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Allgemeine Zugänglichkeit der Entnazifizierungsunterlagen – Zusammenführung der Spruchkammerbestände

Mit dem 2009 begonnenen und im Juni 2010 abgeschlossenen Umzug der Archives de l’occupa-tion von Colmar in den Neubau der Archives diplomatiques in La Courneuve bei Paris verän-derte sich die Nutzungsfrequenz des Archivs in dramatischer Weise. Seine bisherige geografische Nähe zum ehemaligen französischen Besatzungsgebiet hatte sich spürbar positiv auf die Zahl der Nutzer ausgewirkt, die die Unterlagen nicht nur für wissenschaftliche sondern in weit größerem Maße für lokalgeschichtliche Untersuchungen und aus familiengeschichtlichem Interesse aus-werteten. Nach dem Umzug nutzen nach Aussagen französischer Kollegen kaum mehr als eine Handvoll deutscher Nutzer pro Jahr die Bestände des Okkupationsarchivs.19

Zur geografischen Entfernung kamen weitere Faktoren hinzu, die die Zugänglichkeit zu den südbadischen Entnazifizierungsakten erschwerten, ja sie teilweise faktisch unmöglich machte.

Anfragen selbst auf Französisch benötigten mehrere Monate zur Beantwortung, Anfragen auf Deutsch meist noch länger. Ein grundsätzliches Hemmnis stellte jedoch der unterschiedliche Zu-gang zu den Unterlagen in Deutschland und Frankreich dar.

Für die in Freiburg lagernden Spruchkammern gelten die Bestimmungen des baden-württem-bergischen Archivgesetzes, für die in La Courneuve verwahrten die des französischen Archivge-setzes in seiner Fassung vom 15. Juli 2008.

19 Auskunft des für das Okkupationsarchiv verantwortlichen Archivars Cyril Daydé am 22. Januar 2014 in Freiburg.

Landesarchivgesetz Baden-Württemberg Französisches Archivgesetz Personenbezogene Unterlagen nach § 6 Abs.

2 Landesarchivgesetz vom 12. März 1990 - 10 Jahre nach Tod des Betroffenen - oder 90 Jahre nach Geburt

Unterlagen der Justiz gemäß Artikel L 213-2 des Gesetzes 2008-696 vom 15. Juli 2008 - 75 Jahre nach Schluss der Akte

- oder 25 Jahre nach Tod des Betroffenen20 Unter der Annahme des Schlusses der Akten im Jahre 1952 waren somit sämtliche in La Cour-neuve verwahrten Entnazifizierungsdossiers bis 2027 für die Nutzung gesperrt mit Ausnahme der Personen, deren Todesdatum länger als 25 Jahre zurücklag, während die Spruchkammerakten in Freiburg ab 2018 (letzter Entnazifizierungsjahrgang 1927) allgemein zugänglich sein werden.21 Diese unterschiedlichen Zugänge rechtfertigen eine Kontaktaufnahme mit den Archives diploma-tiques in La Courneuve, die auf Anregung des Präsidenten des Landesarchivs Baden-Württem-berg vom Bundesarchiv Anfang 2013 unternommen wurde. Diese stieß auf positive Resonanz.

Schon im Mai des Jahres fand ein erstes Treffen in La Courneuve statt, an dem neben dem Präsi-denten des Bundesarchivs Dr. Michael Hollmann auch die Leiter der baden-württembergischen und rheinland-pfälzischen Archivverwaltungen, Prof. Dr. Robert Kretzschmar und Dr. Elsbeth André, sowie die Hausspitze der Archives diplomatiques teilnahmen. Bereits bei diesem Anlass konnten konkrete Ergebnisse erzielt werden. Beide Seiten erkannten zum einen den sachlichen Zusammenhang der getrennten Spruchkammerüberlieferung an und vereinbarten weitere Kon-sultationen mit dem Ziel, die Integralität des Bestandes und seine volle Zugänglichkeit wieder herzustellen. Gleichzeitig sollten Möglichkeiten erörtert werden, in welcher Form die, für die Nachkriegsentwicklung der Länder der französischen Besatzungszone in Deutschland (Rhein-land-Pfalz, Baden, Württemberg-Hohenzollern, Kreis Lindau), des Saarlandes und in Österreich (Vorarlberg) wesentlichen, in den Archives de l′occupation verwahrten Quellen der Militärregie-rungen einem breiteren Publikum zugänglich gemacht werden könnten.22

In den nachfolgenden Besprechungen auf Arbeitsebene, an denen Vertreter der saarländischen, der rheinland-pfälzischen Archivverwaltung, des Landesarchivs Baden-Württemberg, des Bun-desarchivs und des Vorarlberger LanBun-desarchivs sowie der Archives diplomatiques beteiligt waren, stellte sich schnell heraus, dass das in Anlehnung an die Mikroverfichung der Akten der ame-rikanischen Militärregierung (OMGUS) OMFRA (Office Militaire Française) benannte Projekt

20 Gesetz über die Pflege und Nutzung von Archivgut (Landesarchivgesetz – LArchG) vom 27. Juli 1987 in der geänderten Fassung vom 12. März 1990. In: GBL 1987 S. 230, GBL 1990 S. 89; Code du patrimoine.

Loi 2008-696 du 15 juillet 2008. In: https://www.legifrance.gouv.fr/ Suchbegriff Code du patrimoine (auf-gerufen am 24.10.2016).

21 Mit Ausnahme der Spruchkammerakten, für die die 10-jährige Sperrfrist des postmortalen Persönlich-keitsschutzes noch gelten würde.

22 Registraturakten des Landesarchivs Baden-Württemberg, Stuttgart, Az.: 7511.0/46, Aktennotiz vom 7. Juni 2013.

eine Dimension annehmen würde, die eine längere Planungs- und Vorbereitungszeit in Anspruch nehmen würde.23

Der Komplex Südbadische Entnazifizierungsakten wurde daher gesondert vom Gesamtpro-jekt bearbeitet. Das schon früh erzielte grundsätzliche Einvernehmen, die Teilbestände auf einem anderen Weg als deren physische Vereinigung zusammenzuführen, erwies sich als hervorragen-de Arbeitsbasis für eine konkrete Projektplanung. Die Archives diplomatiques nahmen dieses Einvernehmen zum Anlass, bei der Commission d’accès aux documents administratifs (Cada) ei-nen Antrag auf Herabstufung der in La Courneuve verwahrten Entnazifizierungsakten als Ver-waltungsakten zu stellen, der in der Cada-Sitzung vom 30. September 2015 positiv beschieden wurde. Seitdem gilt für die dossiers de dénazification eine Sperrfrist von 50 Jahren nach Schluss der Akten. Damit steht der Gesamtbestand der öffentlichen Nutzung nunmehr uneingeschränkt zur Verfügung. Die Entscheidung der Cada stand im unmittelbaren Zusammenhang zu einer seit Längerem in Frankreich zwischen Historikern und der Regierung geführten kontroversen Dis-kussion über die Erleichterung der Zugänglichkeit zu den Unterlagen des Vichy-Regimes und der unmittelbaren Nachkriegsperiode. Staatspräsident Hollande hatte im Mai 2015 die Freigabe der archives publiques, principalement celles du ministère de l’intérieur, relatives à la période 1940-1945 [soient] rendues accessibles aux historiens angekündigt, die mit einer am 24. Dezember 2015 erlassenen Verordnung umgesetzt wurde.24 Mit dieser Verordnung wurden auch die Unterlagen freigegeben, die in den Militärgerichtshöfen der französischen Besatzungszone bei der Verfol-gung und Ahndung von Kriegsverbrechen entstanden waren.

Mit der freien Zugänglichkeit der Entnazifizierungsakten war die wichtigste Barriere für eine Zusammenführung der Bestände aus dem Wege geräumt worden. Der Vorschlag der fran-zösischen Kollegen, die Zusammenführung der Teilbestände auf einem anderen Wege als deren physische Vereinigung zu betreiben, wurde vonseiten des Landesarchivs Baden-Württemberg akzeptiert. Einvernehmlich wurde eine Digitalisierung der 995 Archivkartons mit rund 1,2 Milli-onen Digitalisaten beschlossen. Vorher sollten allerdings bestandserhalterische Maßnahmen wie Entmetallisierung und Neuverpackung der rund 7 000 Dossiers durchgeführt werden, auch um die Umsetzung der Digitalisierung kostengünstig und effizient verwirklichen zu können. Derzeit steht die konkrete Projektplanung mit Ermittlung des Finanzierungsbedarfs auf der Agenda der baden-württembergisch-französischen Arbeitsgruppe. Auch wenn das zeitliche Ende des Pro-jekts noch offen ist, sind alle Beteiligten optimistisch im Hinblick auf dessen konkrete mittelfris-tige Umsetzung. Ein weiteres positives Kapitel in der deutsch-französischen Archivzusammen-arbeit ist also zu erwarten.

Damit wird das bisher schwierige Auffinden wichtiger Akteure aus Südbaden zwischen 1933 und 1945 hoffentlich bald der Vergangenheit angehören.

23 Vgl. OMGUS-Handbuch: die amerikanische Militärregierung in Deutschland 1945–1949. Hg. von Christoph Weisz. München 1994. http://www.ifz-muenchen.de/das-archiv/ueber-das-archiv/bestaende/

omgus-akten/ (aufgerufen am 25.10.2016).

24 Veröffentlicht im Journal officiel (27.12.2015) http://www.lemonde.fr/politique/article/2015/12/29/

le-gouvernement-facilite-l-acces-aux-archives-de-vichy-et-de-l-epuration_4838919_823448.html (aufge-rufen am 24.10.2016).