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Archiv "AIDS - wo stehen wir heute?" (18.08.1988)

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DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

AIDS

wo stehen wir heute?

Bernhard Fleckenstein

H

offnungen, durch die Entwicklung eines allgemein verfügbaren Impfstoffes gegen humane Im- mundefizienzviren (HIV) könnte man der weiteren Ausbreitung von AIDS in einigen Jahren entgegenwirken, scheinen mehr und mehr zu schwinden. Tierver- suche an nichtmenschlichen Primaten, an denen Vakzinen erprobt wurden, verliefen bislang ent- mutigend. Es bleibt unsicher, ob humorale Anti- körper oder zellgebundene Immunreaktionen den Organismus gegen HIV schützen können.

Die extreme Variabilität der Oberflächen- proteine auf den Viren läßt befürchten, daß auf längere Sicht alle bisher denkbaren Impfstrate- gien scheitern werden. Chemotherapie wird, trotz beachtlicher Erfolge, das AIDS-Problem kurzfristig nicht lösen können. Das Virus, des- sen DNA ins Genom der infizierten Zellen inte- griert ist, kann durch Chemotherapie nicht aus dem Organismus eliminiert werden. Wer infi- ziert ist, trägt das Virus lebenslang. Selbst wenn also — eine irreale Vorstellung — die weitere Aus- breitung der Viren in der Bevölkerung zum Ste- hen käme, könnte auf längere Sicht die Durch- seuchung nur mit der Sterberate der Infizierten zurückgehen. Nur längerfristig angelegte, grundlagenorientierte Forschung kann einmal die Chance bieten, das AIDS-Problem umfas-

send zu lösen. Epidemiologische Studien kon- zentrieren sich derzeit weithin auf die Frage, wie rasch die Viren sich außerhalb der bekannten Risikogruppen in der allgemeinen Bevölkerung ausbreiten werden. Aus manchen Bereichen der Dritten Welt, vor allem den Großstädten Schwarzafrikas, wird vielfach von erschreckend hohen Durchseuchungsziffern berichtet; als Transmissionsweg kommt dort überwiegend nur der heterosexuelle Geschlechtsverkehr in Frage.

Bedrohliche Zahlen werden ebenso aus Slums amerikanischer Großstädte registriert. Werden wir in Mitteleuropa eine ähnliche Katastrophe erleben?

AIDS breitet sich nicht sprunghaft aus, son- dern langsam, schleichend und unaufhaltsam.

HIV-Infizierte, die nicht einer bekannten Risi- kogruppe angehören und durch heterosexuellen Kontakt infiziert wurden, scheinen an Zahl in der Bundesrepublik noch relativ gering. Die Blutspendedienste berichten, daß die Prävalenz von HIV-Antikörpern bei Erstspendern bundes- weit nach wie vor unter 0,1 Prozent liegt, und sie mag in den vergangenen zwei Jahren sogar rück- läufig gewesen sein. Die rückläufigen Zahlen an gemeldeten Fällen von Tripper, wie sie sich in der Bundesrepublik schon vor Beginn der AIDS-Aufklärung abzeichneten, haben bis vor kurzem eine abnehmende Tendenz erkennen A-2296 (56) Dt. Ärztebl. 85, Heft 33, 18. August 1988

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lassen. Dies könnte hoffen lassen, daß in breite- ren Schichten der Gesellschaft der Bundesrepu- blik gewisse Änderungen im Sexualverhalten stattfanden, welche auch die weitere Ausbrei- tung von AIDS verlangsamen würden. Einen Beweis hierfür gibt es nicht; vielmehr besteht kein Grund zur Entwarnung. Bald werden 3000 Fälle mit dem vollen Erkrankungsbild von AIDS beim Bundesgesundheitsamt gemeldet sein. Die Zahl verdoppelte sich innerhalb von elf Monaten. Etwa 30 000 bestätigte Laborbe- funde sind im Rahmen der anonymen Berichts- pflicht bisher registriert worden. Die Zahl der virusinfizierten Menschen in der Bundesrepu- blik könnte derzeit bei etwa 200 000 liegen.

Es bleibt zu befürchten, daß der Anteil an AIDS-Fällen, die auf heterosexuelle Übertra- gung zurückgehen, weiterhin kontinuierlich an- steigt. Epidemiologische Studien aus Mitteleu- ropa fehlen weitgehend. In den Vereinigten Staaten, wo die Statistik der Geschlechtskrank- heiten darauf hindeutet, daß die heterosexuelle Allgemeinbevölkerung bislang durch Aufklä- rungsmaßnahmen nicht wirksam erreicht wurde, finden sich bedrohliche Ziffern der Durchseu- chung mit HIV. So wurde kürzlich veröffentlicht, daß im Staat Massachusetts mehr als 0,2 Prozent aller Mütter, die zur Entbindung kommen, mit HIV infiziert sind; etwa die Hälfte der HIV-infi- zierten Mütter sind i. v. -drogenabhängig.

Viele Gefahren von AIDS wurden lange un- terschätzt. Allmählich wird deutlich, daß die In- fektiosität bei Virusträgern sehr stark schwan- ken kann. Dies bedeutet, daß Infizierte oft über Jahre kaum infektiös sind — gelegentlich Grund- lage scheinbar beruhigender Statistiken —, wäh- rend andere in den Vorstadien von AIDS in ho- hem Maße kontagiös sind. Fälle von Transmis- sion durch Nadelstichverletzungen im ärztlichen Bereich wurden immer wieder dokumentiert.

Noch ist es nicht lange her, daß die ersten Fälle von Virusübertragung auf Pflegepersonal durch unmittelbaren Blutkontakt mit Haut- oder Schleimhäuten ohne erkennbare Verletzung re- gistriert wurden, ferner die Transmission auf ei- nen Zahnarzt und auf zwei Laboranten. Kurz vorher war noch öffentlich verkündet worden, daß Ärzte und Pflegepersonal praktisch nicht gefährdet seien. Mancher Fall von Infektion im klinischen Bereich dürfte vorläufig noch unent- deckt sein, zumal sich immer häufiger zeigt, daß die Phase der Serokonversion sich in einzelnen Fällen über Jahre erstrecken kann. Weitere epi- demiologische Studien sind dringend nötig. Für die Bundesrepublik scheint die Rechtslage zu er- zwingen, daß alle künftigen Prävalenzstudien nur unter irreversibler Anonymisierung durch-

geführt werden; so wird es oft vorkommen, daß positive Antikörperbefunde aus epidemiologi- schen Studien zwar in großer Zahl anfallen; sie können dann aber nicht dazu verwendet wer- den, die Seropositiven zu verantwortlichem Se- xualverhalten anzuleiten.

Langfristige gesundheitspolitische Maßnahmen erforderlich

Mangels Impfung bleibt man auf das Reper- toire herkömmlicher Seuchenbekämpfung ange- wiesen. Aufklärungsarbeit und gesetzliche Vor- sorgemaßnahmen werden die Seuche allenfalls verlangsamen, aber nicht stoppen können. Poli- tische Entscheidungen sind schwierig, da AIDS weiterhin so kontrovers behandelt wird wie kaum jemals eine medizinische Thematik zuvor.

Die rasche Durchseuchung einzelner Gruppen von Betroffenen, die langen Zeiträume persi- stenter Infektion mit wechselnden Phasen der Ausscheidung infektiöser Viren, die infauste Prognose und der Bezug zur Sexualität erlauben kaum, Ideologien, Emotionen und die Subjekti- vität ethisch-religiöser Ansichten aus Entschei- dungsabläufen fernzuhalten. Schuldzuweisun- gen und Unterstellungen sind an der Tagesord- nung. Politiker dürften künftig wesentlich daran gemessen werden, ob sie das AIDS-Problem er- kannt haben und danach handelten.

Gesundheitspolitik darf nicht nur die kom- menden vier Jahre ins Auge fassen, sondern muß auch an die nachfolgende Generation den- ken. Auch wenn Aufklärungsmaßnahmen Schwerpunkt aller Vorsorge sein werden, darf es an politischem Willen zur Entscheidung nicht fehlen. So könnte es sinnvoll sein, AIDS in An- lehnung an das Geschlechtskrankheitengesetz zu behandeln und eine eingeschränkte nament- liche Meldepflicht einzuführen. Kondom- Anordnung für Prostituierte ist nützlich und stellt keine unbillige Härte dar; auch wenn Kon- dome zur AIDS-Prophylaxe nicht zuverlässig sind, so mindern sie doch das Risiko. Regelmä- ßige Untersuchungen bei Prostituierten, ebenso wie bei Strafgefangenen, sind sicher sinnvoll.

Selbsthilfegruppen, etwa die Deutsche AIDS-Hilfe, wünschen zusätzliche Finanzmittel der öffentlichen Hand, um ihre Aufgabe großzü- giger durchführen zu können; gleichzeitig for- dern sie Staatsferne. Wer wird den Erfolg ihrer Arbeit beurteilen und sicherstellen, daß kein Mißbrauch getrieben wird? Private Organisatio- Dt. Ärztebl. 85, Heft 33, 18. August 1988 (57) A-2297

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nen dürfen nicht, sowenig wie Wissenschaftler, über öffentliche Mittel ohne angemessene staat- liche Kontrolle verfügen.

Ein wichtiger Pfeiler klassischer Seuchenbe- kämpfung besteht darin, daß durch geeignete Diagnostik die Geschwindigkeit der Erregeraus- breitung in der Bevölkerung möglichst genau beobachtet wird. Die Diskussion um die AIDS- Diagnostik hat eine, wohl scheinbare, Lücke im Gesetz deutlich gemacht. Inwieweit kann die HIV-Serologie als Eingriff in das Persönlich- keitsrecht des Probanden bewertet werden, aus dem für den Arzt zivilrechtliche Konsequenzen erwachsen können? Kann die AIDS-Serologie, ohne ausdrückliche Zustimmung des Patienten, Körperverletzung sein?

AIDS-Diagnostik ist bei klinischem Ver- dacht unabweisbar notwendig. Die Differential- diagnose des Lymphadenopathie-Syndroms, der opportunistischen Infektionen, der lymphati- schen Tumoren, der Enzephalopathien und der peripheren Polyneuropathien ist so vielfältig, daß das ELISA-Screening, der sogenannte AIDS-Test, für die tägliche Diagnostik in der Klinik unverzichtbar ist. Verschiedene Initiati- ven, meist von Selbsthilfegruppen und gelegent- lich von einzelnen Juristen vorgetragen, forder- ten, daß vor jedem einzelnen HIV-Test ein um- fangreiches Aufklärungsgespräch mit dem Pa- tienten über alle Konsequenzen einer positiven Seroreaktion stattzufinden habe. Dies hieße aber, wichtige Prinzipien ärztlichen Handelns aufzugeben. Der Arzt kann einen Patienten nicht mit allen denkbaren, aber unbestätigten Verdachtsdiagnosen ängstigen. Wie bei jeder anderen schweren Krankheit würde es zu unzu- mutbarer Belastung führen, wollte man vor je- der einzelnen diagnostischen Maßnahme das ge- samte differentialdiagnostische Spektrum mit dem Patienten erörtern.

Die AIDS-Serologie ist nicht die einzige Diagnostik, die den Patienten mit einer infau- sten Diagnose konfrontieren kann; sie ist mit vielen anderen diagnostischen Maßnahmen, bei- spielsweise in der klinischen Onkologie, annä- hernd gleichzusetzen. Entsprechend haben auch der Nationale AIDS-Beirat des Bundesgesund- heitsministeriums und die Deutsche Kranken- haus-Gesellschaft festgestellt, daß das Aufklä- rungsgespräch mit dem Patienten vor Anord- nung der Untersuchung auf HIV-Antikörper im Prinzip zwar empfehlenswert sei, aber nicht in jedem Falle zwingend notwendig ist. Wie jede andere ärztliche Maßnahme, dürfen Untersu- chungen zur HIV-Infektion nur mit Einwilligung des Patienten durchgeführt werden; in entspre- chenden Fällen kann jedoch von der stillschwei-

genden Zustimmung des Patienten zu notwendi- gen diagnostischen Maßnahmen ausgegangen werden.

Konfliktpotential abbauen

Weiterhin war oft kontrovers, ob der Arzt vor blutenden Eingriffen befugt ist, ELISA- Screening zu verlangen. Darf er einem Patien- ten, welcher der Blutuntersuchung nicht zustim- men will, die Operation verweigern? Die Ge- fährdung des Chirurgen ist nicht von der Hand zu weisen; und es ist nicht ohne Konsequenz für den Operationsablauf, wenn eine HIV-Infektion des Patienten bekannt ist. Der Behandlungsver- trag zwischen Arzt und Patient ist zwar, von Notfällen abgesehen, im Prinzip frei; doch gibt es eine allgemeine Berufspflicht zur Übernahme der Behandlung. Der Kassenarzt muß sich des Patienten annehmen, der sich ihm anvertraut.

Konfliktpotential sollte abgebaut werden, in- dem bundesweit eine rechtlich eindeutige Grundlage gefunden wird. Einheitliche Formu- lare vor der stationären Aufnahme, auf denen die Zustimmung zum Antikörper-Screening vor operativen Eingriffen dokumentiert wird, sind notwendig.

Ohnehin gilt generell, daß eine serologische Routineuntersuchung für den Patienten weniger diskriminierend ist, als wenn die Serologie indi- viduell bei klinischem Verdacht angeordnet wird. Die Ärzteschaft darf sich nicht durch scheinbare Gesetzeslücken kriminalisieren las- sen. Auch wenn einzelne Gruppierungen vorge- ben, zur Vertretung der Interessen der betroffe- nen Gruppen legitimiert zu sein, darf ihnen nicht das Wohl der Ärzte, des Pflegepersonals und der Mehrheit der Patienten geopfert wer- den. Die Ärzteschaft muß sich in ihrer Verant- wortung für die Gesamtheit durchsetzen. Der Arzt darf sich nicht das Recht absprechen las- sen, im Sinne umfassender Diagnostik und zum Schutz seiner eigenen Person und des anvertrau- ten Personals notwendige Serologie durchzufüh- ren. Zur diagnostischen Blindheit gegenüber AIDS verpflichtet zu sein, wäre nicht akzepta- bel.

Anschrift des Verfassers:

Professor Dr. med. Bernhard Fleckenstein Leiter des Instituts für

klinische und molekulare Virologie der Universität Erlangen—Nürnberg Loschgestraße 7 . 8520 Erlangen A-2298 (58) Dt. Ärztebl. 85, Heft 33, 18. August 1988

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