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Archiv "Alltag einer Hausarztpraxis: Arbeiten am Limit" (02.08.2004)

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as Telefon klingelt, kurz darauf läu- tet ein weiteres. Die Liste, auf der nur die für den Vormittag angemel- deten Patienten für Dr. med. Sabine Hartmann* und Klaus Hartmann* ste- hen, ist lang – mehr als 42 Namen stehen darauf. Weitere würden sicherlich noch hinzukommen, versichert Lotta Meier*, eine der Arzthelferinnen. Zig kleine gel- be und weiße Zettelchen liegen hinter dem Anmeldetresen, auf jedem der Zet- tel ist etwas anderes vermerkt: welcher Patient wegen welchen Rezepts angeru- fen hat,wer die Praxisgebühr schuldig ge- blieben ist und dass die Softwarefirma wegen eines Fehlers im System noch an- gerufen werden muss. Vier Arzthelferin- nen laufen geschäftig hinter der Anmel- dung hin und her, zwischendurch kom- men Herr oder Frau Hartmann aus den Behandlungszimmern gehuscht, in die sie nach einem kurzen Blick auf die Akte ihres nächsten Patienten schnell wieder zurückkehren. Es ist Montagmorgen, kurz nach acht Uhr, Alltag in einer kleinen Gemeinschaftspraxis von zwei Hausärzten am Rande des Ruhrgebiets.

Noch vor gut einem halben Jahr, er- zählt Sabine Hartmann, hätte sie „den Kram am liebsten hingeschmissen“. Die Praxisgebühr, geänderte Zuzahlungsre- geln für Arzneimittel,

die Einführung eines neues ICD-Codes, Än- derungen bei den re- zeptfreien Arzneimit- teln mit zahlreichen Aus- nahmeregelungen, Sy- stemumstellungen und zusätzliche Auflagen für die Dokumentation und

Fortbildung schienen die Kräfte zu über- fordern. Am 31. Dezember 2003 setzte sich das zehnköpfige Praxisteam zusam-

men, um einen „Schlachtplan“ für die kommenden Wochen zu entwerfen. „Die Umstellung auf die Neuerungen durch das GMG nahm und nimmt Energie und Zeit in Anspruch, die für die Patienten verloren geht“, meint Klaus Hartmann rückblickend. Mittlerweile sei das Praxis-

team zwar mit den Regelungen zur Kas- sengebühr oder anderen Zuzahlungsfor- men vertraut. Für Verärgerung und Dis- kussionen mit den Patienten sorgten die Umstellungen aber noch immer. In die- sem Moment klin- gelt das Telefon, wü- tend legt Frau Maier einige Minuten spä- ter den Hörer auf.

„Es ist doch immer wieder nervend, wenn die Patienten meinen, per Telefonanruf Überweisun- gen oder Rezepte bestellen zu können, ohne die Praxisgebühr bezahlt zu haben.“

Unter den ersten zehn Patienten, die Klaus Hartmann behandelt, ist ein

„Stammgast“ der Praxis. Ein älterer Herr, der in den letzten Monaten wiederholt die Praxis aufsuchte, um Überweisungen zu verschiedenen Fachärzten abzuholen.

Diesmal kommt der multimorbide Dia- betiker,um mit seinem Arzt über eine Au- genoperation zu sprechen. Der Opera- tionsablauf wird erklärt, die für den Anästhesisten und den Operateur wichti- gen Krankheitsdaten werden zusammen- gestellt, der Verordnungsplan wird aktua- lisiert, das Absetzen der laufenden Mar- cumarisierung erläutert, Labordaten und Vorbefunde herausgesucht und der Arzt- helferin zum Kopieren übergeben – ein Gespräch, das 20 Minuten in Anspruch nimmt. Seit 16 Jahren führt das Ehepaar die Gemeinschaftspraxis, der gemeinsa- me Patientenstamm ist auf 2 000 Perso- nen angewachsen.Seit mehre- ren Jahren nehmen sie keine neuen Patienten mehr auf, weil sie bereits jetzt am Limit arbeiten.

Beim Verlassen des Be- handlungsraums ist eine der Arzthelferinnen gerade da- bei, einem Patienten ein Re- zept auszustellen. Vor ihr lie- gen verschiedene Rezeptvor- drucke, links die roten, rechts die grünen. Sie überlegt nicht lange und greift zu dem Block mit den roten Rezepten. „Die meisten rezeptfreien Präpa- rate, die auf ein grünes Re- zept gehören, haben wir im Kopf“, erzählt sie, die hätte sie im Laufe des Jahres eben- so lernen müssen wie ihre Chefs. Ärger- lich sei allerdings, dass einige der Patien- ten ihren Unmut über die Zuzahlungen und inzwischen selbst zu zahlenden Me- dikamente an den Arzthelferinnen und Ärzten ausließen, obwohl ihnen die Pati- enten oft selbst Leid täten. Für Sabine Hartmann sind viele Änderungen bei der Verordnungsfähigkeit von Arzneimitteln nicht nachzuvollziehen – zum Beispiel die Herausnahme von Heuschnupfen- medikamenten. „Bei Allergikern, die auf die regelmäßige Einnahme von Antihi- staminika angewiesen sind, geht diese Umstellung richtig ins Geld.“ 100 Tablet- ten eines gängigen Antihistaminikums kosteten knapp 30 Euro, zusätzlich bräuchten Allergiker Augen- und Nasen- tropfen, die sie selber zahlen müssen.

P O L I T I K

A

A2152 Deutsches ÄrzteblattJg. 101Heft 31–322. August 2004

Alltag einer Hausarztpraxis

Arbeiten am Limit

Der Aufwand, den die Umsetzung der Gesundheitsreform nach sich zieht, ist hoch. Das Deutsche Ärzteblatt hat zwei Allgemeinmediziner einen Tag lang bei ihrer Arbeit begleitet.

Die Patienten stehen Schlange – ein ganz „normaler“ Mor- gen in der Hausarztpraxis von Sabine und Klaus Hartmann.

* Alle Namen von der Redaktion geändert

„Die Umstellung auf die Neuerungen durch das GMG nahm und nimmt Energie und

Zeit in Anspruch, die für die Patienten verloren geht.“

Dr. med. Klaus Hartmann, Hausarzt

Foto:privat

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„Da kann ein allergisches Ehepaar mit zwei allergischen Kindern neben den sehr unangenehmen Symptomen des Heuschnupfens auch noch finanziell be- troffen sein“, beklagt die Allgemeinme- dizinerin kopfschüttelnd. Manchmal wüssten viele Patienten gar nicht mehr, wofür sie eigentlich versichert sind.

Um 11.30 Uhr wirkt die Praxis noch voller als drei Stunden zuvor, die Tele- fone klingeln ohne Unter-

lass. Zu den Patienten mit festem Termin sind noch weitere hinzugekommen.

Etwas ruhiger ist es nur im Schreibbüro der Pra- xis, wo eine der Arzthelfe- rinnen mit Headset sitzt, Arztbriefe schreibt und diktierte Befunde und Beratungsgespräche in

die Praxis-EDV eingibt. Eine Patientin kommt mit leidvollem Gesicht aus dem Sprechzimmer und setzt sich auf einen Schemel. Arbeitslos sei sie, 61 Jahre alt und wegen ihrer vielen Erkrankungen – zum Beispiel der Schilddrüse und der Magenschleimhaut – auf mehrere Me- dikamente angewiesen. „Eigentlich kann ich mir die Zuzahlungen gar nicht leisten“, sagt die Frau, irgendwie bringe sie die geschätzten 70 Euro im Quartal allein für Arzneimittel aber doch auf.

Sie lebe eben bescheiden, gehe nicht ins Kino oder zum Essen, auch an Kleidung werde gespart. Befreit ist sie von den Zuzahlungen nicht, obwohl die Ärzte sie als Chronikerin bezeichneten. „Ich führe nicht Buch über meine Kosten, weil ich gar nicht wissen will, was ich al- les ausgebe“, so ihre Entschuldigung.

„Das würde mich nur ärgern, wie so vie- les an der Politik auch.“ Auch die näch- ste Patientin ist chronisch krank. Die 82-jährige krebs- und zuckerkranke Frau mit drei Bypässen hat sich zwar als Chronikerin eintragen lassen. Sie müsse sich aber nach wie vor „nach der Decke strecken“. Für eines der größten Ärger- nisse hält sie das Beantragen von Kran- kenfahrten. Aufgrund ihrer vielen Er- krankungen könne sie nirgendwo ohne Taxi hinfahren, was ihr jedes Mal büro- kratische Höchstleistung abverlange.

Um 12.30 Uhr wird der Anrufbeant- worter eingeschaltet, endlich ein wenig Ruhe. Nicht für die beiden Ärzte, denn die Liste der Patienten ist noch lang. Bis

zu zwei Stunden müssen einige Patienten an diesem Montagvormittag auf die Be- handlung warten. Die Warterei wird je- doch belohnt: Unter einem 15-minütigen Gespräch kommt kein Patient aus dem Behandlungszimmer heraus, manche so- gar erst nach 30 Minuten.Während Hart- manns noch bis 14 Uhr längere Arzt-Pati- enten-Gespräche führen, Warzen entfer- nen oder impfen, überprüft eine der Arzt- helferinnen die Praxiskasse.

330 Euro, so zeigt der Com- puter an, müssten in der Kasse liegen, nach wieder- holtem sorgfältigen Zählen kommt die Frau lediglich auf 320 Euro – einer der Patienten war von der Kas- sengebühr befreit. Zweimal täglich beanspruchen das Zählen des Geldes, die Do- kumentation und das Einzahlen der Kassengebühr auf ein eigens dafür ange- legtes Bankkonto 30 Minuten, die trotz anfänglicher Proteste von Allgemeinpra- xen nicht honoriert werden.

Als das Ehepaar um kurz nach 14 Uhr eine kurze Mittagspause einschieben kann, wirken beide erschöpft. „Das war auch für uns heute sehr viel“, sagt Sabine Hartmann auf dem Weg zum Essen.

Wären unsere Kinder noch klein oder die Praxis hätte finanzielle Probleme, wäre das alles nicht zu bewerkstelligen, mei- nen beide. Schwer auszuhalten sei, dass zeitintensive Behandlungen und Bera- tungen medizinisch zwar sinnvoll sind, zur Finanzierung der Praxis jedoch nicht beitragen. Es seien jedoch 20 Prozent der Patienten privat ver-

sichert – ein relativ hoher Prozentsatz.

„Ein Arzt und Vater von drei Kindern könnte heute nicht ohne PKV-Patien- ten leben“, sagt

Klaus Hartmann, Kassenpatienten profi- tierten auf diese Weise von den privat Versicherten, da die Praxisfinanzierung letztlich eine Mischkalkulation sei.Trotz- dem glaubt das Ehepaar, dass eine Bür- gerversicherung sinnvoll sein könnte, auch wenn der Gedanke, sich ohne PKV- Patienten zu finanzieren, „schwer falle“.

Nur eine Stunde später sind die Ärzte wieder in den Praxisräumen, mehrere El- tern mit Kleinkindern warten bereits auf

die Vorsorgeuntersuchung. Es muss wohl die Liebe zum Beruf – verbunden mit der Pflicht zum Geldverdienen – sein, die Hartmanns mit dem gleichen Elan weiterarbeiten lässt. Um 15.30 Uhr, die reguläre Sprechstunde hat noch nicht wieder begonnen, ist jeder Stuhl im War- tezimmer belegt.Auf dem Tresen stapeln sich die Patientenakten, hinter dem Tre- sen hat das Ehepaar seinen Arzthelferin- nen Broschüren zum Nachlesen hinge- legt. Die Heilmittelrichtlinien sind dar- unter, die letzten Pluspunkte der Kas- senärztlichen Vereinigung Westfalen- Lippe, Unterlagen zum GMG und und und. „Es wird immer mehr, was uns zu- geschickt wird, allein von der KV “, be- richtet Lotta Meier. Seit der Gesund- heitsreform wissen Hartmanns um den Nutzen ihrer KV, sie haben sie sogar erstmals als „Freund“ wahrgenommen.

Noch um 18.45 Uhr ist es in der Praxis so voll wie drei Stunden zuvor, unermüd- lich rufen die beiden Ärzte einen Patien- ten nach dem anderen in die Ordination.

Dabei werden sie typisch hausärztlich ge- fordert – als medizinische Biografen des Patienten, als Gesundheitslehrer, als Arzt für seelische und soziale Probleme und immer wieder als Facharzt für Differen- zialdiagnosen. Die Vermittlerfunktion, meint Klaus Hartmann, übten er und seine Frau seit der Einführung der Kas- sengebühr wieder häufiger aus. Eigent- lich sehr positiv, wenn nur mehr Zeit, die angemessen honoriert wird, zur Ver- fügung stünde.

21 Uhr ist es, als Hartmanns zum er- sten Mal nach 13 Stunden Arbeit gemein- sam in der Küche sit- zen. Die Praxis wirkt wie ausgestorben.

„Jetzt beginnt der Zeitpunkt, wo ich mich quälen muss“, sagt er. Zeit für aus- führliche Dokumen- tation oder Nachlesen von Neuerungen blieb bislang nicht. Sabine Hartmann schaut ihren Mann müde an. Warum sie diesen Beruf mit all seinen Strapazen, die in den letzten Jahren hinzugekommen sind, noch immer liebe? Die Antwort er- folgt prompt: „Weil es keinen anderen Beruf gibt, der nach 16 Jahren noch im- mer so abwechslungsreich ist“, sagt sie.

Auch wenn der Preis für diese Abwechs- lung immer höher wird. Martina Merten P O L I T I K

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A2154 Deutsches ÄrzteblattJg. 101Heft 31–322. August 2004

Seit der Gesundheitsreform wissen Hartmanns um den Nutzen ihrer KV, sie haben sie

sogar erstmals als „Freund“

wahrgenommen.

Es muss wohl die Liebe zum Beruf – verbunden mit der Pflicht zum Geldver-

dienen – sein, die Hartmanns mit dem

gleichen Elan wei-

terarbeiten lässt.

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