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6. Theoretische Ausgangsposition

6.2 Kompetenzbegriff

6.2.1 Berufliche Handlungsfähigkeit

Der Strukturwandel im Beschäftigungssystem und die damit einhergehenden Veränderungen der Anforderungen am Arbeitsplatz führen gerade in den letzten Jahren die Bedeutung und den Wert einer umfassenden beruflichen Bildung nachdrücklich vor Augen. Dies manifestiert sich in den Begriffen „berufliche Handlungsfähigkeit“ und berufliche „Handlungskompetenz“

(s. Kap. 2), die beide eine gewichtige ordnungspolitische Tradition und Bedeutung in der Berufsbildung haben. In ihnen spiegeln sich zwei parallele Diskussionsstränge wider.

Die betriebliche Ausbildung stellt den beruflichen Anwendungszusammenhang in den Vor-dergrund und verwendet den Begriff der zu erwerbenden „beruflichen Handlungsfähigkeit“

seit den 1980er Jahren. Mit der Reform des Berufsbildungsgesetzes im Jahr 2005 wird dieser Begriff gesetzlich zum Leitziel der Berufsausbildung erklärt. Berufliche Handlungsfähigkeit ist als Inbegriff der „beruflichen Fertigkeiten, Kenntnisse und Fähigkeiten“ definiert, die für die Ausübung einer qualifizierten beruflichen Tätigkeit in einer sich wandelnden Arbeitswelt notwendig sind (BMBF 2005, § 1 Abs. 3 BBiG).

Ausgehend von dem Ziel jedweder modernen Ausbildung, jungen Menschen den Erwerb beruflicher Handlungskompetenz zu ermöglichen, erscheint im novellierten Berufsbildungs-gesetz der Begriff der „beruflichen Handlungsfähigkeit“ auch als übergeordnetes Ziel der Abschlussprüfung: „Durch die Abschlussprüfung ist festzustellen, ob der Prüfling die beruf-liche Handlungsfähigkeit erworben hat. In ihr soll der Prüfling nachweisen, dass er die erfor-derlichen beruflichen Fertigkeiten beherrscht, die notwendigen beruflichen Kenntnisse und Fähigkeiten besitzt und mit dem im Berufsschulunterricht zu vermittelnden, für die Berufs-ausbildung wesentlichen Lehrstoff vertraut ist. Die Ausbildungsordnung ist zugrunde zu legen“ (BMBF 2005, § 38 BBiG).

Damit wird der im BBiG (2005) vollzogene Paradigmenwechsel im Prüfungswesen verankert.

Gleichzeitig bedeutet dies eine Veränderung der tradierten Prüfungspraxis. „Das übergreifen-de Ziel übergreifen-der neuen Prüfungsmethoübergreifen-den besteht darin, diese Kompetenzen angemessen zu ermit-teln und bewerten zu können“ (FRANK 2005, S. 28). BREUER, der in Form der wissen-schaftlichen Begleitung an der Umsetzung modifizierter Prüfungen des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) beteiligt war, folgert, dass Kompetenz als Befähigung zum Handeln angesehen und Qualifikation als Möglichkeit verstanden wird, beruflichen oder lebenspraktischen Erfordernissen gerecht zu werden (vgl. BREUER 2005, S. 12). Aus seiner Sicht beruht diese Differenzierung auf entsprechenden Positionen der 70er Jahre des vorigen Jahrhunderts.

Qualifikation

Seit Beginn des 20. Jahrhunderts prägt der Begriff der Qualifikation bzw. der Qualifizierung die bildungspolitische Diskussion. Ursprünglich stammt der Begriff aus ökonomischen Zusammenhängen, da er zur Charakterisierung junger Facharbeiter diente. Ein Zertifikat über die Teilnahme an einem Motorsägenkurs bzw. Motorsägenlehrgang galt und gilt noch heute beispielsweise als Nachweis für die Beherrschung einer einzelnen Tätigkeit. Eine Qualifika-tion ist unmittelbar mit spezifischen Anforderungen zur Berechtigung für eine bestimmte berufspraktische Tätigkeit verbunden (vgl. RICHTER 2001, S. 31).

Der Qualifikationsbegriff stellt demnach eine Relation zwischen einer Person und einer bestimmten Tätigkeit her. Von einer Qualifikation wird immer dann gesprochen, wenn die Tätigkeiten einer Person ein gewisses Niveau an Fertigkeiten, Kenntnissen und Fähigkeiten aufweisen. Dies entspricht mindestens zum Teil bewährter Praxis: Oftmals reicht der Nach-weis der Teilnahme an einer Qualifizierungsmaßnahme bereits aus, um über ein Zertifikat den Nachweis der gewünschten Qualifikation zu erhalten. Nach Meinung von KLAFKI (1991) beschreibt allerdings dieser Qualifikationsbegriff lediglich die Nachfrage des Arbeitsmarktes an den Arbeitnehmer und blendet den Bildungsaspekt der beruflichen Bildung nahezu voll-ständig aus.

STAUDT (1997) kritisiert darüber hinaus, dass die formalen Abschlüsse nur Kenntnisse prüf-ten und wenig verlässliche oder sogar unzutreffende Auskunft über die vermittelprüf-ten Qualifi-kationen gäben (zitiert nach RICHTER 2001, S. 31 f.). Eine weitere Herausforderung für die Forschung sei die Bestimmung der Qualifikationen und die Vorhersage ihrer weiteren Entwicklung (vgl. LIPSMEIER 1978, S. 71).

Schlüsselqualifikationen

Da eine Qualifikation etwas Objektives ist oder zumindest sein soll und Fachkenntnisse schnell veralten, wurde in der berufs- und wirtschaftspädagogischen Forschung der 70er Jahre des vorigen Jahrhunderts das Konzept der Schlüsselqualifikationen eingeführt. Der Begriff der Schlüsselqualifikation wurde zunächst von MERTENS, dem damaligen Direktor des Insti-tuts für Arbeitsmarkt und Berufsforschung, geprägt. Er verstand unter Schlüsselqualifi-kationen individuelle Eigenschaften, die als „Schlüssel“ zur Erschließung von sich schnell änderndem Fachwissen dienen können (vgl. MERTENS 1974, S. 36).

Unter Schlüsselqualifikationen wurden und werden somit überfachliche Qualifikationen ver-standen, die zum Handeln befähigen sollen. Sie beschreiben kein ausschließlich

personen-gebundenes Fachwissen, sondern implizieren den kompetenten Umgang mit fachlichem Wissen durch personengebundene Eigenschaften und Erfahrungen. Da dies in unterschied-lichen Situationen und Funktionen flexibel und einfallsreich eingesetzt und übertragen werden kann, entspricht es in wesentlichen Aspekten dem heutigen Verständnis von Kompetenz.

Hierbei wird deutlich, dass bereits früh unter dem Begriff der Schlüsselqualifikation nicht die Fachkompetenz selbst, sondern die Fähigkeit zur Adaption und zum Transfer von Fachkompe-tenzen verstanden wurde.

Nach Definition der Bildungskommission NRW14 (1995) sind Schlüsselqualifikationen

„erwerbbare allgemeine Fähigkeiten, Einstellungen und Wissenselemente, die bei der Lösung von Problemen und beim Erwerb neuer Kompetenzen in möglichst vielen Inhaltsbereichen von Nutzen sind, sodass eine Handlungsfähigkeit entsteht, die es ermöglicht, sowohl indivi-duellen als auch gesellschaftlichen Anforderungen gerecht zu werden“ (BILDUNGSKOM-MISSION NRW 1995, S. 113).

Handlungskompetenz

Berufs- und wirtschaftspädagogische Diskussionen haben eine Ausdifferenzierung der Hand-lungskompetenz in unterschiedliche Teilkompetenzen ausgelöst, die letztlich auf eine im anthropologischen Ansatz von ROTH vorgenommene Dimensionierung zurückgeht.

ROTH hat 1971 die Entwicklungs-, Lern- und Erziehungsprozesse des Menschen so darge-stellt, dass sie im Zuge der Ausformung seiner Sach-, Selbst- und Sozialkompetenz „in die mündige Selbstbestimmung zu führen vermögen“ (ROTH 1971, S. 14). ROTH hat mit seiner Verwendung dieses älteren Kompetenzbegriffs, der noch nicht durch die bahnbrechenden Vor-schläge WEINERTs beeinflusst war, wesentliche Voraussetzungen dafür geschaffen, dass er sich, vermittelt durch den Deutschen Bildungsrat (DBR) seit 1974 in der Erziehungswissen-schaft weit verbreitet hat.

„Berufliche Handlungskompetenz ist die Fähigkeit und Bereitschaft des Menschen, in beruf-lichen Situationen sach- und fachgerecht, persönlich durchdacht und in gesellschaftlicher Verantwortung zu handeln, d. h. anstehende Probleme zielorientiert auf der Basis geeigneter Handlungsschemata selbstständig zu lösen, die gefundenen Lösungen zu bewerten und das Repertoire seiner Handlungsschemata weiterzuentwickeln. Berufliche Handlungskompetenz umschließt die Komponenten Fachkompetenz, Humankompetenz und Sozialkompetenz“

(DBR 1974; BADER 1990, S. 14).

14 Die Bildungskommission NRW wurde von Johannes Rau 1992 unter dem Namen „Zukunft der Bildung – Schule der Zukunft“ berufen.

Die von ROTH entwickelte Unterscheidung zwischen den Kompetenzdimensionen Sach-, Selbst- und Sozialkompetenz wurde in der Folge in verschiedenen Variationen aufgegriffen und Ende der 80er Jahre des vorigen Jahrhunderts durch REETZ auf die berufliche Bildung übertragen (vgl. REETZ 1989 und 1989a). Auch BAETHGEund Koautoren (vgl. BAETHGE et al. 2006, S. 38 ff.) legen das ROTH’sche Konzept zugrunde und erweitern es unter Verweis auf REETZ um die Methodenkompetenz (vgl. REETZ 1999, S. 41 ff.). In der Berufsbildung hat es sich durchgesetzt, die Handlungskompetenz im Zusammenwirken von Fach-, Metho-den-, Sozial- und Selbstkompetenz zu interpretieren (vgl. ERPENBECK & HEYSE 1999, S. 157 ff.). „Der Handlungserfolg hängt zwar unstreitig vom fachlichen Wissen ab. In die Kompetenz gehen aber Aspekte ein, die den ‚Umgang mit dem Wissen‛ betreffen“ (WILDT 2006, S. 8).

Kompetenz

Seit Ende der 1990er Jahre wird, wie bereits erwähnt, wieder verstärkt vom Begriff der Kom-petenz gesprochen. Sowohl KLIEME und Koautoren (2003) in ihrem Gutachten zur Formu-lierung von Bildungsstandards15 als auch WEINERT (2001) in seinem bereits hervor- gehobenen, weithin akzeptierten Definitionsvorschlag verstehen Kompetenz als „die bei Indi-viduen verfügbaren oder durch sie erlernbaren kognitiven Fähigkeiten und Fertigkeiten, um bestimmte Probleme zu lösen, sowie die damit verbundenen motivationalen, volitionalen16 und sozialen Bereitschaften und Fähigkeiten, um die Problemlösungen in variablen Situa-tionen erfolgreich und verantwortungsvoll nutzen zu können“ (WEINERT 2001a, S. 27 f.).

Nach KLIEME drückt sich die Kompetenz beispielsweise beim Erwerb einer Fremdsprache in der Beherrschung der grammatikalischen Regeln und in deren Anwendung in einer kom-munikativen Situation aus. Hierbei spielen nicht nur kognitive Wissensinhalte eine Rolle, sondern – wie WEINERT im obigen Zitat hervorhebt – auch Verknüpfungen mit Einstellun-gen, Werten und Motiven (vgl. KLIEMEet al. 2003, S. 21). Ein für den schulischen Bereich verwendeter Kompetenzbegriff beschreibt demnach neben den kognitiven Merkmalen auch motivationale und handlungsbezogene Merkmale.

Der von KLIEMEund Koautoren (2003) verwendete Kompetenzbegriff grenzt sich ausdrück-lich von dem aus der Berufspädagogik stammenden und viel gebrauchten Konzept der Sach-, Selbst-, Sozial- und Methodenkompetenz ab. Kompetenzen werden in der KLIEME-Expertise

15 Eine Expertise (2003) von Eckhard Klieme, Hermann Avenarius, Werner Blum, Peter Döbrich, Hans Gruber, Manfred Prenzel, Kristina Reiss, Kurt Riquarts, Jürgen Rost, Heinz-Elmar Tenorth und Helmut J. Vollmer zur Entwicklung nationaler Bildungsstandards.

16 Volition = willentliche Steuerung von Handlungen und Handlungsabsichten

für nationale Bildungsstandards als Leistungsdispositionen in bestimmten Domänen, Fächern oder Lernbereichen verstanden, um Bildungsziele zu konkretisieren. Kompetenzen spiegeln grundsätzliche Handlungsanforderungen wider. „Durch vielfältige, flexible und variable Nut-zung und zunehmende VernetNut-zung von konkreten, bereichsbezogenen Kompetenzen können sich auch ‚Schlüsselkompetenzen‘ entwickeln“ (KLIEME et al. 2003, S. 22). Als Schlüssel-kompetenzen werden Kompetenzen bezeichnet, die über eine vergleichsweise breite Spanne von Situationen und Aufgabenstellungen hinweg einsetzbar sind. WEINERT zählt hierzu u. a.

mathematische Kenntnisse und Fertigkeiten sowie Inhalte einer basalen Allgemeinbildung (vgl. KLIEME 2004, S. 11). Trotzdem müsse der Erwerb von Kompetenzen gemäß WEINERT zum systematischen Aufbau von „intelligentem Wissen“ innerhalb einer Domäne, eines Fachs oder eines Lernbereichs beginnen.

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Kompetenzen durch situative Anforderungen definiert werden (vgl. KLIEME et al.2007, S. 12) und deren Nutzung zunächst auf den kogni-tiven Bereich beschränkt bleibt. Motivationale oder affektive Voraussetzungen erfolgreicher Handlungsregulation werden nicht explizit in die Definition miteinbezogen. Dies ist aus pragmatischen Gründen nachzuvollziehen, stellt allerdings gleichzeitig eine Eingrenzung dar.

Des Weiteren impliziert die von diesen Autoren postulierte Kontextabhängigkeit der Kompe-tenzen, dass diese durch Zufall erworben und beeinflusst werden können (vgl. KLIEME et al.

2007, S. 7). Dem Argument kann damit begegnet werden, dass in einer Vielzahl von realen Situationen ähnliche Anforderungen bewältigt werden müssen. Außerdem wird in Bezug auf übergreifende Kompetenzen wie zum Beispiel eine „Problemlösekompetenz“ eingeräumt, dass auch hierfür der Begriff der Kompetenz verwandt wird, obwohl hier eine charakteristi-sche Kontextabhängigkeit nicht gegeben ist bzw. eine sehr weite Auslegung erforderlich wird (vgl. KLIEME et al.2007, S. 15). Allerdings steht im Bereich beruflicher Bildung weniger die allgemeine als vielmehr die fachspezifische Problemlösefähigkeit im Mittelpunkt des Interes-ses, weshalb hier auch der Kontextbezug weniger relevant erscheint.

Der Kompetenzbegriff zielt aus pädagogischer Sicht auf individuelle Fähigkeiten, die dem situationsgerechten Handeln zugrunde liegen bzw. dieses erst ermöglichen. Mit beruflicher Handlungskompetenz wird das Potenzial beruflicher Fähigkeiten ausgedrückt, das es dem Lernenden erlaubt, den Anforderungen in konkreten beruflichen Situationen entsprechend zu handeln. Diese Betonung der Bewältigung von Situationen und Aufgaben findet sich auch in der Expertise „Zur Entwicklung nationaler Bildungsstandards“ wieder (vgl. KLIEME et al.

2003, S. 58 ff.).