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am Beispiel des Landesarchivs Baden-Württemberg

Von UDO HERKERT

Einleitung

Da die oberste Gewalt eines Staates die Pflicht auf sich genommen hat, die öffentlichen Akten und Urkunden als unantastbare Heiligthümer für die Itzt- und Nachwelt aufzubewahren, so ist es eine natürliche Folge, daß das Archivgebäude von der Beschaffenheit seyn muß, diese unnachläßi-ge Pflicht in ihrem ganzen Umfanunnachläßi-ge zu erfüllen.1

Karl Friedrich Bernhard Zinkernagel, Archivar des Fürstentums Oettingen-Wallerstein, der vor mehr als zwei Jahrhunderten die einleitenden Zeilen verfasste, kannte den Begriff Risikoma-nagement2 sicherlich noch nicht. Er kannte jedoch die mit Gebäuden verbundenen Risiken für Archivalien. In seinem im Jahre 1800 publizierten Handbuch forderte Zinkernagel daher einen wirkungsvollen Schutz der Archivgebäude vor Feuer, Feuchtigkeit, schlechter Luft und Schädlin-gen.3 Zinkernagel untermauerte diese Forderung mit konkreten Empfehlungen, wobei er bei der Auflistung geeigneter Schutzvorkehrungen den Risikofaktor Mensch nicht außer Acht ließ. So empfahl Zinkernagel für Archivare ein eigenes Arbeitszimmer mit Aussicht ins Freie, damit Aug und Geist, durch Anstrengung ihrer Kräfte ermüdet, an dem frohen Anblicke der Natur sich auf einige Minuten erquicken und stärken könnten.4

Die Empfehlungen Zinkernagels fielen bei seinen Zeitgenossen und den folgenden Archi-varsgenerationen auf fruchtbaren Boden. Im 19. und 20. Jahrhundert wurden die baulichen und technischen Schutzmaßnahmen in Archiven immer weiter verfeinert, nicht zuletzt dank des

tech-1 Karl Friedrich Bernhard Zinkernagel: Handbuch für angehende Archivare und Registratoren. Nördlingen 1800. S. 78, § 249.

2 Eine kurze Einführung bieten die Websites https://de.wikipedia.org/wiki/Risikomanagement und http://

www.orghandbuch.de/OHB/DE/Organisationshandbuch/7_Management/72_Risikomanagement/

risikomanagement-node.html (beide aufgerufen am 02.01.2017). Weiterführende Literatur: Risikoma-nagement der Öffentlichen Hand. Hg. von Frank Scholz, Andreas Schuler und Hans-Peter Schwintow-ski. Heidelberg 2009; Ute Vanini: Risikomanagement – Grundlagen, Instrumente, Unternehmenspraxis.

Stuttgart 2012.

3 Zinkernagel, wie Anm. 1, insbesondere S. 78–80.

4 Zinkernagel, wie Anm. 1, S. 79, § 252 Nr. 3.

nischen Fortschritts und des Erfahrungsaustauschs über nationale und Spartengrenzen hinweg.5 Trotz vieler Verbesserungen im Bereich des Archivbaus und trotz des geschärften Bewusstseins dafür, dass die sachgerechte Unterbringung die wichtigste Voraussetzung für die dauerhafte Er-haltung schriftlichen Kulturguts ist, bieten jedoch Archivgebäude den in ihnen verwahrten Un-terlagen auch heute nur einen relativen Schutz. Absolute Sicherheit kann es nun einmal nicht geben, selbst nicht in einem hochmodernen Archivzweckbau. Letztlich bleibt immer ein Rest- risiko. Dieses Restrisiko kann und sollte jedoch weitestmöglich verringert werden, was wiederum die Bereitschaft voraussetzt, immer wieder aufs Neue Schwachstellen aufzuspüren und anzu-sprechen. Die baden-württembergischen Staatsarchive scheuten davor schon früher nicht zurück.

Sie begannen bereits vor Jahrzehnten, die mit ihren Gebäuden verbundenen Gefahren für das Archivgut zu identifizieren, die Wahrscheinlichkeit, dass aus einer Gefahr Realität werden wird, zu bewerten und das mögliche Ausmaß des Schadens abzuschätzen. Zusammen mit den staatli-chen Hochbauämtern wurden Maßnahmen zur Reduzierung der gravierendsten Risiken festge-legt und umgesetzt. Das erreichte Sicherheitsniveau wurde teils regelmäßig, teils unregelmäßig evaluiert; bei Bedarf wurden weitere Maßnahmen initiiert. Kennzeichnend für diese Form des Risikomanagements waren die relativ großen Freiräume der einzelnen Standorte. Die damali-ge Landesarchivdirektion konzentrierte sich im Wesentlichen auf organisatorische Vorgaben für die Notfallvorsorge und die Notfallbewältigung6 sowie auf die Festlegung von Mindeststandards für die Archivgebäude und deren Ausstattung.7 Davon abgesehen konnte jedes Staatsarchiv den Umfang und die Prioritäten des Risikomanagements selbst bestimmen, zumal auch die staatliche Hochbauverwaltung auf die Koordination entsprechender Aktivitäten verzichtete, woran sich bis heute nichts geändert hat.

Schon kurz nach der zum 1. Januar 2005 erfolgten Fusion der Landesarchivdirektion und der sechs baden-württembergischen Staatsarchive zum Landesarchiv Baden-Württemberg war erwo-gen worden, das Risikomanagement für alle Gebäude des neuen Landesarchivs an einheitlichen Vorgaben auszurichten. Doch führte erst ein Anstoß von außen zur Konkretisierung und Um-setzung dieses Plans. Der Einsturz des Historischen Archivs der Stadt Köln im März 2009 veran-lasste auch das Landesarchiv Baden-Württemberg, sein Gesamtkonzept zur Notfallvorsorge und Notfallbewältigung grundlegend zu überprüfen. In diesem Kontext wurden auf Veranlassung von Präsident Prof. Dr. Robert Kretzschmar an allen Standorten des Landesarchivs die baulich bedingten Risiken für Archivgut 2011 nach einheitlichen Kriterien erfasst und bewertet. Die Vor-bereitung, die Durchführung, die Ergebnisse und die Konsequenzen dieser Aktion stehen im Mittelpunkt des vorliegenden Beitrags.

5 Ein Ergebnis der internationalen Zusammenarbeit von Archivaren und Bibliothekaren ist die Norm DIN ISO 11799: Anforderungen an die Aufbewahrung von Archiv- und Bibliotheksgut. Berlin 2005/2017.

6 Vgl. Udo Herkert: Feuer, Wasser, Archivare. Notfallvorsorge in den Staatsarchiven Baden-Württembergs.

In: Bestandserhaltung: Herausforderungen und Chancen. Hg. von Hartmut Weber (Veröffentlichungen der Staatlichen Archivverwaltung Baden-Württemberg 47). Stuttgart 1997. S. 291–335.

7 Siehe Anforderungen an Archivgebäude und für Archivzwecke genutzte Räumlichkeiten. Unveröffent-lichte Richtlinien der Landesarchivdirektion bzw. des Landesarchivs Baden-Württemberg, zuletzt aktua-lisiert zum 1. Dezember 2009.

Ausgangslage

Der im Landesarchivgesetz festgelegte dezentrale Aufbau des Landesarchivs Baden-Württem-berg hat zur Folge, dass die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sowie die Bestände des Landesar-chivs auf zahlreiche Liegenschaften verteilt sind. Am Beginn des Jahres 2011 waren die folgenden Gegebenheiten relevant:

Das Landesarchiv nutzt ganz oder teilweise 17 Gebäude in den sieben8 Städten Freiburg,9 Karlsruhe,10 Ludwigsburg,11 Neuenstein,12 Sigmaringen,13 Stuttgart14 und Wertheim.15 11 die-ser 17 Gebäude befinden sich im Eigentum des Landes, vier sind angemietet und zwei Gebäu-de – in Neuenstein und Wertheim-Bronnbach – sind Gebäu-dem LanGebäu-desarchiv von Gebäu-den Eigentümern, dem Fürsten zu Hohenlohe-Oehringen bzw. dem Main-Tauber-Kreis, zur mietfreien Nutzung überlassen worden. Die 17 Gebäude stammen aus den letzten drei Jahrhunderten. Nur zwei von ihnen sind genuine Archivzweckbauten, die von Anfang an für eine archivische Nutzung ge-plant und gebaut worden waren, nämlich das Generallandesarchiv Karlsruhe (bezogen 1905) und das Hauptstaatsarchiv Stuttgart (bezogen 1969). Vier Bauwerke – in Ludwigsburg, Sigmaringen und Wertheim – dienten ursprünglich ganz anderen Zwecken, sie wurden jedoch in den Jahren 1988–1995 aufwendig in zeitgemäße Archivgebäude umgebaut. Die restlichen 11 Gebäude sind weder genuine noch adaptierte Archivzweckbauten. Obwohl diese Liegenschaften nur mit mehr oder minder großen Einschränkungen für archivische Aufgaben geeignet sind, muss sie das Lan-desarchiv mangels besserer Alternativen nutzen. Sechs16 der insgesamt 17 Bauten stehen unter Denkmalschutz – eine Auszeichnung, die bauliche Veränderungen nicht unbedingt erleichtert, selbst wenn sie der Reduzierung von Sicherheitsrisiken dienen. Die Gebäudeverwaltung obliegt der jeweiligen örtlichen Abteilung des Landesarchivs. Unterstützt werden die Archivabteilungen vom Sachgebiet Archivbau der Verwaltungsabteilung des Landesarchivs sowie von den regional zuständigen Dienststellen des Landesbetriebs Vermögen und Bau Baden-Württemberg, konkret von den Ämtern Freiburg, Heilbronn, Karlsruhe, Ludwigsburg, Stuttgart und Ravensburg, die auch für den Bauunterhalt zuständig sind, soweit es sich um landeseigene Liegenschaften handelt.

8 Zum 1. März 2012 kam die Stadt Kornwestheim, in der das baden-württembergische Grundbuchzentral-archiv angesiedelt wurde, als weiterer Standort hinzu.

9 Colombistraße 4, Rosastraße 9–11 und Fahnenbergplatz 3.

10 Nördliche Hildapromenade 2, Stabelstraße 12 (Rechnungshof), Erbprinzenstraße 3 (Altmagazin Badische Landesbibliothek) und Moltkestraße 66 (ehem. Grenadierkaserne).

11 Arsenalplatz 3/Schillerplatz 11 (Arsenalgebäude) und Mathildenstraße 1 (ehem. Zeughaus).

12 Schloss Neuenstein.

13 Karlstraße 1+3 und Bittelschießer Straße 6.

14 Eugenstraße 7, Urbanstraße 31 A, Konrad-Adenauer-Straße 4 (Hauptstaatsarchiv) und Olgastraße 80.

15 Bronnbach Nr. 19.

16 Inzwischen – im Januar 2017 – sind es acht, weil das Grundbuchzentralarchiv Kornwestheim Teile eines denkmalgeschützten Industriegebäudekomplexes (ehem. Schuhfabrik Salamander) nutzt und das Haupt-staatsarchiv Stuttgart (Konrad-Adenauer-Straße 4) 2014 ebenfalls als Baudenkmal eingestuft wurde.

Jeder Standort des Landesarchivs verfügt seit 1995 über einen örtlichen Notfallbeauftragten und eine örtliche Notfallgruppe, die in der Regel mindestens vier Personen umfasst und von der oder dem Notfallbeauftragten geleitet wird. Besitzt der jeweilige Archivstandort eine eigene Restauratorin oder einen Restaurator, gehört diese Fachkraft automatisch der örtlichen Notfall-gruppe an. Die zentralen Restaurierungswerkstätten des Landesarchivs, organisatorisch ein Teil des Instituts für Erhaltung von Archiv- und Bibliotheksgut in Ludwigsburg, unterhalten zur Un-terstützung der örtlichen Notfallgruppen die sogenannte mobile Notfallgruppe, die ausschließ-lich aus erfahrenen Restauratorinnen und Restauratoren besteht. Die Notfallgruppen bilden den landesweiten Notfallverbund des Landesarchivs, der sich hin und wieder zu einer gemeinsa-men Notfallübung trifft.17 Die örtlichen Notfallbeauftragten führen unregelmäßig gemeinsame Dienstbesprechungen durch, an denen auch der Baureferent des Landesarchivs, der für die Ko-ordination der baulichen Notfallvorsorge zuständig ist, teilnimmt. Somit kann für das Vorhaben, die mit den Gebäuden des Landesarchivs verbundenen Risiken nach einheitlichen Kriterien zu analysieren, auf feste organisatorische Strukturen zurückgegriffen werden.