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der betriebswirtschaftlichen Steuerung

Von ANDREAS HEDWIG

Robert Kretzschmar zählte immer schon zu jenem Kreis von Archivarinnen und Archivaren, die sich dafür aussprachen, betriebswirtschaftliche Methoden im Archivwesen stärker zur Geltung zu bringen und in die Fachdiskussion hineinzutragen.1 Daher ist der Versuch einer bilanzieren-den Antwort auf die Frage, wie weit sich das deutsche Archivwesen bilanzieren-den betriebswirtschaftlichen Paradigmen geöffnet hat, in dieser Festschrift vielleicht passend. In gebotener Kürze will dieser Beitrag den diesbezüglichen Initiativen und Projekten in den staatlichen Archiven nachspüren und die maßgeblichen Entwicklungslinien nachvollziehen, um am Ende zu fragen, wo wir heute stehen und welche Perspektiven sich abzeichnen.

Wann also begannen die staatlichen Archivverwaltungen auf die betriebswirtschaftlichen Steu-erungsinstrumente aufmerksam zu werden? Hier ist zunächst an Hartmut Weber, den späteren Präsidenten des Bundesarchivs, zu erinnern. In den 1990er Jahren war er es – noch aus seinen Stuttgarter Funktionen heraus –, der zahlreiche Jahrgänge von Archivreferendaren an der Ar-chivschule Marburg davon überzeugte, dass die Arbeitsorganisation, vor allem im Bereich der Bestandserhaltung und des Magazinmanagements, ein planerisches Handeln voraussetzt, das nicht nur kalkuliert, welches Arbeitsziel man erreichen möchte, sondern auch wie (!) man es ggf.

erreicht, welche Ressourcen, an Arbeitskraft, Material und an Finanzmitteln, eingesetzt werden müssen. Aus dem Kreis der Archivare war Weber damit erster Vorkämpfer für das betriebswirt-schaftliche Projektmanagement.2

Daher gehörte er wie selbstverständlich auf dem denkwürdigen 2. Archivwissenschaftlichen Kolloquium der Archivschule Marburg 1996 unter dem Titel Qualitätssicherung und Rationa-lisierungspotentiale in der Archivarbeit3 zu den entschiedenen Verfechtern

betriebswirtschaftli-1 So gehört er zahlreichen strategischen Arbeitsgruppen an, z. B. derjenigen, die das ARK-Strategiepapier Entwicklung der Personalstrukturen im Archivwesen der Länder in der Bundesrepublik Deutschland aus-gearbeitet und 2011 veröffentlicht hat, vgl. Anm. 22. Er war ferner in der DFG-Arbeitsgruppe Informa-tionsmanagement der Archive, in der Strukturkommission des Beirats der Archivschule Marburg, in der Arbeitsgruppe der ARK, welche die Reform zur KLA konzipiert und umgesetzt hat, u.v.m.

2 Vgl. Hartmut Weber: Integrative Bestandserhaltung von Archiv- und Bibliotheksgut. In: Der Archivar 44 (1991) Sp. 77–83. Hartmut Weber: Bestandserhaltung als Fach- und Führungsaufgabe. In: Bestand-serhaltung in Archiven und Bibliotheken. Hg. von Hartmut Weber (Werkhefte der Staatlichen Archiv-verwaltung Baden-Württemberg A 2). Stuttgart 1992. S. 135–155. Hartmut Weber: Der Archivar und die Technik im Archiv. Berufsbild und Konsequenzen für die Fachausbildung im Zeitalter von Papierzerfall und modernen Informationstechnologien. In: Der Archivar (1994) Sp. 253–268.

3 Das erste Kolloquium befasste sich 1994 mit der archivischen Bewertung.

cher Methoden. Intendiert war, das versprach jedenfalls das Programm, über mehr System und Struktur in der Archivarbeit nachzudenken und dabei nicht aus den Augen zu verlieren, die ar-chivischen Arbeitsmethoden auf (archiv-)wissenschaftlicher Grundlage ggf. neu zu justieren. Aus heutiger Perspektive markiert der Tagungsband einen wichtigen Ausgangspunkt, der jedoch noch durch vorsichtiges Hervortasten gekennzeichnet war. Denn die Mehrzahl der Beiträger fokus-sierte auf die Frage, in wieweit Normen und Standards, insbesondere standardifokus-sierte Arbeitsab-läufe in der Archivarbeit identifiziert werden können und dazu dienen können, eine rationellere und zugleich qualitativ anspruchsvolle Aufgabenerledigung zu bewerkstelligen. Man könnte also sagen: Die Qualitätssicherung stand im Vordergrund, die Frage der Rationalisierungspotenziale hingegen eher im Hintergrund.

In der Tat war in der Welt der Archive noch viel Arbeit zu leisten. So ist zum Beispiel aus heu-tiger Sicht den theoriegeladenen, die Fragestellung tief durchdringenden und weitsichtigen Dar-legungen zum Thema Normen und Standards der damaligen Leiterin der Archivschule Angelika Menne-Haritz Hochachtung zu zollen.4 Ihre Überlegungen setzten weitgehend den konzeptio-nellen Rahmen für die Tagung. Bemerkenswert ist, dass ihr Impuls bei den weiteren Referenten nur verhaltenen Widerhall fand.5 Vor dem Hintergrund der Schwerpunktsetzung Normen und Standards treten vor allem zwei Referate der Tagung besonders hervor. Es handelt sich um die Beiträge von Wilfried Schöntag, zu dieser Zeit Präsident der damaligen Landesarchivdirektion Baden-Württemberg, sowie von Hartmut Weber, damals Abteilungsleiter in der Landesarchivdi-rektion und ständiger Vertreter Schöntags.

Schöntag referierte breit mit Beispielliteratur unterfüttert und überzeugend über die Prinzi-pien und Chancen von Zielvereinbarungen. Er beschwor die Trias von Fach-, Führungs- und Organisationskompetenz, ohne die kein Archiv ausreichende Leistungen erbringen kann und wandte sich direkt an das Führungspersonal: Die Bewährungsprobe der archivischen Führungs-kräfte besteht darin, die Zielpyramide, d. h. die Zusammenhänge der verschiedenen hierarchisch angeordneten Zielebenen, zu vermitteln und das notwendige Verständnis für die Aufgaben und Ziele [bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern A. H.] herbeizuführen.6 Ebenso engagiert warb Weber für eine strukturierte und insbesondere outputorientierte Arbeitsorganisation einschließ-lich Qualitätsmanagement in den Archiven, und er forderte: In einem demokratischen Rechtsstaat ist ein Archiv wie jede von der Gesellschaft über Zwangsabgaben finanzierte Stelle dem

Unter-4 Angelika Menne-Haritz: Ist Archivwissenschaft normierbar? In: Qualitätssicherung und Rationalisie-rungspotentiale in der Archivarbeit. Hg. von Karsten Uhde (Veröffentlichungen der Archivschule Mar-burg 27). MarMar-burg 1997. S. 41–62, S. 41 ff.

5 Vgl. Elke Imberger über technische Normen oder von Rainer Brüning über ISAD (G), die offenkundig unterstützend angelegten Beiträge von Karsten Uhde und Nils Brühbach, aber auch das kritische Referat von Gudrun Fiedler oder den von Robert Kretzschmar, der schon im Titel hinter Standardisierte Verfah-ren für die Überlieferungsbildung lieber ein Fragezeichen setzte. In: Qualitätssicherung und Rationalisie-rungspotentiale, wie Anm. 4.

6 Wilfried Schöntag: Führung durch Zielvereinbarung? In: Qualitätssicherung und Rationalisierungspoten-tiale, wie Anm. 4, S. 38.

haltsträger und der Gesellschaft gegenüber verantwortlich im Wortsinn. Es hat die Fragen nach dem Warum und Wozu seiner Tätigkeit zu beantworten.7

Das war ein beeindruckend frischer Wind, der da von Stuttgart aus in die bundesdeutsche Archivwelt wehte! Die beiden Referenten setzten dringend notwendige Zeichen. Sie kündigten einen Paradigmenwechsel an, der gekennzeichnet war durch schwindende Finanzressourcen der öffentlichen Hand, d. h. der Archivträger, sowie durch das Vordringen betriebswirtschaftlicher Instrumente in der öffentlichen Verwaltung.8 Diese Initiative war insofern überzeugend und konnte auf Wirkung hoffen, als Hartmut Weber auf der konkreten Arbeitsebene auf einschlägige Erfahrungen und Erfolge verweisen konnte, denn er war maßgeblich beteiligt an der Errichtung des Instituts für Erhaltung von Archiv- und Bibliotheksgut in Ludwigsburg im Jahr 1995, das seither der archivischen Bestandserhaltung wichtige Impulse verlieh.9

Das Archivwesen insgesamt war Mitte der 1990er Jahre aber noch weit entfernt von eigenen Erfahrungen einer betriebswirtschaftlichen Projektsteuerung im eigentlichen Sinne, etwa für die archivischen Fachaufgaben der Bewertung, Übernahme und Erschließung. Auch das von Schön-tag vorgestellte Konzept der Steuerung von Führungsaufgaben durch Zielvereinbarungen war nur eine Projektskizze. Für den frühen Stand der Diskussion bezeichnend sind auch die syste-matischen Überlegungen zu einer archivischen Produktstruktur von Hartmut Weber. Zwar zei-gen sie bereits eine uns heute im Wesentlichen vertraute Aufgabengliederung vom Erfassen und Bewerten bis zum Erschließen und Auswerten, hingegen eine am Materiellen haftende und so kaum operationalisierbare Struktur archivischer Produkte bzw. Erzeugnisse, z. B. in Form von verfügbarem Archivgut, dem Findbuch oder Kopien.10

Zwar nahm die Landesarchivverwaltung Baden-Württemberg damals in vielen Bereichen eine Vorreiterrolle ein – man denke nur an das erste Archivgesetz für ein Bundesland und an die fach-lich fundierte und weit entwickelte Nutzung der Informationstechnologien –, doch war über einen gezielten Einsatz von Steuerungsinstrumenten oder betriebswirtschaftlichen Konzepten, einmal abgesehen von der Formulierung eines Leitbildes, selbst aus Baden-Württemberg kaum etwas zu hören. Jedenfalls haben die von Schöntag und Weber ergriffenen Initiativen in den Dis-kussionen der Archivarsgemeinde zunächst keine weiteren Kreise gezogen.

Es bedurfte schließlich eines steigenden Drucks von außen, ja eines veritablen Bedrohungssze-narios, um die Archivlandschaft wachzurütteln und den internen Reformbedarf klar zu machen.

7 Hartmut Weber: Ergebnisorientierung durch standardisierte Arbeitsabläufe im Archivbetrieb. In: Quali-tätssicherung und Rationalisierungspotentiale, wie Anm. 4, S. 63 ff., Zitat S. 64 f.

8 Unter welchen Rahmenbedingungen und Motiven die betriebswirtschaftliche Steuerung in den 1990er Jahren in die öffentliche Verwaltung einzog und somit auch für die Archive zum Thema wurde und ihnen Chancen bot: Andreas Hedwig: Moderne Steuerungsinstrumente in den Archiven – Fluch oder Chance?

Versuch einer Standortbestimmung. In: Ziele, Zahlen, Zeitersparnis. Wie viel Management brauchen Ar-chive? Hg. von Irmgard Becker, Dominik Haffer und Valeska Koal (Veröffentlichungen der Archivschule Marburg 63). Marburg 2016. S. 13 ff.

9 Vgl. Bestandserhaltung. Herausforderung und Chancen. Hg. von Hartmut Weber. (Veröffentlichungen der Staatlichen Archivverwaltung Baden-Württemberg 47). Stuttgart 1997.

10 Weber, Ergebnisorientierung, wie Anm. 7, S. 63 ff., hier S. 66.

Die Lage eskalierte 2003 zu einem Generalangriff auf die gesamte Archivlandschaft, das unüber-sehbare Warnsignal setzte der Sächsische Rechnungshof.11 Die Probleme schwelten in Sachsen bereits seit drei Jahren, traten aber erst im Mai 2003, auf dem 8. Archivwissenschaftlichen Kollo-quium der Archivschule Marburg, offen zutage.12 Doch war es diesmal kein renommierter Fach-vertreter, der den Archivarinnen und Archivaren die prekäre Lage erläuterte und zum Umdenken und Handeln aufrief, sondern der Unternehmensberater Gerd Schneider.13 Schneider berichte-te schonungslos über den Schock des sächsischen Finanzminisberichte-teriums, das bei den sächsischen Staatsarchiven immense Arbeitsrückstände in der Erschließung sowie völlig übergelaufene Ar-chivmagazine vorfand und damit konfrontiert wurde, dass die Bestandserhaltung vor unlösbaren Massenproblemen stand. Die Vorschläge der Staatsarchive, wie man der Situation Herr werden könnte, wurden als unrealistisch betrachtet, da sie einen Investitionsbedarf erforderten, den das Land Sachsen objektiv nicht leisten konnte. Eine im Kern ähnliche Lage stellte sich 2001 in einem anderen Bundesland, später wurde klar: NRW, dar14 – und es wurde immer deutlicher, dass dies für mehr oder weniger alle Landesarchive galt.

Schneiders Situationsbeschreibung unterstrichen auf der Tagung immerhin drei Fachleute:

Katharina Tiemann berichtete darüber, dass immer mehr Kommunalarchive von der betriebs-wirtschaftlich motivierten Verwaltungsreform erfasst werden und welche Konsequenzen das für sie haben kann.15 Der Autor dieses Beitrags bestätigte, dass das Bundesland Hessen mit der Einführung betriebswirtschaftlicher Steuerung ernst mache und sich die hessischen Staatsar-chive diesbezüglich nicht wegducken könnten.16 Einen in jeder Hinsicht bemerkenswerten, die Berufsauffassung vieler Archivare konfrontativ-kritisierenden Akzent jedoch setzte Bernd Kap-pelhoff, damals Referatsleiter der niedersächsischen Archivverwaltung in der Niedersächsischen Staatskanzlei. Kappelhoff legte unumwunden die verheerenden Arbeitsrückstände der nieder-sächsischen Staatsarchive in der Beständeerschließung offen und scheute sich nicht, seinen Archi-varskolleginnen und -kollegen nachdrücklich ins Gewissen zu reden.17 Als Voraussetzung eines rationellen Ressourceneinsatzes forderte er eine klare Besinnung auf die archivischen Kernaufga-ben, eine strikte Trennung von Pflicht und Kür sowie die deutliche Unterscheidung zwischen dem

11 Gerd Schneider: „Archivare aufgewacht!“ Anmerkungen eines Externen zur gegenwärtigen Situation im deutschen Archivwesen. In: Der Archivar 57 (2004) S. 37.

12 Die Tagungsbeiträge in: Archive und ihre Nutzer – Archive als moderne Dienstleister. Hg. von Stefanie Unger (Veröffentlichungen der Archivschule Marburg 39). Marburg 2003.

13 Gerd Schneider: Archive zwischen Risiko und Chance: Interner Umgang mit externen Bedingungen. In:

Archive und ihre Nutzer, wie Anm. 12, S. 13 ff.

14 Schneider, Archive zwischen Risiko und Chance, wie Anm. 13, S. 15 f.

15 Katharina Tiemann: Kommunale Archivberatung und Verwaltungsreform. In: Archive und ihre Nutzer, wie Anm. 12, S. 173 ff.

16 Andreas Hedwig: Die hessischen Staatsarchive und die neue Verwaltungssteuerung. In: Archive und ihre Nutzer, wie Anm. 12, S. 149 ff.

17 Bernd Kappelhoff: Langfristige archivische Arbeitsplanung und rationeller Ressourceneinsatz. Ergebnisse einer Organisations- und Beständeuntersuchung in den niedersächsischen Staatsarchiven. In: Archive und ihre Nutzer, wie Anm. 12, S. 121 ff.

Wünschbaren und dem Notwendigen – und das nicht nur einmal, sondern regelmäßig und immer wieder. [...] Das Generalziel könne, so Kappelhoff, nur heißen, so schnell wie möglich ein Höchst-maß an erschlossenem Archivgut zu schaffen und dieses so umstandslos wie eben möglich für die Nutzung vorzuhalten.18 Und es blieb nicht bei der Analyse: Kappelhoff stellte seine Strategie und die entsprechenden Instrumente vor, wie diese Rückstände abgearbeitet werden sollten; in Form und Methode entsprachen sie jenen, die Hartmut Weber 1996 skizziert hatte.

Als wenn die Fälle Sachsen und NRW nicht ausgereicht hätten, um die Archive zu verun-sichern, wurden 2003 die Landesarchivdirektion und die Staatsarchive Baden-Württembergs in den Reformstrudel hineingerissen. Aus Sicht der Archivarsgemeinde war kaum nachvollziehbar, dass es ausgerechnet Baden-Württemberg traf, das bisher auf so vielen fachlichen Gebieten unbe-streitbar eine Vorbildrolle eingenommen hatte und im Vergleich respektabel da stand. Und doch wurde die dortige Archivverwaltung nun mit massiven Einsparplänen seiner Landesregierung konfrontiert – trotz vorhandener Arbeitsrückstände!19

Erneut trat der Unternehmensberater Gerd Schneider auf den Plan und diagnostizierte nicht mehr nur punktuelle Schwierigkeiten aufgrund des zunehmenden wirtschaftlichen Drucks auf die Archive im Rahmen der allgemeinen finanziellen Situation der öffentlichen Hand. Inzwi-schen hatte der Sächsische Rechnungshof seinen Prüfbericht über die sächsiInzwi-schen Staatsarchive publiziert. Schneider sah einen veritablen Flächenbrand aufziehen. Er plädierte für einen offenen Umgang mit den bestehenden Problemen. Schließlich hätten Wirtschaftlichkeitsuntersuchungen erhebliche Arbeitsrückstände und vielfältige Defizite der Arbeitsweise und Arbeitsorganisation nachgewiesen, die Anlass gäben, in viel stärkerem Maße als bisher fachlich und betriebswirtschaft-lich über archivische Arbeit nachzudenken. Denn der Druck wird [...] auch künftig zunehmen.

Die verschärfte Lage erforderte aus seiner Sicht ein radikales Umdenken der Archivarinnen und Archivare. Er beklagte deren Unverständnis und zum Teil geradezu kindliche Naivität, da sie nicht erkannten, dass sie vor gravierenden Veränderungen der Rahmenbedingungen ihrer Arbeit stehen, sondern trotz der klar erkennbaren Entwicklungen in der Archivszene noch immer mit Vorliebe über existentiell zweit- oder drittrangige fachliche Themen debattiert wird. Schneider vermisste eine Gegenreaktion der Archivarinnen und Archivare und attestierte einer vom VdA veröffentlichten Stellungnahme zum sächsischen Rechnungshofbericht wenig Weitsicht, sie ginge über die grundsätzlichen Probleme der Archive viel zu leicht hinweg.20

Angesichts dieser Großwetterlage war nicht erstaunlich, dass auch der 74. Deutsche Archivtag 2003 auf die neuen Entwicklungen fokussierte und das Leit-Thema Archive im gesellschaftlichen Reformprozess aufgriff.21 Es wurde die Umsetzung von Sparplänen und Strukturreformen der Landesarchivverwaltungen in Sachsen-Anhalt, Baden-Württemberg und NRW diskutiert und auch nach archivfachlichen Antworten für die neuen Aufgaben der Verwaltung gesucht und

ge-18 Zitat vgl. Kappelhoff, wie Anm. 17, S. 125.

19 Schneider, „Archivare aufgewacht!“, wie Anm. 11, S. 37.

20 Schneider, „Archivare aufgewacht!“, wie Anm. 11, S. 39.

21 Archive im gesellschaftlichen Reformprozess. Referate des 74. Deutschen Archivtags 2003 in Chemnitz.

Hg. vom Nordrheinwestfälischen Hauptstaatsarchiv (Der Archivar Beiband 9). Siegburg 2004.

fragt, was die neue Lage z. B. für die IT bedeute. Die Fragen der Anwendung betriebswirtschaft-licher Methoden und Instrumente griff die Tagung erstaunbetriebswirtschaft-licherweise nicht auf.

Und doch fingen nun die Mühlen des staatlichen Archivwesens – je nachdem wie stark sich der Druck auf die einzelnen Archivverwaltungen aufbaute – langsam an zu mahlen. Erste Ergeb-nisse und Reaktionen zeigten sich einige Jahre später. So beschloss die Konferenz der Leiterin-nen und Leiter der Archivverwaltungen des Bundes und der Länder – KLA (damals noch ARK) 2010, sich dem Thema Benchmarking zu nähern und brachte auf dem Gebiet betriebswirtschaft-licher Kennzahlen erstmals einen praktischen Schritt gemeinsamen Handelns zustande. Es wurde eine Arbeitsgruppe eingerichtet, welche die Personal- bzw. Arbeitszeitaufwände für die Quer-schnitts- und Fachleistungen der deutschen Landesarchivverwaltungen (ohne Bundesarchiv) für das Jahr 2010 erheben sollte. Es ging darum zu erfahren, wie viel Personal für welche Fachleis-tungen zum Einsatz kommt, um anschließend – jeweils intern – vergleichen zu können, welche Arbeitskraftressourcen jeweils im eigenen Land dafür aufgewendet werden. Das Gesamtergebnis wurde in Form des ARK-Strategiepapiers Entwicklung der Personalstrukturen im Archivwesen der Länder in der Bundesrepublik Deutschland veröffentlicht und den Trägern zugesandt.22 Im Kern macht es deutlich, dass archivische Facharbeit nicht zum Nulltarif zu haben ist. Gegenüber Außenstehenden zeigt allein die Vielfalt der Leistungen, dass die Landesarchive ein breites Spek-trum von Aufgaben abdecken, für deren Bewältigung es personeller und finanzieller Ressourcen bedarf. Darüber hinaus hatte diese Studie einen weiteren Nutzen, denn im Rahmen der Erhebung gelang es den Archivverwaltungen, sich auf einen Kanon voneinander abgrenzbarer Arbeits- bzw.

Leistungsbereiche zu einigen.

Ein weiterer Indikator für die aktivere Auseinandersetzung mit den betriebswirtschaftlichen Methoden ist die 2011 in Potsdam erschienene Publikation Archivmanagement in der Praxis.

Sie ist noch heute eine lesenswerte Bilanz zum Thema und zeigt gut, auf welchen Gebieten das betriebswirtschaftliche Paradigma vorangekommen ist. Denn dort finden sich nicht nur Vorstel-lungen von Konzepten, sondern auch Praxisbeispiele, etwa zum Strategischen Management, zur Aufgaben- und Personalplanung, zur Standardisierung und Zertifizierung von Aufgaben und Leistungen, zu Kennzahlen und Kennzahlensystemen, zur Kosten-Leistungs-Rechnung, zum Projekt- und zum Qualitätsmanagement und zu konkreten Anwendungsbereichen Magazin, Nutzung und Überlieferungsbildung.23

Der 82. Deutsche Archivtag 2012 in Köln setzte sich das Thema Kulturelles Kapital und ökono-misches Potential. Der Schwerpunkt der Beiträge lag auf der Frage nach den Chancen neuer stra-tegischer Ausrichtungen. Es ging unter anderem darum, ob eine verstärkte Öffentlichkeits- und Bildungsarbeit, das Angebot von Dienstleistungen im Bereich des Aktenmanagements oder der

22 In: Archivar 64 (2011) S. 397 ff. Zu weiteren Erhebungen dieser Art ist es bisher leider nicht gekommen.

23 Archivmanagement in der Praxis. Hg. von Mario Glauert und Hartwig Walberg (Veröffentlichungen der Landesfachstelle für Archive und öffentliche Bibliotheken im Brandenburgischen Landeshauptarchiv 9).

Potsdam 2011.

Digitalisierung Perspektiven für ein erfolgreiches Fundraising eröffnen.24 Ausgeblendet blieben leider die durchaus im Raume stehenden Fragen des Einsatzes betriebswirtschaftlicher Instru-mente.25 Doch bewiesen die zu Beginn des Archivtags konferierenden Landesarchivverwaltungen ihr weiteres Interesse am Thema. Im Zuge der internen Reform der damaligen Archivreferenten-konferenz zur heutigen Konferenz der Leiterinnen und Leiter der Archivverwaltungen des Bun-des und der Länder – KLA wurde ein ständiger Ausschuss für Betriebswirtschaftliche Steuerung eingerichtet, der die betriebswirtschaftlichen Instrumente schärfen und Impulse setzen sollte. Er konstituierte sich im Sommer 2014 und hat inzwischen eine erste umfangreiche Empfehlung zu statistischen Kennzahlen für Archive und deren Arbeitsprozesse veröffentlicht.26

Angesichts der seit spätestens 2003 nicht mehr überhörbaren dringenden Appelle an die Archi-varsgemeinde, das Steuer herumzureißen und sich energisch den betriebswirtschaftlichen Metho-den und Instrumenten zuzuwenMetho-den, muss man heute feststellen, dass die große Wende ausblieb und man allenfalls auf Ansätze und Pilotprojekte verweisen kann. Dafür gibt es verschiedene Gründe. Sicher hat der äußere Druck auf die Archive nachgelassen. Weitere, tiefe Einschnitte fordernde Großprüfungen ganzer Landesarchivverwaltungen blieben aus, was auf die vergleichs-weise entspannte Lage der Landeshaushalte zurückzuführen sein dürfte.

Die betriebswirtschaftlichen Instrumente sind bisher in durchaus unterschiedlicher Weise in die staatlichen Archivverwaltungen eingedrungen. Diese Heterogenität resultiert letztlich aus den Kompetenzen der Bundesländer für die Kulturpolitik und für die Organisation der Verwaltung, also aus den Eigenarten des Föderalismus. Darüber hinaus ist jedoch zu beobachten, dass es in erster Linie nicht von den Archivverwaltungen abhängt, wie weit sie sich den betriebswirtschaft-lichen Konzepten öffnen, sondern davon, mit welcher Verve die Träger, die jeweiligen Länder oder der Bund, die betriebswirtschaftlichen Instrumente vorangetrieben haben oder wie hoch der Spar- und Rationalisierungsdruck war, den sie auf die Archive ausgeübt haben.

Seit ca. Mitte der 2000er Jahre sind zwei Länder vorangeschritten, ihr Finanzmanagement konsequent auf das betriebswirtschaftliche Rechnungswesen auszurichten: Hessen und Ham-burg;27 entsprechend wurden auch die dortigen staatlichen Archive davon erfasst. Inzwischen

24 Kulturelles Kapital und ökonomisches Potential – Zukunftskonzepte für Archive. 82. Deutscher Archiv-tag in Köln. Hg. vom VdA – Verband deutscher Archivarinnen und Archivare e. V. (Tagungsdokumenta-tionen zum Deutschen Archivtag 17). Fulda 2013. Es ging um Organisationsformen (Stiftungen, Betrieb gewerblicher Art), die strategische Ausrichtung auf die digitalen Herausforderungen, Wissenschaftsförde-rung, strategische öffentlichkeitswirksame Lobby-Arbeit u.v.m.

25 Vgl. Abschlussdiskussion Archive als Profitcenter? In: Kulturelles Kapital und ökonomisches Potential, wie Anm. 24, S. 197 ff.

26 Empfehlungen zur Systematisierung von Querschnitts- und Fachleistungen sowie relevanter Kennzahlen

26 Empfehlungen zur Systematisierung von Querschnitts- und Fachleistungen sowie relevanter Kennzahlen