom 12.–17. Juni 1967, gezeichnet Oeser, Berlin, 19. Juni 1967, PA / AA, MfAA, C 143/70, Bl. 14–25.

99 Siehe dazu: Graf, Österreich und die DDR, S. 422–424.

100 Zur Anerkennung siehe: Enrico Seewald, Im Windschatten der Ostpolitik. Die Aufnahme di-plomatischer Beziehungen zwischen der DDR und Österreich, in: Zeitschrift des Forschungs-verbundes SED-Staat 23/2008, S. 17–24.

DDR diplomatische Beziehungen aufnehmen würde“. Hinsichtlich deren weiterer Entwicklung besaß man eine realistische Einschätzung: „Wie sich das zukünftige Verhältnis zwischen beiden Ländern gestalten wird, hängt indessen weniger von diesem formalen Akt [der Anerkennung] ab. Als wichtiger dürften sich die Ver-handlungen erweisen, die man in nächster Zeit über wirtschaftliche und konsula-rische Fragen, Verkehrsbeziehungen und vermögensrechtliche Angelegenheiten führen wird.“ Schwierigkeiten erwartete man zutreffenderweise insbesondere im Bereich der Vermögens- und Staatsbürgerschaftsfragen.101

Die DDR wurde nun jedenfalls ein fester Bestandteil der politischen Land-karte Europas und kaum jemand erwartete eine „Wiedervereinigung“ der bei-den deutschen Staaten. Insbesondere durch die KSZE-Schlussakte vom 1. August 1975 schien das geteilte Europa zementiert – dies war allerdings ein Trugschluss wie sich nur 15 Jahre später zeigen sollte, nicht zuletzt weil das realpolitische Streben der Sowjetunion nach Anerkennung des Status quo in Europa durch den Helsinki-Prozess eine größere Dimension bekam, die wiederum auf die poli-tischen Verhältnisse im Osten auf lange Sicht destabilisierend wirken sollte.102 Der Historiker Vladislav Zubok hat es auf den Punkt gebracht: „In 1975, the Kremlin once again celebrated geopolitical victory without anticipating its dire consequences.“103

In Europa aber auch in der Bundesrepublik hielt kaum jemand eine deut-sche „Wiedervereinigung“ in näherer Zukunft für möglich. Da die DDR dem sozialistischen Lager angehörte, war es für Österreich folgerichtig, diese trotz der Besonderheiten der deutschen Zweistaatlichkeit in sein größeres außenpoli-tische Konzept der „Ostpolitik“, die offiziell als „Nachbarschaftspolitik“ tituliert wurde, einzubeziehen.104 Nach dem Abschluss der Verhandlungen über die Auf-nahme diplomatischer Beziehungen zwischen Österreich und der DDR führte Außenminister Rudolf Kirchschläger am 6. Dezember 1972 in einem Vortrag vor der Österreichischen Gesellschaft für Außenpolitik die Beweggründe für diesen Schritt aus: Mit der Unterzeichnung des Grundlagenvertrags sei „jener markante und politisch relevante Zeitpunkt erreicht“, zu dem „durch eine österreichische Anerkennung nicht mehr in die Verhandlungen über die Regelung des Verhält-nisses zwischen den beiden deutschen Staaten eingegriffen wird, und […] auch die

101 Politischer Jahresbericht der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Wien 1972, PA / AA, Zwischenarchiv, Bd. 109.208.

102 Oliver Bange / Gottfried Niedhart (Hg.), Helsinki 1975 and the Transformation of Europe, New York 2008, siehe insbesondere die Einleitung S. 1–21; Wilfried Loth, Der KSZE-Prozess 1975–1990: eine Bilanz, in: Matthias Peter / Hermann Wentker (Hg.), Die KSZE im Ost-West-Konflikt. Internationale Politik und gesellschaftliche Transformation 1975–1990 (Schriften-reihe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte Sondernummer), München 2012, S. 323–331.

103 Vladislav M. Zubok, A Failed Empire: The Soviet Union in the Cold War from Stalin to Gor-bachev, Chapel Hill 2007, S. 237–238.

104 Maximilian Graf, Österreichs „Ostpolitik“ im Kalten Krieg. Eine doppeldeutsche Sicht, in:

idem / Agnes Meisinger (Hg.), Österreich im Kalten Krieg. Neue Forschungen im internatio-nalen Kontext, Göttingen 2016, S. 145–173.

Aufnahme der beiden deutschen Staaten in die Vereinten Nationen gesichert ist“.

Jedoch betonte er, Österreich werde „jede weitere künftige Annäherung zwischen den beiden deutschen Staaten begrüßen, insbesondere dann, wenn sie einer Mil-derung der durch die Teilung bedingten menschlichen Härten dient“ und schloss

„die Möglichkeit einer Wiedervereinigung als Endziel dieses Prozesses“ nicht aus.

Mit Blick auf die kommenden Beziehungen erklärte er, dass die Anerkennung nicht nur ein „Formalakt“ sei. Österreich werde in Hinkunft „nicht nur über jene dringenden Probleme“ sprechen, die „als dringend verhandlungsbedürftig“

angesehen würden, sondern Österreich werde „das gesamte Verhältnis zur DDR“ im beiderseitigen Interesse mit einem der „neuen Situation im Zentrum Europas“

Rechnung tragenden Inhalt füllen.105 Dementsprechend gestaltete sich auch das Verhältnis. Auch wenn man mit Übertreibungen vorsichtig sein sollte: Österreich wurde zu einem diplomatischen „Eisbrecher“ für die DDR. Die Bundesrepublik verfolgte diese Entwicklung in der Regel mit Wohlwollen, zeitweise aber auch mit Sorge.

5. Das Verhältnis Österreichs zu den beiden deutschen Staaten