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Die deutsche Projektgeschichte vor 1945

1.3.5 „Neuer“ Lehrplan

Teil 2: Projektunterricht an der gewerblichen Berufsschule 2.1 Grundlagen des Projektunterrichts

2.2 Historischer Rückblick des Projektunterrichts .1 Einführung .1 Einführung

2.2.5 Zur Geschichte der Projektmethode in Deutschland

2.2.5.2 Die deutsche Projektgeschichte vor 1945

WOLFF (1931, 52) empfahl die Gliederung der Ausbildung in - „das Material und seine Bearbeitung“,

- „Theorie und Geschichte der Baukunst“ und - „Entwerfung und Ausführung von Bauplänen“.276

Dabei spielte der dritte Teil des Studiums für das Projekt die entscheidende Rolle. Hier bekam der Student die Möglichkeit, seine erlernten Fähigkeiten und Kenntnisse an Eigenproduktio-nen einzusetzen.277

In vielen Fällen stimmte die in Deutschland angewandte Projektmethode mit den Inhalten der École Centrale überein. „Neu war jedoch der Gedanke, daß die Studenten auch die Daten zu ihren Projekten auf dem Felde278 .. selbständig erheben mussten. Um die Feldarbeit zu ermög-lichen, fand sogar eine Art Projektwoche statt“ (KNOLL, 1991, 29f.).

Die enge Anlehnung der deutschen Ausbildung an die französischen Vorbilder lässt den Schluss zu, es wurde deren System kopiert. Das trifft nach KNOLL (1991, 39) keinesfalls zu.

„Wolff, Bader und Becker entwickelten Projektkonzepte, die den praktischen Berufsanforde-rungen des Architekten und Ingenieurs näher kamen als die wissenschafts- und ideenorientier-ten Konzepte von Blondel, Dumas und Olivier.“

Unverkennbar sind ab dem 20. Jahrhundert die Einflüsse JOHN DEWEYS auf die internatio-nalen Reformbestrebungen, die Schule zu erneuern. Unnatürlich erwies sich aber der Um-stand, dass die deutschen Reformpädagogen zumindest ab den 20er Jahren des letzten Jahr-hunderts keine Kenntnis von DEWEYS Werk hatten, obwohl der Amerikaner weltbekannt war und in seiner Heimat kaum eine Veröffentlichung erschien, die sich nicht auf ihn be-zog.279

Gründe darin zu suchen, warum in Deutschland die in Amerika kaum zu ignorierende Pro-jektbewegung nicht „ankam“, kann aber nicht generell mit der Unkenntnis darüber zusam-menhängen.

„Der pädagogische Reformwille hat sich .. stets als eine ausgesprochen übernationale Kraft erwiesen, die das pädagogische Gespräch in Hinblick auf einen möglichen Gedankenaus-tausch über die Grenzen hinweg nachdrücklich fördert. Die pädagogische Studienreise als bewußte und lebensnahe Erschließung der Erfahrungen der anderen wurde daher schon früh auf dem Hintergrund einer selbstkritischen Auseinandersetzung zu einem Mittel der

276 zit. nach KNOLL (1991, 28)

277 vgl. WOLFF (1931, 52), zit. nach KNOLL (1991, 28)

278 Damit waren Untersuchungen außerhalb der Schule gemeint, wie z.B. Untersuchungen des Bodens, nivellisti-sche Messungen usw.

279 vgl. SUIN DE BOUTEMARD (1997, 40)

bestrebungen“, resümiert HERRMANN RÖHRS (1991, 64). Bekannt sind jedenfalls die Rei-sen von deutschen Pädagogen (KERSCHENSTEINER, REICHWEIN, KARSEN, PETER-SEN) nach Amerika, aber auch DEWEY war in mehreren Erdteilen unterwegs, um sein Ge-dankengut zu verbreiten. Demnach mussten auf jeden Fall einige deutsche Reformpädagogen Informationen über das Geschehen in Amerika gehabt haben.

Der Grund ist eher darin zu sehen, dass ein Teil, wie z.B. JOHANNES KRETSCHMANN und OTTO HAASE, mit der Projektpädagogik der Progressive Education Amerikas nicht in Verbindung gebracht werden wollte, ein anderer Teil durch die politischen Umstände, wie z.B. ADOLF REICHWEIN, daran gehindert war, sich offen dazu zu bekennen. Im Nachhin-ein (1951) wird dann bei HAASE durch Nachhin-eine unsachliche Kritik, mit der er sNachhin-eine Verachtung über die amerikanische Pragmatik ausdrückt, klar, warum er die Projektmethode ignorierte.280 Er war sicher nicht der Einzige. So spricht NÜCHTER über DEWEYS Pädagogik von einem Produkt ohne Ziellehre, dem die Wertbestimmung fehlt, und RUDOLF PRANTL bezeichnet sie als „Diesseitspädagogik“.281

Für SUIN DE BOUTEMARD (1997, 40) steckt dahinter ein eklatanter „gesellschaftlicher, politischer und kultureller Modernisierungsrückstand“ der deutschen Reformpädagogik. Eine deutliche Ausnahme dagegen war FRITZ KARSEN, der nicht nur JOHN DEWEYS Arbeiten aufmerksam verfolgte, sondern sich auch für die Projektpädagogik und das Wirken von WIL-LIAM HEARD KILPATRICK interessierte.

Ähnlichkeiten zur amerikanischen Projektkonzeption weist die deutsche Vorhabenpädagogik auf. Wichtige Vertreter davon sind JOHANNES KRETSCHMANN, OTTO HAASE und ADOLF REICHWEIN.282

Für KRETSCHMANN steht der „natürliche Unterricht“ im Mittelpunkt, Vorhaben an sich haben bei ihm keinen großen Stellenwert. Er platziert sie entweder an das Ende des Stunden-plans oder nutzt sie als „unterrichtsmethodische Restkategorie“. Dabei wird alles aufgearbei-tet, was im Gesamtunterricht oder beim „Spielenden Lernen“ nicht möglich war. Ein „Vorha-ben-Merkbuch“ soll dem Vergessen vorbeugen. Einige Male im Jahr wird der normale Schul-betrieb mehrere Tage völlig ausgesetzt, um gemeinsame Vorhaben durchzuführen. Diese Vor-gehensweise nähert sich dem amerikanischen Projektkonzept am nächsten an. Dabei legt KRETSCHMANN großen Wert darauf, dass die Vorhaben „um ihrer selbst willen“ ablaufen und in keiner Phase mit dem üblichen Unterricht etwas zu tun haben.283

280 vgl. SUIN DE BOUTEMARD (1997, 50)

281 vgl. SUIN DE BOUTEMARD (1997, 39)

282 vgl. SUIN DE BOUTEMARD (1997, 49)

283 vgl. SUIN DE BOUTEMARD (1997, 50f.)

OTTO HAASE hat eine originäre Theorie der Volksschule im Blick, die sich deutlich von der der Gymnasien abheben soll. Er stellt den nach Stunden aufgeteilten Fachunterricht, den gefä-cherten Unterricht und der Lektion die neuen methodischen Elementarformen des Volks-schulunterrichts gegenüber:

- Gesamtunterricht, - Training,

- Vorhaben.284

Diese Elementarformen bilden ein zusammenhängendes Gesamtkonzept, denn ein Vorhaben bedarf der freien Unterrichtsgespräche aus dem Gesamtunterricht, und die für das Vorhaben notwendigen Fertigkeiten sind Gegenstand des Trainings.285

Für die Gestaltung von Vorhaben stellt HAASE vier Bedingungen:

1. Vorhaben beruhen auf einem gemeinsamen Arbeitsunterricht. Es entsteht ein vorzeigbares Werk.286

2. Die Ideen der Vorhaben entstammen der Lebenswelt der Kinder.

3. Der Lehrer plant und überwacht den Verlauf des Vorhabens.287

4. Die Kinder müssen für die Durchführung der Vorhaben befähigt sein.288

ADOLF REICHWEINS reformpädagogischer Schulversuch mit Vorhaben begann erst nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten im Januar 1933. Seines Amtes als Hochschulleh-rer enthoben, unterrichtete er freiwillig an einer einklassigen Dorfschule in Tiefensee.289 Auffallend ist bei der Betrachtung seiner schulischen und außerschulischen Bildungsarbeit die formale Nähe zur amerikanischen Projektpädagogik, wenn sich auch beide Erziehungsphilo-sophien deutlich voneinander abgrenzen. REICHWEIN beteiligt im Vorhaben - ähnlich wie HAASE - die Schüler nicht am planvollen Handeln. Übereinstimmend mit anderen arbeitet er aber fächerübergreifend, orientiert sich an der Lebensnähe der Schüler und versucht, sie ge-sellschaftlich zu integrieren.290

„Beide gehen von Kulturstufen der Ontogenese des einzelnen und ihrer Parallelität zur Phylo-genese der Menschheit aus ...“, formuliert SUIN DE BOUTEMARD (1997, 55) mit erweiter-tem Blick auf DEWEY. Dennoch kann „... bei Reichwein nicht im Sinne von Dewey von pro-jektnahen Konzeptionen gesprochen werden ..“.

284 vgl. SUIN DE BOUTEMARD (1997, 49ff.)

285 vgl. SUIN DE BOUTEMARD (1997, 51f.)

286 Das entspricht einer Produktorientierung.

287 Hier zeigt sich klar eine Lehrerzentrierung.

288 vgl. SUIN DE BOUTEMARD (1997, 52)

289 vgl. SUIN DE BOUTEMARD (1997, 52)

290 vgl. SUIN DE BOUTEMARD (1997, 55)

Unbestritten hat die deutsche Reformpädagogik mit dem selbstständigen, planerischen, kon-struktiven und auf ein Produkt ausgerichteten Arbeiten der Schüler wesentliche Elemente des Projektdenkens verinnerlicht, aber diese hatten zumindest in Deutschland aufgrund des Kon-kurrenzdenkens zu den Arbeitsschul- und Vorhabenkonzepten keine Möglichkeit, sich ange-messen zu entfalten.291

KURT HAHN (1886-1974) Die amerikanische Projektme-thode wurde zwar in Deutsch-land registriert, zu einer direk-ten Übernahme kam es jedoch nicht. Dennoch sind die Ein-flüsse auf die deutsche Re-formpädagogik unübersehbar.

Einer von wenigen deutschen Pädagogen, KURT HAHN, nutzte das Projekt im Rahmen seines Konzepts.

Abb. 57: HAHNS Erlebnistherapie292

HAHN, 1920 der erste Leiter des Landerziehungsheimes „Schloß Salem“, wurde vor allem bekannt durch die „Kurzschule“.293 1933 errichtete er eine nach Salemer Vorbild in Schott-land (Gordonstown) und sechs Jahre danach in Wales (Aberdovey). „Dahinter steht die Über-zeugung Hahns, daß der junge Mensch weder durch reine Theorie noch durch Scheinwirklich-keiten, sondern nur durch exemplarische Ernsterfahrungen auf das Feld des Daseins vorberei-tet werden könne“ (PÜTT, 1978, 19).

HAHN machte es sich zur Aufgabe, die Jugend „... vor der verweichlichenden Zivilisation durch die Weckung einer ethisch motivierten Unternehmungslust ...“ zu schützen. Er sah vor allem die Gefahren des scheinbar zivilisierten Alltags, kämpfte aber gegen die „... These von der unvermeidbaren ‚Deformität der Pubertätsjahre’“. Er stimmt der Auffassung ROUS-SEAUS zu, „... daß die sozialethisch motivierten Aufgaben die Pubertätskrise mindern oder vermeiden helfen ...“, und darauf baut seine Erlebnistherapie „... mit ihren ‚giftlosen Leiden-schaften’ und ‚heilsamen Gewohnheiten’ zu einem bewussten Gegenmittel ..“ auf.294

291 vgl. KNOLL (1984, 668)

292 Grafik erstellt nach dem Text von PÜTT (1978, 19), PÜTT (1982, 50).

293 Der Begriff geht auf die englische Bezeichnung „Short Term School“ zurück (vgl. PÜTT, 1982, 41).

294 vgl. RÖHRS (1966, 87)

HAHNS Konzept seiner Erlebnistherapie gliederte sich in vier Bereiche:

„- körperliches Training - Expedition

- Projekt

- Rettungsdienst“ (PÜTT, 1978, 19).295

KURT HAHNS Projekt in der Kurzschule wird als „Element der Erlebnistherapie und als Mittel gegen den Willensschwund“ der Schüler gesehen. „In den ‚Schulen ohne Klassenzim-mer’ sollen Schule und Leben durch Lernen an Projekten wieder zueinander finden und junge Menschen durch exemplarische Ernsterfahrungen auf das Leben vorbereitet werden.“ HAHN verlangt von den Schülern „… Mühe und Sorgfalt auf dem Weg zum Ziel, Verantwortungsbe-reitschaft und ein mühsames Eindringen in der Tiefe der Sachauseinandersetzung“ (PÜTT, 1982, 50).

Folgende Merkmale umschreiben das Projektlernen KURT HAHNS:

„1. Wirkungsvolle Motivation durch Berücksichtung der Interessen

2. Ausrichtung und Orientierung an eindeutig und klar formulierten Zielen 3. Zweckgerichtetes Handeln bei der Aufgabenbewältigung

4. Hingabe an die Sache und ernsthaftes Engagement 5. Ausdauer bei der Projektbewältigung

6. Zusammenfassender Abschluß der Arbeit, bei dem die Ergebnisse darge-stellt werden“ (PÜTT, 1982, 50).

HAHN will weg von der Belehrmentalität in der Schule. Vielmehr sollen die Projekte die Energien der Schüler bündeln, Interessen und Forschungsdrang wecken, Erlebnisse anbahnen.

Nachhaltige Vorbereitung auf das Leben, darunter das Gewahrwerden der eigenen Kräfte, die Ausprägung von Charaktereigenschaften und Bewältigungsstrategien für Krisenfälle, werden in den Kurzschulen intensiv betrieben.

FRITZ KARSEN (1885-1951)

KARSEN hat als erster von den deutschen Reformpädagogen das Gedankengut des „Projekts“

- wenn auch in einer weiten Bedeutung - verinnerlicht und in sein eigenes Konzept integ-riert.296

Keiner der deutschen Reformpädagogen der Weimarer Zeit stand der amerikanischen Pro-jektpädagogik mit JOHN DEWEY, WILLIAM HEARD KILPATRICK und ELLSWORTH

295 vgl. Abb. 57 (172)

296 vgl. FREY (1998, 45)

COLLINGS näher als FRITZ KARSEN. Bemerkenswert nahm das bereits 1921 den Anfang - zu einem Zeitpunkt, zu dem ihm JOHN DEWEY überhaupt noch nicht bekannt war. Didak-tisch mag auch ERICH HYLLA noch auf diese Stufe gestellt werden, KARSEN hob sich aber durch seine unterrichtsmethodische schulpädagogische Praxis am deutlichsten ab. Beispielhaft ist sein im Berliner Arbeiterviertel Neukölln bis zur NS-Machtergreifung durchgeführter Schulversuch.297

„Eine Versuchsschule erkannte er .. nicht einfach daran, daß irgendwelche wichtigen einzel-nen Experimente (etwa pädagogisch-psychologischer oder didaktischer Art) ohne allgemeieinzel-nen gesellschaftlichen Bezug durchgeführt wurden – womöglich unter künstlich geschaffenen Bedingungen; vielmehr glaubte er das entscheidende Kriterium für jede Versuchsschule darin sehen zu müssen, ob ihr schulorganisatorischer Aufbau, ihre Unterrichtsarbeit und ihr Schul-leben am ‚Gesamtbild’ der Zeit orientiert seien und somit richtungsweisende Arbeit für die

‚Schule von morgen’ leisteten“ (RADDE, 1966, 26).

KARSENS Schule kann man als soziale Arbeitsschule bezeichnen. Von der Organisation her gleicht sie einer modernen „Werkstatt“, in der die Mitglieder die Ziele selbst festlegen. Lehrer und Schüler entwickeln am Schuljahresanfang einen Plan, welche Projekte durchgeführt wer-den. Den einzelnen Klassen obliegt die Aufgabe zu prüfen, welche Projekte sie im Laufe des Jahres bearbeiten wollen. KARSENS Ziel ist es, die Schüler sinnvolle Erfahrungen machen und sie erleben zu lassen, wie wichtig es ist, bei Aufgaben- und Problemlösung gemeinsam daran zu arbeiten. FÜR KARSEN sind Projekte gekoppelt an Produkte, die als Höhepunkt am Schuljahresende in einer öffentlichen Ausstellung präsentiert und von allen kritisch gewürdigt werden.298

Jahr für Jahr entsprach sein Wirken mehr der amerikanischen Projektpädagogik, wobei KAR-SEN keinesfalls als Imitator neuzeitlicher Entwicklung einzustufen ist.

Das wird auch an seinem Vorwurf deutlich, DEWEY gehe nicht historisch vor, denn er mache nicht die wirtschaftliche Gesellschaftsstruktur und den Aufbau der Arbeiterschaft zur Aus-gangslage seiner Reform und der gesellschaftlichen Erneuerung.299 „Für Karsen ist das gesell-schaftliche Wirken der Arbeiterklasse und damit auch der Klassenkampf sowie das Be-wußtsein, eine ‚Klasse für sich’ und nicht bloß einer [sic!] ‚Klasse an sich’ zu sein, aus-schlaggebend und der Transmissionsriemen auf dem Weg zu einer ‚Werdenden Gesellschaft’“

(SUIN DE BOUTEMARD, 1997, 56).

297 vgl. SUIN DE BOUTEMARD (1997, 56)

298 vgl. FREY (1998, 45f.)

299 vgl. SUIN DE BOUTEMARD (1997, 56)

FRITZ KARSEN ist ein Anwender, ein Praktiker. Seine Reform des Schulunterrichts und der Erziehung lebt er, indem er sie praktiziert. Er bezieht sich in seiner „republikanischen Verfas-sungsformel“ auf „Leben, Freiheit und Gemeinschaft“, die ihre Konsistenz über die Arbeit erhalten.

Für KARSEN ist Leben Arbeit, Leben bedeutet das Lösen von Auf-gaben, die allmählich im Schwie-rigkeitsgrad ansteigen. Durch Ar-beit wird seiner Meinung nach in einer arbeitsteiligen Gesellschaft die Gleichwertigkeit der Menschen gesichert und Arbeitsrecht und Ar-beitspflicht sind gleichermaßen bestimmend für die Freiheit. Unter Arbeitsrecht versteht er die produk-tive Wirkungsweise in der und für die Gemeinschaft, die Arbeits-pflicht verlangt, sich völlig mit der Arbeitsaufgabe zu identifizieren.300

Abb. 58: KARSENS „republikanische Verfassungs-formel“301

KARSEN (1921, 27) fokussiert diese Zusammenhänge so: „Leben wird zur Arbeit, Arbeit zum Leben; Gemeinschaft wird Arbeitsgemeinschaft, Arbeitsgemeinschaft zur einzig mögli-chen Gemeinschaft, Freiheit zur Gemeinschaft in dieser.“

Damit deutet er auch seinen Weg an, nämlich Schule durch Leben zu ersetzen und aus Schul-klassen arbeitsfähige Arbeitsgemeinschaften erwachsen zu lassen. Zunächst trennte KARSEN sich wie alle anderen Reformpädagogen von den bisherigen Unterrichtsmethoden und löste die Fachgebundenheit und den Lehrplanzwang auf. Anstelle dessen holte er die Lebenswelt der Schüler in die Schule. Klassen- und Standesschranken wurden aufgehoben und er arbeite-te unermüdlich an einer Einheits- und Gemeinschaftsschule, in der sich die „Werdende Ge-sellschaft“ abbilden sollte. Als er 1930 seine Neuköllner Versuchsschule in die Karl-Marx-Schule umbenannte, bekannte er sich auch öffentlich zum Projektplan und zur teilweisen Ü-bernahme des Dalton- und des Plantoonplans. Seine Einstellung prägte auch seine pädagogi-sche Arbeit. So führte er von Anfang seiner Schulversuche (1921) an Schul- und Studienfahr-ten durch, begab sich mit den Schülern und Lehrpersonen zu lernträchtigen OrStudienfahr-ten außerhalb

300 vgl. SUIN DE BOUTEMARD (1997, 57), vgl. Abb. 58 (175)

301 Grafik erstellt nach dem Text von SUIN DE BOUTEMARD (1997, 57).

der Schule, ließ Theateraufführungen, Schulfeste und Kunstwochen durchführen. Wichtig war ihm auch die jahrgangsübergreifende Zusammenarbeit, die Schülerselbstverwaltung und die Einbindung der Eltern.302

„Damit will er den Bildungsbedürfnissen einer demokratisch gesinnten Arbeiterschaft mit dem Ziel einer evolutionär sich entwickelnden sozialistischen Gesellschaft Rechnung tragen.

Die Schüler sollen durch kritische Rationalität und klassenbewusste Solidarität zur Mitarbeit an einer demokratisch-genossenschaftlichen Gesellschaft befähigt werden“ (EMER/LENZEN, 2005, 13).

KARSENS Parallelen zu DEWEY sind unübersehbar: Beide wollen die Schüler- und Gesell-schaftsinteressen der Gesellschaft weiterentwickeln.303

Wie weitreichend KARSENS Konzept schon selbstbewusst auf die Zukunft ausgelegt war, zeigt sich in seiner Vision, die er 1924 formulierte: „Es ist so, wie wir es theoretisch längst gewusst hatten: daß die Gesamtheit gemeinsame Aufgaben aus den natürlichen Bedürfnissen ihres Lebens entdecken muß, um in ihrer Lösung zur Gemeinschaft zu werden“ (KARSEN, 1924, 199).