Deutsches Ärzteblatt
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3. Februar 2012 79M E D I Z I N
DISKUSSION
Es bleiben Zweifel und Fragen
Es ist zwingend notwendig und zugleich auch ver- dienstvoll, wenn die Resistenzentwicklung bei den unkomplizierten Harnwegsinfekten beobachtet wird und wenn daraus Empfehlungen und Behandlungs- strategien entwickelt werden. Die Veröffentlichung der S3-Leitlinie hinterlässt dennoch Fragen und Zwei- fel. Eine Kernaussage dieser Leitlinie ist die Klassifi- zierung von 3 antibiotischen Substanzen zu Mitteln der ersten Wahl bei der Therapie der unkomplizierten Zystitis (AUZ). Empfohlen werden die Substanzen Fosfomycin-Trometamol, Nitrofurantoin und Pivme- cillinam.
Von Fosfomycin-Trometamol gibt es im Handel nur ein einziges verfügbares Präparat. Dieses Präpa- rat besitzt zudem nur eine Zulassung für Frauen in ei- nem begrenzten Altersintervall. Wenn zum Beispiel einer 67-jährigen Frau dieses Präparat verordnet wer- den würde, dann wäre das bereits ein Off-label-Use.
Damit besteht für den verordnenden Arzt eine Re- gressgefahr von Seiten der Krankenkasse. Einen ent- sprechenden Warnhinweis vermisse ich in den Leitli- nien.
Die beiden anderen Präparate sind keine Alternative.
Wie kann eine Leitlinie ein Präparat zur First-line- Therapie empfehlen, das laut Fachinformation nur ein- geschränkt angewandt werden soll? Nitrofurantoin darf nur dann verabreicht werden, wenn effektivere und risi- koärmere Antibiotika nicht einsetzbar sind. Aus meiner Erfahrung liegt die Resistenzsituation bei längerer The- rapie oder mehrfacher Anwendung deutlich über 20 %.
Nitrofurantoin scheidet damit aus meiner Sicht eben- falls aus.
Als dritte Möglichkeit wird Pivmecillinam empfoh- len. Dieses Präparat ist aber in Deutschland gar nicht verfügbar.
Die Leitlinie gibt also Empfehlungen, die zumindest teilweise gar nicht praktikabel sind. Es wird oft die zu geringe Umsetzung von Leitlinien im Alltag der Arzt- praxen kritisiert. Vielleicht wäre eine bessere Imple- mentierung möglich, wenn bei der Erstellung der Leit- linien auch darauf geachtet wird, ob die Leitlinien in der Basisversorgung einer hausärztlichen Praxis über- haupt anwendbar sind.
DOI: 10.3238/arztebl.2012.0079a
Deutsche Versorgungsrealität außer Acht gelassen
Ich bin für Leitlinien mit hohem Empfehlungsgrad sehr dankbar. Dieses Werk erscheint mir allerdings in Teilen problematisch. Die deutschen Empfehlungen spiegeln letztlich einen Teil der aktuellen Leitlinie der European Association of Urology (EAU) „Urological Infections“
(www.uroweb.org) wieder. Die deutschen Empfehlun- gen zur empirische Therapie der unkomplizierten Zys- titis sind eine 1:1-Abbildung dieser Leitlinien, mit er- heblichen Kompatibilitätsproblemen zur deutschen Versorgungswirklichkeit.
Neben Fosfomycintrometamol gelten als Wirkstoffe der ersten Wahl Nitrofurantoin und Pivmecillinam. Nitro- furantoin ist leider hier nur zugelassen, wenn „effektivere und risikoärmere Antibiotika oder Chemotherapeutika nicht einsetzbar sind“ (Rote Liste 2011). Wahrscheinlich ist das Risiko schwerwiegender pulmonaler Komplika- tionen eher gering – es wird ja auch im angelsächsich- amerikanischen Raum längst nicht so kritisch gesehen wie hier. Trotzdem erstaunlich, dass diese Substanz dann in die Liste der „Top 3“-Empfehlungen gelangt.
Gänzlich unverständlich erscheint die Empfehlung zu Pivmecillinam. Es gibt diese Substanz nicht in Deutschland.
Uneinigkeit bestand offensichtlich zur Empfehlung von Cotrimoxazol/Trimethoprim. Diese Empfehlung „bei Kenntnis der lokalen Resistenzsituation“ ist auch Be- standteil der EAU-Leitlinie, musste hierzulande aber of- fensichtlich durch die Allgemeinmediziner hereindiktiert werden. War hier kein Konsens möglich ? Die Substan- zen sind meist gut verträglich, preisgünstig und bei Nicht- besserung der Klinik könnte nach frustraner Anbehand- lung immer noch auf eine andere Substanz umgestellt werden. Immerhin 75 % der E.-coli-Zystitiden würden so
„erwischt“ werden und wahrscheinlich würde sich ein Teil der Cotrimoxazol-resistenten- E.-coli-Zystitiden selbst limitieren bei einer Spontanheilungsrate von 30–50 %. Trotz dieser Probleme bin ich den Autoren dankbar für ihre Leitlinienerstellung. Sie haben mich zum Nachdenken/Nachlesen angeregt, was mein tägliches Verschreibungsverhalten durchaus beeinflussen dürfte.
DOI: 10.3238/arztebl.2012.0079b zu dem Beitrag
Klinische Leitlinie
Unkomplizierte Harnwegsinfektionen
von Prof. Dr. med. Florian M.E. Wagenlehner, Prof. Dr. med. Udo Hoyme, Dr. med. Martin Kaase, Prof. Dr. med. Reinhard Fünfstück, Prof. Dr. med. Dr. h.c.
Kurt G. Naber, Dr. med. Guido Schmiemann in Heft 24/2011
LITERATUR
1. Wagenlehner FME, Hoyme U, Kaase M, et al.: Clinical practice guide- line: uncomplicated urinary tract infections. Dtsch Arztebl Int 2011:
108(24): 415–23.
Dr. med. Joachim Liebendörfer Ostelsheim
Liebendoerfer.Ostelsheim@t-online.de
Interessenkonflikt
Dr. Liebendörfer hält Aktien von Sanofi-Aventis und GSK.
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3. Februar 2012M E D I Z I N
Objektivität zweifelhaft
In der Leitlinie zum unkomplizierten Harnwegsin- fekt wird Fosfomycin als Mittel der ersten Wahl empfohlen – ein Antibiotikum, das in den 1980er Jahren als Reserveantibiotikum für multiresistente Staphylokokken auf den Markt gebracht wurde und auch heute noch in dieser Funktion bei MRSA-Pa- tienten eingesetzt werden kann. Bei E. coli weist es Resistenzraten von unter 10 % auf – also ein wichti- ges, immer noch hochwirksames Antibiotikum.
Was wird nun mit dieser Substanz passieren, wenn sie – seit einigen Jahren als orale Gabe im Handel – jetzt bereits bei unkomplizierter Cystitis eingesetzt wird? Wahrscheinlich wird die Resistenzentwick- lung einen ähnlichen Verlauf nehmen wie die der Chinolone, die in den 1980er Jahren das einzige ora- le Antibiotikum gegen Pseudomonas waren, dann sehr breit, vor allem im urologischen Bereich, einge- setzt wurden und heute eine Resistenzrate von 25–30 % aufweisen.
Gibt es einen zwingenden Grund, Fosfomycin jetzt bereits breit im Primärbereich einzusetzen und damit einer Resistenzentwicklung Tür und Tor zu öffnen?
Die Ärzte, die am häufigsten mit der unkompli- zierten Cystitis konfrontiert werden (Hausärzte, Kin- derärzte, Gynäkologen) haben über ihre Fachgesell- schaften eine eher ablehnende Haltung bekundet (siehe auch „FRAUENARZT“ 2/11).
Trotzdem ist die Leitlinie so entstanden. Von den Verfassern haben drei Autoren Zuwendungen der Firma Pierre-Fabre, den Vertreibern von Monuril, dokumentiert. Professor Wagenlehner gibt Kontakte zu insgesamt 19 Pharmaherstellern, darunter auch der Firma Pierre-Fabre an.
Bei derartig engen Verbindungen zur Arzneimit- telindustrie frage ich mich, ob die Empfehlungen zum Antibiotikaeinsatz wirklich aus objektiven und unabhängigen Beurteilungen hervorgegangen sind, wie Ärzteschaft und auch Patienten es von einer Leitlinie erwarten.
DOI: 10.3238/arztebl.2012.0080a
LITERATUR
1. Wagenlehner FME, Hoyme U, Kaase M, et al.: Clinical practice guide- line: uncomplicated urinary tract infections. Dtsch Arztebl Int 2011:
108(24): 415–23.
Menopause lässt Prävalenz ansteigen
Die S-3 Leitlinien HWI wollen rationalen Einsatz anti- mikrobieller Arzneimittel fördern. Auf rationalen Ein- satz von Östriol lokal-vaginal wird nicht hingewiesen.
Dieser schwach wirksame Metabolit von Östradiol hat eine um den Faktor 7 kürzere Rezeptorbindungszeit und somit weder Krebs- noch Thromboserisiken.
Harnwegsinfekte (HWI) ab der Menopause sind häufig und ab 65 Jahren ist jede vierte Frau betroffen.
Deutlich ansteigende Prävalenz von Dysurie, imperati- vem Harndrang und Pollakisurie ist biologisch erklär- bar mit zunehmender Urogenitalatrophie bis hin zur Kolpitis senilis bei lang andauerndem Östrogenmangel.
Dann gelangen Vaginalkeime problemlos via Urethral- mündung in die Harnblase. Erleichtert wird das durch insuffiziente Urethralverschluss-Mechanismen infolge Östrogenmangels. Hinzu kommen mäßige Trinkmen- gen mit höherem Alter (insbesondere bei Harninkonti- nenz) mit mangelnden Spüleffekten via Blasenentlee- rung.
Lokal-vaginale Östrioltherapie wirkt auf Urethral- und Harnblasen-Schleimhaut proliferativ (nach weni- gen Tagen an Vaginal-Epithelien unter dem Mikroskop erkennbar mit Zellbildern wie vor der Menopause). Bei 6 von 10 Frauen erscheinen im Vaginalsekret wieder Laktobazillen wie im fertilen Alter (unter Placebo bei 0 von 10) (1). Deren Milchsäureproduktion mit saurem Scheidenmillieu schützt vor pathogenen Keimen.
Mit Östriol als Östradiol-Metabolit wird die Uroge- nitalregion besser vaskularisiert, allerdings werden kei- ne klimakterischen Beschwerden beseitigt. Das prolife- rationsfördernde Östriol wirkt präventiv bei rezidivie- renden HWI nach Antibiose.
Die Infekt-Anfälligkeit ist durch lokales Östriol auf 0,5 Episoden/Jahr reduzierbar gegenüber 5,9 bei gleichaltrigen Frauen nach randomisiert-doppelblinden prospektiven Studien (2). Dieser Östriol-Vorteil wurde placebokontrolliert bestätigt (3).
Ein Östriol-Ovulum 0,5 mg kostet 0,7 Euro (anfangs zweimal, dann einmal wöchentlich). Risiken und Ne- benwirkungen sind seit 40 Jahren unbekannt.
Das entspricht dem Ziel der HWI-Richtlinien: weni- ger Belastungen durch antimikrobielle Arzneimittel.
DOI: 10.3238/arztebl.2012.0080b
LITERATUR
1. Yoshimura T, et al.: Short term oral estriol treatment restores normal premenopausal vaginal flora to elderly women. Maturitas 2001; 39:
253–7.
2. Raz R, et al.: A controlled trail of intravaginal estriol in postmenopau- sal women with recurrent urinary tract infections. N Engl J Med 1993; 329: 753–6.
LITERATUR
1. Wagenlehner FME, Hoyme U, Kaase M, et al.: Clinical practice guide- line: uncomplicated urinary tract infections. Dtsch Arztebl Int 2011:
108(24): 415–23.
Dr. med. Jörg Wefer, FEBU
Urologische Gemeinschaftspraxis, Oldenburg joerg.wefer@googlemail.com
Interessenkonflikt
Der Autor erklärt, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Dr. med. Swana Swalve-Bordeaux Eckernförde
swalve-bordeaux@gmx.de
Interessenkonflikt
Die Autorin erklärt, dass kein Interessenkonflikt besteht.