D
en chronisch entzündlichen Darm- erkrankungen (CED), Arthritis und Diabetes Typ 1 ist gemeinsam, dass sie als eine Art Autoimmuner- krankung verstanden werden, bei der das intestinale Immunsystem eine Rolle spielt. Das Darm-assoziierte Immun- system ist einerseits zuständig für die Erkennung und Elimination von Krankheitserregern via entzündlicher Immunreaktion. Andererseits sorgt es normalerweise für eine balancierte Immunantwort (Toleranz) auf „harm- lose“ Antigene von Lebensmitteln, Darm-assoziierten Mikro-organismen und Selbst- Antigenen. Sowohl bei CED als auch bei Erkran- kungen des rheumatischen Formenkreises ist nach heutigen Vorstellungen die- se „orale Toleranz“ ge- stört im Sinne einer fehl- gesteuerten, ungebremsten und entzündlichen Immun- reaktion, wobei die kör- pereigene homologe Darm- flora vermutlich als „endo- gener Stimulus“ bei gene- tisch prädisponierten Pati- enten wirkt.
Wie Prof. Martin Zeitz (Berlin) auf dem Interni-
stenkongress in Wiesbaden berichtete, werden bei der entgleisten Immunant- wort Entzündungsmediatoren wie Tu- mornekrosefaktor alpha (TNF␣) akti- viert; die stark vermehrten Immunzel- len attackieren die Darmschleimhaut und lassen im Extremfall diese natürli- che Barriere zusammenbrechen. Eine neue Behandlungsstrategie zielt des- halb darauf ab, Entzündungsmediato-
ren zu hemmen, etwa mit Ani-TNF␣. Eine weitere Option scheint sich bei Pa- tienten mit Colitis ulcerosa abzuzeich- nen – eine „shift“ des Immunsystems zur Toleranz ist möglicherweise über Probiotika zu erreichen, wobei bakteri- elle Antigene eine Umschaltung der Immunantwort bewirken sollen.
Weltweit sind inzwischen die ver- schiedensten Untersuchungen zur „ora- len Immunisierung“ des Darms ange- laufen, bei der – vergleichbar der Hypo- sensibilisierung bei Allergien – eine To- leranz auf die (Auto-)Antigene aus-
gelöst werden soll. So wird beispiels- weise versucht, über kleine Insulindo- sen bei Diabetikern die Autoimmunre- aktion abzuschwächen oder zu verhin- dern. Pilotstudien sind auch angelaufen zur rheumatoiden Arthritis und ande- ren Autoimmunerkrankungen mit dem Ziel der Prävention und Prophylaxe.
Allerdings: Bei CED sind die auslö- senden Antigene und die komplexen
Interaktionen zwischen menschlichem Immunsystem und Darmflora bis heute weitgehend ungeklärt. Solange diese grundlegenden Verständnisprobleme nicht gelöst sind, werden bahnbrechen- de Erfolge in naher Zukunft ausbleiben – oder Zufallstreffer sein.
Noch am Anfang stehen Überlegun- gen, wonach das intestinale Immun- system gezielt zur Protektion genutzt werden soll gegen Krankheiten, die im Darm ausgelöst werden. Noch spekula- tiv sind die Vorstellungen, wie und ob sich die intestinale Immunabwehr so
„programmieren“ lässt, dass Infektio- nen mit Helicobacter oder gar HI-Viren wirksam unterbunden werden.
Perspektiven für die Onkologie
Neue Entwicklungen sind auch bei der Gentherapie mit viralen Vektoren zu verzeichnen. Sie umfassen nicht nur die
„klassische“ Transfektion – etwa zur Therapie singulärer Gendefekte durch Einschleusung eines einzelnen Gens.
Untersucht werden vielmehr auch so genannte onkolytische Viren, die bei fortgeschrittenen Karzinomen die Effi- zienz einer Chemotherapie verstärken oder erst ermöglichen können, wie Dr.
Peter Daniel (Berlin) ausführte.
Zur Einschleusung der gewünschten Gene werden als virale Vektoren ver- schiedene Virusarten benützt. Mithilfe retroviraler Vektoren lassen sich nur proliferierende Zellen transfizieren, während die Genexpression mit Lenti- und Adenoviren auch in ruhenden Zel- len induziert werden kann. So ist es im vergangenen Jahr gelungen, bei einem Säugling mit SCID-X1 durch retrovira- P O L I T I K
Deutsches Ärzteblatt½½½½Jg. 98½½½½Heft 24½½½½15. Juni 2001 AA1595
Innere Medizin
Die körpereigene Abwehr verstärkt einbinden
Die Wissenschaftler versuchen, Erkenntnisse in der Immunologie in neue Therapiemöglichkeiten bei chronisch entzündlichen Darmerkrankungen, Arthritis und Diabetes Typ 1 umzusetzen.
Medizinreport
Graphische Darstellung einer aktivierten T-Zelle. Foto: Novartis
len Gentransfer der GammaC-Kette von Zytokinrezeptoren in hämatopoe- tische Stammzellen das Immunsystem ausreifen zu lassen und eine lang anhal- tende Immunantwort auf T-Zell-Anti- gene zu induzieren. Das Problem: Der Promotor zur Expression des einge- schleusten Gens wird beispielsweise bei retroviraler Transfektion nach einiger Zeit „inaktiviert“ und das Genprodukt dann nicht mehr hergestellt.
Diese Hürde des ineffizienten Gen- transfers in Tumorzellen durch retrovi- rale Vektoren ist teilweise zu überwin- den mit replikationsfähigen adenovira- len Vektoren – idealerweise sollten sie tumorselektiv sein.
Adenoviren haben gegenüber retro- viralen Vektoren den Vorteil, das Gen auch in ruhende Zellen einzuschleusen und die Expression zu induzieren. Inzwi- schen wurden auch spezielle, onkolytisch wirksame Adenoviren „konstruiert“ – mit dem Ziel der Karzinomtherapie. Die Viren nutzen die Karzinomzelle als Virusproduzent, wobei viruseigene Ge- ne die Apoptose der Krebszelle fördern und diese letztlich zugrunde gehen lassen.
Bei Verwendung der bisherigen repli- kationsinkompetenten Vektoren ver- läuft die Wirkung nach dem Prinzip „ein Virus tötet eine Zelle ab“. Replikations- kompetente onkolytische Viren umge- hen diese Beschränkung und wirken zu- dem sensibilisierend für Chemo- und Ra- diotherapie. Um deren ausreichende Ef- fizienz zu überprüfen, sind Pilotstudien mit replikationsfähigen Adenovirus- Konstrukten angelaufen.
Bei fortgeschrittenen Kopf-Hals-Tu- moren wurde gezeigt, dass diese repli- kationsfähigen, onkolytischen Adeno- viren (ONYX 015) auch Nachbarzellen
„befallen“ und deren Zelltod über Apoptose anstoßen. Offensichtlich ge- lingt es durch diese Konstrukte auch, Karzinomzellen „sensibel“ für eine her- kömmliche Chemotherapie zu machen.
In acht von 23 austherapierten Fällen, die nicht auf Cisplatin und 5-Fluoruracil ansprachen, konnte mit der Kombinati- on von modifizierten Adenoviren und Chemotherapie eine komplette Remis- sion erreicht werden.
In Berlin haben sich die Wissen- schaftler um Daniel mit Erfolg bemüht, einen „Sicherheitsmechanismus“ gegen eine überschießende Replikation der
Viren „einzubauen“. Das Viruskonstrukt wurde dazu mit einem Schlüsselenzym (HSV-Thymidinkinase) versehen, das Gancyclovir-empfindlich ist. Im Fall ei- ner Entgleisung der Replikation ist durch Gancyclovir der Gesamtprozess einfach „abzuschalten“.
Was derzeit noch nicht überzeugend gelingt, ist eine wirklich zielgerichtete – auf Oberflächenproteine des Tumors ausgerichtete – Erkennung der Tumor- zellen und dadurch ein gezieltes Ein- bringen der Virus-Gen-Konstrukte in Karzinomzellen.
Zelluläre Immuntherapie
Gereift sind inzwischen auch Verfah- ren der Antigen-Identifizierung auf Tu- morzellen, wie Prof. Thomas Wölfel (Mainz) darlegte. Um einen Graft-ver- sus-tumor-Effekt zu erreichen, wird
„adoptiver T-Zell-Transfer“ als eine Strategie verfolgt: Es werden T-Zell- Klone entnommen und gegen das Ziel- Antigen „scharf gemacht“, diese Klone ex vivo angereichert und dann transfun- diert, was eine antigenspezifische anti- tumorale (T-Zell-Antwort) Immunant- wort auslöst. Probleme bereitet noch die Generierung ausreichender Men- gen antigenreaktiver T-Zellen und die Spezifität der Ziel-Antigene.
Parallel hierzu wird die therapeutische Vakzinierung erforscht, bei der definier- te Antigene – an Proteine, Peptide, den- dritische Zellen oder virale Konstrukte gekoppelt – eine antigenspezifische anti- tumorale Wirkung in Krebspatienten auslösen sollen. Die Untersuchungen be- schränken sich überwiegend auf Phase-I- Studien bei Patienten mit fortgeschritte- nen Krebsstadien. Berichtet wird über Expansion der antigenspezifischen T- Zellen und über Rückbildungen von Tu- moren. Ob diese neuen Therapiefor- men mit verlängerten Überlebensraten einhergehen, steht bisher ebenso aus wie wissenschaftlich harte Daten zur Effizienz. Perspektiven für die Anwen- dung der zellulären Immuntherapie sieht Wölfel in erster Linie bei Patien- ten mit geringer Tumorlast – etwa nach operativer oder Chemotherapie bei gutem Ansprechen.
In der Hemmung der Tumorangioge- nese sehen Wissenschaftler einen viel-
versprechenden Ansatz in der Kar- zinomtherapie. Denn Entwicklung und Metastasierung solider Tumoren sind unter anderem abhängig von der Aus- bildung neuer Blutgefäße. Zumindest in vitro und in ersten Tiermodellen ge- lingt es, durch die Blockade angiogener Faktoren, ihrer Rezeptoren oder dem ersten Schritt in der nachfolgenden Sig- nalkaskade, die Gefäßneubildung und damit das Tumorwachstum zu hemmen.
Inzwischen sind mehrere Faktoren identifiziert worden, die in die Tumor- angiogenese involviert sind, erläuterte Prof. Dieter von Marmé (Freiburg). Der vaskuläre endotheliale Wachstumsfak- tor VEGF (mit Rezeptor FLT-1), Angio- poietin 1 und 2 (sowie der Rezeptor TIE-2). Während Angiopoietin 1 die Gefäße stabilisiert, bewirkt der Gegen- spieler Angiopoietin 2 eine Destabili- sierung und kann einen Gefäßabbau einleiten. Im Verein mit VEGF kommt es zu einer massiven Tumorangioge- nese.
Experimentell ist dies zu verhindern, indem man die Wachstumsfaktoren über lösliche Rezeptorvarianten „ab- fängt“, die eine Bindung an den eigent- lichen Rezeptor – und damit die an- schließende Signalkaskade – verhin- dern. Die funktionelle Hemmung des VEGF-Rezeptor-Systems kann erreicht werden über monoklonale Antikörper gegen den Wachstumsfaktor selbst oder durch Inhibition der rezeptorspezifi- schen Kinase, die den ersten Schritt in der Signalkette katalysiert. Verschie- dene Unternehmen haben hierzu Sub- stanzen in der Entwicklung.
Ein weiteres Glied in der Tumoran- giogenese ist das Ephrin-Rezeptor- System, das neue Kapillaren ausspros- sen lässt. Im Zellsystem bewirken lösli- che Konstrukte, die den Wachstumsfak- tor oder seinen Rezeptor „abbinden“, eine Hemmung des Tumorwachstums.
Damit ist sicher mehr als ein System in die Neovaskularisation von Tumo- ren involviert; therapeutisch wirksame Substanzen müssten möglichst viele dieser Systeme hemmen. Da Protein- kinasen in allen drei Signalkaskaden ei- ne Schlüsselposition einnehmen, hofft Marmé auf einen „multi targeted Pro- teinkinase Inhibitor“ – der die übrigen physiologischen Proteinkinasen nicht lahm legen sollte. Dr. Renate Leinmüller P O L I T I K
A
A1596 Deutsches Ärzteblatt½½½½Jg. 98½½½½Heft 24½½½½15. Juni 2001